Kann der letzte Wildfluss Europas überleben?
Wasserkraft boomt, in Albanien, Mazedonien, Bosnien. Fehlende Umweltstandards und korrupte Regierungen haben hunderte Investoren und Spekulanten angelockt. Auch die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau finanziert den Bau mehrerer Kraftwerke. Ein deutscher Umweltschützer versucht, den vielleicht letzten Wildfluss Europas zu retten.
Ullrich Eichelmann hat viele Flüsse in seinem Leben gesehen. Den Rio Xingu in Brasilien, ein Nebenfluss des Amazonas. Den Tigris im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Irak. Die Hainburger Au östlich von Wien. „Keiner hat mich so fasziniert wie dieser hier“, sagt er und blickt auf das Wasser, das sich gemächlich seinen Weg durch Sand- und Schotterbänke bahnt: die Vjosa.
Eichelmann, 54 Jahre, Jeanshemd, weißes Haar, braun gebranntes Gesicht, ist Naturschützer. In der Hand hält er ein Megafon. Um ihn herum erstreckt sich die unberührte Landschaft Südalbaniens. Hier werden noch Esel vor die Pflüge gespannt. In den Bergdörfern kommt es vor, dass der Strom mehrere Tage ausfällt. An einem sonnigen Tag im Mai hallt Eichelmanns bleierne Megafon-Stimme durch eines der Täler nahe der Stadt Tepelena. Der Bürgermeister aus dem nächsten Dorf Qeserat ist gekommen und hebt seine Fäuste zum Schlachtruf: „Jo Diga!“, Albanisch für „Kein Damm!“. Einige lokale und internationale Unterstützer, darunter Biologen, Sportler und Bauern stimmen mit ein.
Es geht um die Vjosa, ein „Modellfall“ und „Juwel“, wie Naturschützer schwärmen. Von ihrer Quelle in Griechenland bis zur Mündung in die Adria fließt die Vjosa frei und wild. Sie zischt durch hohe Schluchten, dichte Auwälder und bildet weitläufige Mäander. Kein Betonbett, kein Staudamm zähmt ihre 270 Kilometer lange Flusslandschaft. In Europa gibt es nirgendwo einen derart hohen Anteil von unberührten Fließgewässern wie auf dem Balkan. 80 Prozent der Flüsse sind in gutem oder sehr gutem ökologischen Zustand. Die Vjosa gilt als der letzte Wildfluss Europas.
„Schaut euch diesen Adler an“, ruft Eichelmann begeistert und sticht sein Paddel ins Wasser. Er lässt sein Kajak flussabwärts treiben, dorthin, wo bald alles zerstört werden könnte. Entlang der Vjosa will das albanische Energieministerium acht Staudämme errichten lassen. Dazu kommen zahlreiche kleine Kraftwerke an den Zuflüssen. Im Nationalpark Hotovës-Dangelli weiter nördlich stehen bereits drei dieser Kraftwerke, die Eichelmann und seine Nichtregierungsorganisation „RiverWatch“ in Zukunft verhindern möchten. Die Thermalquellen, eine beliebte Attraktion für Touristen, sind durch die Konstruktionen sogar vorübergehend ausgetrocknet. Immer mehr Investoren wollen hier eine Baukonzession ergattern.
Nicht nur Albanien, sondern der gesamte Balkan wird zur Spielwiese für Investoren, die schnell und unkompliziert ins florierende Geschäft mit Wasserkraft einsteigen wollen. 2.700 Kraftwerke sind in der gesamten Region laut Eichelmanns NGO RiverWatch in Planung. Mehr als ein Viertel steht bereits. Rund 1.000 verschiedene Firmen und Geldgeber sind laut Bank Watch an den Kraftwerken beteiligt. Umweltverträglichkeitsprüfungen nach EU-Standards müssen in Ländern wie Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Albanien oder Bosnien-Herzegowina selten vorgelegt werden. „Und wenn“, kritisiert Eichelmann, „sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben wurden“. Strom aus Wasserkraft hat ein gutes Image und im Vergleich zu Solarenergie eine starke Lobby. Wer in Zeiten des Klimawandels in Wasserkraft investiert, hat auf den ersten Blick eine reine, grüne Öko-Weste. Negative Folgen auf die Umwelt werden selten thematisiert. Politik und Wirtschaft fördern den Sektor anstatt fragwürdige Projekte zu kritisieren, geschweige denn zu sanktionieren.
Eichelmann hofft jetzt auf Ulrike Lunacek, Vizepräsidentin des EU-Parlaments und Delegationsleiterin der österreichischen Grünen. In einer Stellungnahme des EU-Parlaments zum Erweiterungsbericht der Kommission zu Albanien machte Lunacek die Vjosa erstmals zum Thema in Brüssel. In Artikel 23 wird die albanische Regierung dazu aufgefordert „die Unversehrtheit von bestehenden Nationalparks aufrechtzuerhalten (…) und die Qualität von Umweltverträglichkeitsprüfungen zu verbessern.“
Doch die Rolle der EU ist nicht die des weißen Ritters. Im Gegenteil. Finanziert wird der Boom nämlich auch durch staatliche Banken und private Investoren aus den Mitgliedsländern. Zu den wichtigsten Akteuren gehören die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und die Europäische Investment Bank (EIB). Auch die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (Kfw) mit Sitz in Frankfurt hat laut Bank Watch die Finanzierung für vier Kraftwerke in Naturschutzgebieten in Mazedonien übernommen. Zwei weitere Kraftwerke entstehen in Bosnien. Laut der NGO EuroNatur liegen Pläne für die Prüfung eines weiteren Standortes auf dem Tisch. Damit ist der Geschäftsbereich KfW Entwicklungsbank und ihr Tochterunternehmen DEG in insgesamt sieben Kraftwerke in Südosteuropa involviert.
„Wir fördern nachhaltige Projekte im In- und Ausland“ ist auf der Homepage der Kfw-Bankengruppe zu lesen. Wie passt das mit Kraftwerken in Naturschutzgebieten zusammen?
„Eine Bedrohung der Naturlandschaften geht durch die von der KfW finanzierten bzw. geplanten Finanzierungen für Wasserkraftwerke nicht aus“, schreibt deren Pressestelle auf Anfrage von correctiv.org. Wo gebaut wird, liege eine „umfassende Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudie“ vor. Zum Beispiel für das 14 Megawatt starke Laufwasserkraftwerk Janjici in Bosnien-Herzegowina. Dort wurden laut KfW eine Vielzahl an Kompensationsmaßnahmen getroffen
Noch ist Janjici Zukunftsmusik. Das Kraftwerk soll an einem Zufluss der Bosna, dem drittgrößten Fluss Bosniens, entstehen. Viele Zuflüsse der Bosna, so auch die Lašva, wo die KfW bauen will, sind Huchen-Habitat. 2015 war der Huchen, auch Donaulachs oder Rotfisch genannt, „Fisch des Jahres“ in Deutschland. Der Balkan ist ein globaler Hot-Spot für diesen vom Aussterben bedrohten Speisefisch. Zwei Drittel aller Flüsse, in denen der Donaulachs beheimatet ist, rauschen durch die Länder Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Serbien. Fast 100 Kraftwerke sind entlang solcher Huchen-Flüsse geplant. In einer Studie aus dem vergangenen Jahr prognostizieren die NGOs RiverWatch und EuroNatur, dass durch diese Konstruktionen die Huchen-Population am Balkan um bis zu 70 Prozent und die globalen Bestände um bis zu 40 Prozent zurückgehen könnten. Wie ist es also möglich, dass die KfW in einem derart sensiblen Gebiet eine Lizenz bekommt?
Es lohnt sich, einen näheren Blick auf die Umweltverträglichkeitsprüfungen zu werfen. Im Falle des Kraftwerks „Janjici“ hat das größte Energieunternehmen in Bosnien die Studie durchgeführt: JP Elektroprivreda BiH. Die Naturschützer von EuroNatur bezweifeln, dass dieses Unternehmen neutral an den Auftrag herangegangen ist. Als größter Energieversorger des Landes hat die „JP“ ein Interesse an neuen Projekten. Dementsprechen ist das Ergebnis: unbedenklich soll der Bau des Kraftwerkes angeblich sein. Finanziert hat diese Studie die deutsche KfW Bankengruppe.
In Mazedonien baut die KfW Tochtergesellschaft DEG in Naturschutzgebieten. Hier handelt es sich laut Pressestelle um „sehr kleine Laufwasserkraftwerke, jeweils ohne größeren Stausee mit einer Leistung von 0.6 bis 1.4 Megawatt“. Wenn in Naturschutzgebieten gebaut wird, so die KfW, dann liege selbstverständlich ein Einvernehmen mit den Genehmigungsbehörden sowie der Nationalparkverwaltung vor.
Doch auch kleine Kraftwerke sind alles andere als sauber. Das beginnt schon bei der Infrastruktur, etwa Straßen- oder Tunnelbau, die nicht nur Auswirkungen auf den Fluss, sondern auch auf die Region haben. „Kleine Kraftwerke an kleinen Flüssen haben ähnliche bis gleich negative Folgen wie große Kraftwerke an großen Flüssen“, kritisiert Theresa Schiller von der NGO EuroNatur. Energetisch gesehen bringen diese vielen kleinen Kraftwerke zudem sehr wenig. Von den 23.000 in der EU gemeldeten Wasserkraftwerken sind 21.000 kleiner als zehn Megawatt. Alle kleinen Kraftwerke zusammen produzieren nur neun Prozent des gesamten Stroms aus Wasserkraft.
„Da geht es nicht um Strom sondern um Investition“, sagt der Naturschützer Ulrich Eichelmann. Er sagt, dass die Wasserkraftlobby nach der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 eine Goldgräberstimmung erlebt hat. „Die Immobilien waren nichts mehr wert, also griffen die Unternehmen nach den Flüssen.“ Aber warum gerade am Balkan?
In den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, die wirtschaftlich stark vom Ausland abhängig sind, ist Korruption weit verbreitet. Die Zivilbevölkerung, geprägt von einem autoritären System, entdeckt die Protestkultur nur zaghaft für sich. In armen Ländern wie Albanien, wo die Arbeitslosenquote derzeit knapp 17 Prozent beträgt, ist Naturschutz zweitrangig. Dazu kommt, dass das Land mit seinen drei Millionen Einwohnern unter Energiemangel leidet. Laut der US-amerikanischen Entwicklungsbehörde „USAID“ geht die Hälfte des Stroms durch die marode Infrastruktur verloren. Bis vor wenigen Jahren war privater Strom-Diebstahl, eine Nachwehe des kommunistischen Alltags, weit verbreitet.
Energie aus dem Ausland zu importieren ist teuer. Also wirbt die Regierung um Investoren, in der Hoffnung, dass die Bauten nach einigen Jahrzehnten Geld in die Staatskasse spülen wird. Der Mann, der angekündigt hat, den Staudammwahn zu beenden, ist Edi Rama, seit September 2013 Ministerpräsident. Als Bürgermeister von Tirana ließ er die Stadt begrünen, ganze Stadtviertel reinigen und die Fassaden der Häuser in bunten Farben anstreichen. Für seine Reformen im Stadtbild haben ihn die Vereinten Nationen ausgezeichnet. Wer durch die Innenstadt von Tirana spaziert, sieht an jeder zweiten Ecke, was Rama bewirkt hat. Nur in den Seitengassen bilden die Telefon, Strom- und Internetkabel noch ein dichtes, verheddertes Netz über den Köpfen. Besonders in den kleinen Dörfern im Land fehlt es noch an neuer Infrastruktur.
Die geplanten Staudämme an der Vjosa dürften Ramas bisher gutes Image ankratzen. Im Wahlkampf hatte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei noch angekündigt, den ersten Wildflusspark Europas errichten zu wollen. Davon ist keine Rede mehr. Rama sagt heute lediglich, dass die Vorgängerregierung für die massenhafte Vergabe von Lizenzen verantwortlich sei.
Damals, im Sommer 2015 hat auch Ullrich Eichelmann mit dem albanischen Energieministerium verhandelt. Heute ist er sich sicher, dass Rama ein Doppelspiel treibt. Denn in den vergangenen eineinhalb Jahren vergab die Regierung 120 neue Konzessionen für Wasserkraftwerke. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, sagt Eichelmann, „und wir müssen ihn gewinnen.“
Die Vjosa ist bis auf einige wenige Nebenflüsse von Bauprojekten verschont geblieben. Noch. Verglichen mit den von der KfW finanzierten, kleinen Dämmen in Mazedonien, sind die Kraftwerke, die hier entstehen sollen, gewaltig. Nicht nur Tiere und Pflanzen wären von den Folgen betroffen, sondern auch Bauern, die am fruchtbaren Ufer Gemüse und Getreide anbauen. Eichelmann prognostiziert, dass die Felder nahe des Dorfes Qeserat 55 Meter unter Wasser stehen werden, wenn wenige Kilometer flussabwärts einer der acht geplanten Dämme fertiggestellt wird. Kalivaç nennt sich dieser Ort, eine Talsperre, in dessen Fels bereits Stufen für die Staumauer geschlagen wurden. 350 Meter breit, fast 50 Meter hoch. Doch die Bagger und Baumaschinen am Ufer sehen aus, als hätte man sie jahrelang nicht angerührt. Das Bauvorhaben ist im wahrsten Sinne des Wortes versandet.
Die Geschichte hinter der seit 2012 still stehenden Baustelle erinnert an einen Mafia-Krimi. Der Investor, ein italienischer Unternehmer und Fußballmanager namens Francesco Becchetti tauchte ab, nachdem der Strompreis für eine Kilowattstunde unerwartet zurückging. Die albanische Regierung blieb auf seiner aufgelassenen Baustelle sitzen. Becchetti habe Millionen für etwas kassiert, das er bis heute nicht gebaut hat – so der Vorwurf der albanischen Staatsanwaltschaft. Ihm wurden Betrugsdelikte und Geldwäsche angelastet. In einem Statement auf der Seite seines englischen Fußballclubs „Leyton Orient“ bezeichnet er die Ermittlungen gegen ihn als „politisch motiviert“.
Der „Fall Becchetti“ verschafft den Naturschützern ein wenig Zeit. Doch einige Kilometer weiter wartet schon die nächste Bedrohung. Nahe der Ortschaft Poçem, hat kürzlich das türkische Unternehmen „Ayen Enerji“ eine Lizenz ergattert. Auch hier würden umliegende Ländereien durch eine 25 Meter hohe Staumauer überflutet werden. Für die Bauern ist das ein Verlust ihrer Existenz, der auch durch eine finanzielle Entschädigung nicht kompensiert werden kann. Und für die Umwelt?
Friedrich Schiemer, Ökologe an der Universität Wien, ist vor vielen Jahren im Flugzeug über die Vjosa geflogen. Seitdem ist er fasziniert von ihrer Schönheit. Bis heute gibt es kaum Studien über diesen Fluss, was ihn zu einem Paradies für Forscher und Biologen macht. „Man kann nicht einfach ohne Vorkenntnis mit dem Bau beginnen“, kritisiert er. Würden die Kraftwerke gebaut werden, prognostiziert Schiemer eine Verschlechterung der Trinkwasserqualität. Toxische Blaualgen, die sich in Stauseen bilden, hätten dramatische Auswirkung auf die Artenvielfalt. Das Flusstal beheimatet neben Fischen, Insekten, Köcherfliegen, Schnecken und Muscheln, auch Rosaflamingos, Silberreiher, Fledermäuse und den vom Aussterben bedrohten Europäischen Aal. Viele Arten würden die Strömung, die durch Kraftwerke entsteht, nicht überleben. Professor Schiemer möchte noch in diesem Sommer nach Albanien reisen, um erstes Datenmaterial über die Vjosa zu sammeln.
Ullrich Eichelmann ist in die Hauptstadt Tirana gefahren, um zu protestieren. Doch vor dem Regierungsgebäude ist kaum noch Platz. Lokale Arbeiter einer Firma heben wütend ihre Fäuste, nachdem sie Monate lang keinen Lohn bekommen haben. Die Umweltschützer und die Arbeiter solidarisieren sich. Eigentlich sei man ja wegen der gleichen Sache hier: die hohe Korruptionsrate albanischer Politiker. Unter die Banner und Megafone der Arbeiter mischen sich die Naturschützer, die ihre Paddel in die Luft strecken, als wären sie Lanzen.
Worum geht es bei den vielen Kraftwerken am Balkan wirklich? Um Strom oder um Geldmacherei? Die albanische Wasserkraft-Expertin Rudina Toto von der Polis-Universität in Tirana zweifelt, dass die Endverbraucher, geschweige denn die Landbevölkerung von den Projekten profitieren werden: „Wasserkraft ist nicht so öko, wie wir denken. Ihre Auswirkungen auf die Natur sind enorm.“ Die Naturschützer drängen daher auf ein ausbalanciertes Energiesystem. Dazu gehört auch, dass Kraftwerke, die zu sozialistischen Zeiten gebaut wurden, genutzt und modernisiert werden. Albanien, das derzeit 98 Prozent des Stroms aus Wasserkraft bezieht, müsste mehr auf Solarenergie setzen. Darüber hinaus müsse es Schutzzonen geben, in denen gar nicht gebaut werden darf.
Für Naturschützer Eichelmann steht die Moral Europas auf dem Spiel. Länder wie Albanien, Kosovo oder Mazedonien sind EU-Beitrittskandidaten. „Wir sehen dabei zu, wie die Industrie am Balkan noch schnell etwas zerstört, wie es in der EU längst verboten wäre.“
Wer noch mehr sehen will: Das ZDF zeigt am Sonntag, 25. September, um 16.30 Uhr eine Dokumentation über die Flüsse auf dem Balkan: „Wahnsinn Wasserkraft“
Die Autorin ist freie Journalistin. Ein Teil der Reisekosten von Journalistin und Fotograf sind von der Fraktion der Grünen im Europaparlament übernommen worden (insgesamt 1240 Euro). Die Autorin auf Twitter: @franziska_tsch