„Mir ist immer kalt“

47 Millionen Menschen in Europa können sich im Winter keine warme Wohnung leisten, ergibt eine Analyse von CORRECTIV.Europe. Auch in Deutschland sind Millionen betroffen. Ein Risiko für den sozialen Frieden, warnen Experten.

Ihr Sohn habe Glück, sagt Andrea*, denn er gehe zur Schule, da sei die Heizung an. Doch die 48-Jährige ist Frührentnerin: „Ich bin immer zu Hause. Mir ist einfach immer kalt.“

In Deutschland fehlt 5,2 Millionen Menschen das Geld zum Heizen – viele Menschen frieren. Das ergibt eine Analyse von CORRECTIV.Europe auf Basis von Daten des Statistikamts der Europäischen Union (Eurostat) aus dem Jahr 2024.

Ein kaltes Zuhause ist ein Gesundheitsrisiko, sagt Boris Kingma, Thermophysiologe der niederländischen Organisation für angewandte wissenschaftliche Forschung: „Man kann sich zwar mit Kleidung vor Kälte schützen, doch wenn der Wohnraum nicht geheizt wird, kann sich der Körper nicht mehr von der Belastung durch die dauerhafte Kälte erholen.“ Menschen in kalten Wohnungen haben ein erhöhtes Risiko für psychische und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkte, außerdem für chronische Atemwegsinfektionen. Alle können nicht nur zum geringeren Wohlbefinden und Arbeitsunfähigkeit, sondern auch zum vorzeitigen Tod führen. 

„Nicht heizen zu können, sollte ernst genommen werden“, sagt Kingma. „Nicht nur im Bezug auf die Gesundheit von Millionen von Menschen, ab einem bestimmten Punkt ebenso wegen der Wirtschaft eines Landes – oder eben ganz Europa.“

In fast allen EU-Staaten, auch in Deutschland, ist die Zahl der Betroffenen im Vergleich zu 2021 gestiegen. Die aktuellen Daten für den europäischen Vergleich stammen aus dem Jahr 2023. 

6,2 Prozent der Deutschen Bevölkerung können nicht richtig heizen

Für Deutschland gibt es bereits Zahlen für 2024, da waren 6,2 Prozent der Bevölkerung betroffen, hier zeigt sich ein Rückgang im Vergleich zu 2023. Jedoch sind es noch immer deutlich mehr als vor der Energiekrise (2021 waren es 3,3 Prozent). Bremen hat mit 12,2 Prozent den größten Anteil der ungeheizten Haushalte, danach folgen das Saarland (11,1 Prozent), der Regierungsbezirk Arnsberg in Nordrhein-Westfalen (9,6 Prozent) und das südliche Rheinland-Pfalz (9,5 Prozent); den geringsten Anteil hat die Oberpfalz, hier sind es 1,4 Prozent.

Bei der EU-weiten Befragung von Eurostat gaben die Menschen an, ob sie finanziell in der Lage sind, ihren Wohnraum angemessen zu heizen. Eine feste Temperatur ist nicht vorgegeben, es ist eine Selbsteinschätzung. Unter den Betroffenen sind sowohl Menschen, die beim Heizen sparen, als auch solche, die überhaupt nicht heizen können. Der Deutsche Mieterbund und auch das Umweltbundesamt empfehlen in Wohnräumen eine Mindesttemperatur von 20 Grad Celsius

 

Methodik

Grundlage unserer Analyse sind Daten einer EU-weiten Befragung zu Einkommen und Lebensbedingungen („EU Survey on Income and Living Conditions“, EU-SILC). Hier finden Sie die Rohdaten.

Bei der Befragung gaben die Menschen unter anderem jährlich an, ob sie finanziell in der Lage sind, ihren Wohnraum angemessen zu heizen. Eine feste Temperatur ist nicht vorgegeben, es ist eine Selbsteinschätzung.

Wir haben aus dem Prozentsatz der Betroffenen an der Bevölkerung und den Einwohnerzahlen die absolute Zahl der Betroffenen in allen statistischen Regionen (NUTS 2) in der EU, Norwegen und der Schweiz berechnet.

Für Deutschland und einige andere Staaten sind seit dem 31. Januar 2025 bereits Daten für das Jahr 2024 verfügbar. Für die meisten Staaten stammen die aktuellen Zahlen aus dem Jahr 2023, weshalb wir diese für einen europaweiten Vergleich herangezogen haben.

 

Die Auswertung von CORRECTIV.Europe macht die hohe absolute Zahl der Betroffenen sichtbar – und wie wichtig Gegenmaßnahmen wären. Wir haben in den vergangenen Wochen mit einigen der Millionen Betroffenen gesprochen. Ihre Berichte sind alarmierend: Viele frieren aus Angst vor der nächsten Heizkostenabrechnung. Mehrere Menschen berichten von Temperaturen von 10 bis 15 Grad in ihren Wohnräumen. Und, dass sie gezwungenermaßen am Essen sparen, um zumindest etwas heizen zu können. Die Folgen sind nicht nur körperlich und psychisch für sie spürbar, sie berichten auch von Vereinsamung. Eine der Betroffenen haben wir besucht. 

Ein kalter Januartag in einem Fachwerkdorf in der Nähe von Kassel: Andrea sitzt in Thermoleggings und Wollpullover in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa, die Füße mit den doppelten Wollsocken hat sie unter sich gezogen. Mit einem liebevollen „Komm mal her, mein kleiner Schlumpf“, hat sie eben ihren elfjährigen Sohn Ben* begrüßt. Als er in sein Handyspiel vertieft ist, beginnt sie zu erzählen: „Morgens ist es am schlimmsten.“ Da lüfte sie das einzige Mal am Tag, damit sich kein Schimmel bilde und ziehe sich dann so schnell wie möglich an. Duschen sei ohnehin nur ein oder zwei mal die Woche drin, aber dann warm, ein Luxus.

Andrea ist chronisch krank und deshalb in Rente. Ein Schreiben vom Sozialamt bestätigt das. Sie leidet an Akne inversa. Unter ihrer Haut bilden sich immer wieder schmerzhafte Entzündungen, die operiert werden müssen. Das Schreiben zählt außerdem auf: Depression, Schilddrüsenfunktionsstörung und ein Wirbelsäulenleiden. Letzte Woche habe es starken Nachtfrost gegeben und morgens, sagt Andrea, habe sie Eisblumen am einglasigen Küchenfenster gefunden. Von der Kälte täten ihr häufig die Knochen weh. Weil Ben im letzten Winter so oft erkältet gewesen sei, heize sie diesen Winter zumindest etwas. Doch die Sorge vor der Nachzahlung sitze ihr im Nacken. 

„Ich habe kein Geld, keinen Puffer, nur Existenzängste.“

Andrea* ist alleinerziehend. Für sich und ihren Sohn Ben* sucht sie außerhalb des Sozialsystems eine dauerhafte Lösung.

Etwa 47 Millionen Menschen konnten im letzten Winter in der EU, der Schweiz und Norwegen nicht angemessen heizen, das entspricht 10,2 Prozent der Bevölkerung. Diese Zahl ist seit 2021 drastisch gestiegen, damals waren es noch knapp 31 Millionen. Nicht in der kalten, sondern in der wärmeren Zone Europas sind die Werte besonders hoch: in Regionen in Spanien, Griechenland, Portugal, Bulgarien und Italien. Außerdem fällt Litauen auf. 

Wie kann es sein, dass in Europa so viele Menschen nicht ausreichend heizen können, je nach Region sogar bis zu 30 Prozent der Bevölkerung?

Drei Faktoren begünstigen laut Fachleuten die so genannte Energiearmut: Unsanierte Gebäude, hohe Energiekosten und geringes Einkommen. Alle drei sorgen in Europa für Probleme.

Energiepreise seit 2020 fast verdoppelt

Die europäischen Energiepreise haben sich zwar stabilisiert, sind aber weiterhin hoch: Erdgas kostete 2024 für Privathaushalte fast das doppelte wie 2020. Ab da sorgte zunächst ein höherer Energiebedarf durch das Ende der Pandemie für einen Preisanstieg, und dann Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 für eine Energiekrise. Und auch Lebensmittel und Wohnen sind teurer geworden. Laut einem Arbeitsmarktbericht der Europäischen Kommission von 2024 sind die Reallöhne in der EU im Vergleich zu 2019 sogar um 1,1 Prozent gesunken. 

„Viele Menschen in Europa müssen sich inzwischen entscheiden, ob sie essen oder heizen“, sagt Global Public Health Dozentin Aravinda Guntupalli, die an der University of Aberdeen zu Energiearmut forscht. 

“Es ist jeden Tag in meinem Bewusstsein: Ich lebe nicht wie die anderen. Ich bin nicht neidisch, ich würde mir nur wünschen, dass ich wieder heizen kann. Für mich ist eine warme Wohnung eigentlich ein Grundrecht.“

Die alleinstehende 61-Jährige ist chronisch krank und in Frührente. Statt der Heizung wärmen ihre Hunde sie.

„Das Problem ist: Je mehr ich fürs Heizen bezahle, desto weniger kann ich für uns ausgeben“, sagt Andrea. „Die Lebensmittel sind einfach sehr teuer geworden.“ Die Preise hat sie im Kopf: Haferflocken von der Eigenmarke kosten 69 Cent, 20 Cent teurer als vorher. Paprika im Dreierpack liegen bei 2,49 Euro. Sie kaufe gerne, was herabgesetzt ist. Und immer nur so viel, dass sie auf keinen Fall etwas wegschmeiße. 

Als Ben kurz das Zimmer verlässt, sagt Andrea, dass sie sich einsam fühle. „Wir leben sehr zurückgezogen.“ Früher sei sie gerne mit Freundinnen einen Kaffee trinken gegangen, das gehe nicht mehr. Ben gehe gerne ins Kino aber das sei nur zwei, drei Mal im Jahr drin, ohne Popcorn. Im Fußballverein sei er auch nicht mehr, Fahrten, Schuhe und Trikots seien zu teuer. Da wo es geht, werde gespart.

 

Lebenshaltungskosten eine der größten Sorgen EU-weit

Die gestiegenen Lebenshaltungskosten zählen in Europa zu der größten Sorge der EU-Wählerinnen und -Wähler. „Die Leute sind frustriert. Das kann zu politischer Unzufriedenheit führen, Misstrauen in Parteien und letztendlich zu Instabilität“, sagt Guntupalli. In vielen Staaten hat die Krise der Lebenshaltungskosten bereits Proteste ausgelöst.

Die Recherche von CORRECTIV.Europe zeigt auch: Die Frage, wie man Menschen vor dem Frieren bewahrt, wird immer dringlicher. Doch über den richtigen Weg ist ein politischer Streit entbrannt, Europa steht vor der Frage, wie sozialer Friede bewahrt werden kann.

Es ist nicht so, als seien die Regierungen untätig gewesen. In Deutschland hat das Gegensteuern angesichts hoher Preise und nach der Pandemie laut Bundeswirtschaftsministerium bereits Milliarden gekostet: Zum sogenannten Doppelwumms, den Bundeskanzler Olaf Scholz Ende 2022 verkündete, gehörten unter anderem die Energiepreisbremse, Heizkostenzuschüsse und die reduzierte Mehrwertsteuer auf Gas und Wärme. „Das waren massive Summen, um die Belastung kurzfristig abzufedern“, sagt Florian Munder vom Verbraucherzentrale Bundesverband. Ende 2023 liefen die meisten Maßnahmen aus. 

Zwar geht der Wirtschafts-Sachverständigenrat in einer Schätzung davon aus, dass etwa die Energiepreisbremsen die Inflation leicht gedämpft haben, doch wer heute seine Heizkosten nicht stemmen kann, steht vor einem Problem: Aktuell gibt es viel weniger Unterstützung als 2022, die Preise sind aber immer noch hoch. 

Betroffen sind besonders häufig Alleinerziehende

Die Not spüren auch die Hilfsorganisationen. „Derzeit fehlt der langfristige Plan für unsere Arbeit und unsere Klienten“, sagt Maike Staufenbiel, die als Sozialarbeiterin des Katholischen Sozialdienstes in Hamm Menschen mit Schulden berät. Ihr bereiten die zeitlich und durch Budget begrenzten Hilfen Kopfzerbrechen: „Zur Realität gehört, dass wir auf finanzielle Sonderleistungen zur Unterstützung angewiesen sind. Aber eben auch, dass sie am Ende nur Löcher stopften, hinter denen andere schwerwiegende Probleme stecken.“

Ihrer Erfahrung nach sind besonders häufig Personen, die im Niedriglohnsektor oder in Teilzeitanstellungen tätig sind, chronisch Kranke oder Alleinerziehende betroffen. Katharina Drescher hat an der Uni Passau zu Risikogruppen von Energiearmut geforscht: Es sind auch hier Alleinerziehende wie Andrea, sowie Ältere und Alleinlebende, außerdem Menschen ohne Hochschulabschluss.

„Wie kann es sein, dass Nebenkosten so hoch sind, dass frische Luft im Winter ein Luxus ist?“

Studentin (20) hat aus Angst vor den Kosten noch nie ihre Heizung angestellt. Sie schläft schlecht, hat oft Kopfschmerzen, ist ständig erkältet, findet es schwer, in der Kälte zu lernen. Häufig sagt sie Verabredungen ab, weil sie weder Kraft noch Geld hat.  

Schon in diesem Jahr wird in Deutschland Gas – mit dem die meisten Menschen heizen – durch steigende Netzentgelte teurer. Und sowohl für Gas als auch für Heizöl werden höhere Abgaben fällig, 55 Euro pro Tonne CO2 statt 45 Euro wie bisher. Auch in den kommenden Jahren dürften die Heizkosten für Personen, die nicht auf erneuerbare Energien zurückgreifen können, weiter ansteigen. 

EU-weit wird Heizen und Tanken teurer

Im Rahmen des Green Deals wird ab 2027 EU-weit ein CO2-Preis fürs Heizen und Tanken fällig. In Gebäuden genutzte Energie verursacht 36 Prozent aller Emissionen in der EU. Das EU Emissions Trading System (ETS2) soll den deutschen Brennstoffemissionshandel ablösen und in anderen Mitgliedsstaaten, die bisher noch keine CO2-Abgabe für Wärme und Verkehr erhoben haben, diese einführen. Eine Analyse des Umweltbundesamts mehrerer Studien kommt zu dem Schluss, dass CO2-Preise von hundert bis mehreren hundert Euro bis 2030 möglich sind. 

Anders als der Preisschock durch den russischen Angriffskrieg ist diese Preissteigerung absehbar. Die Mitgliedstaaten müssten inzwischen daran arbeiten, das ETS2 in nationales Recht zu überführen – ebenso an ihrem Klimasozialplan, mit dem sie ab 2026 EU-Gelder aus den CO2-Einnahmen abrufen und an ihre Einwohner weiterverteilen können. So soll verhindert werden, dass die hohen Energiepreise die ärmeren Teile der Bevölkerung hart treffen.

Doch die EU-Kommission hat bereits im Sommer 2024 die erste Stufe eines Vertragsverletzungsverfahren nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen 25 weitere Mitgliedsstaaten eingeleitet, weil sie untätig waren.

CO2-Preis hat soziale und politische Sprengkraft

Derzeit ist nicht nur offen, welche Klimapolitik die nächste Bundesregierung verfolgen wird, sondern auch, wie sich der Rückhalt für den Green Deal auf EU-Ebene entwickelt. Mit ihm soll die EU bis 2050 klimaneutral werden, beschlossen wurde er bereits 2019 unter der konservativen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. 

In Zeiten extrem gestiegener Lebenshaltungskosten hat ein CO2-Preis, der nicht durch unterstützende Maßnahmen abgefedert wird, enorme soziale und politische Sprengkraft: Wer sich leisten kann, zu sanieren, Erneuerbare zu installieren, wird entlastet. Wer arm ist oder Mietend, muss nicht nur viel mehr vom eigenen Einkommen für Heizkosten aufwenden, sondern kann auch nicht aus der CO2-Abhängigkeit raus. Europaweit ist ein Streit über den CO2-Preis entbrannt.

„Wir sehen gerade, dass von Seiten der konservativen Fraktion und der rechten Fraktion im Europäischen Parlament, aber auch von Seiten von Mitgliedstaaten und der Wirtschaft versucht wird, Klimabemühungen abzusägen“, sagt Michael Bloss, Europaabgeordneter der Grünen. „Dabei wäre es sinnvoll sich jetzt damit zu beschäftigen, Programme für die potentiellen Einnahmen aufzusetzen, damit bereits in 2026 ab 1. Januar direkt Geld ausgezahlt werden kann. Sonst läuft man Gefahr, dass das ETS2 ab 2027 zur sozialen Falle wird.“

„Ich würde meine Energie gern anders verwenden, auf den Garten oder die renovierungsbedürftigen Kinderzimmer. Stattdessen ist da immer nur der Gedanke: Nehmt mir nicht die Wärme.”

Vater, 36, bekam 2024 die erste Heizkostenabrechnung im unsaniert gekauften Haus: 4.000 Euro. Schon die letzte Stromrechnung konnte die sechsköpfige Familie nicht zahlen.

Auch in Deutschland stocken die Vorbereitungen. Drei Wochen vor den Neuwahlen hat die Ampelregierung zwar noch das nötige Gesetz für das ETS2 durch den Bundestag gebracht. Wie es mit dem Klimasozialplan weitergeht, ist noch ungewiss: „Die fristgerechte Umsetzung des Klimasozialplans wird in diesem Zusammenhang dann von der neuen Bundesregierung weiterverfolgt“, heißt es auf Anfrage von CORRECTIV.Europe aus dem Bundeswirtschaftsministerium.

Das Klimageld – eine Direktzahlung an die Bevölkerung, die die scheidende Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt hatte – scheiterte zunächst daran, dass es keinen technischen Weg gab, allen Menschen Geld zu überweisen. Das ist inzwischen behoben, doch ob das Klimageld überhaupt kommt, hängt nach dem Koalitionsbruch nun von der nächsten Bundesregierung ab. Die CDU plant zunächst nur, die Strompreise zu senken, Direktzahlungen könnten laut ihrem klimapolitischen Sprecher in einem zweiten Schritt folgen.

Bevölkerung in Österreich profitiert von CO2-Einnahmen

In Österreich sind mit Hilfe der nationalen CO2-Einnahmen bereits mehr als 60 Projekte entstanden. Unter anderem fließt ein Teil der Einnahmen aus dem ökosozialen Preis in den sogenannten Klimabonus, eine Direktzahlung. Von dieser profitieren alle, sogar Kinder. 

Seit 2022 werden so Zahlungen sozial gestaffelt und automatisiert an jede Person, die länger als ein halbes Jahr legal im Land lebt, ausgeschüttet. Insbesondere sozial benachteiligte Menschen, Personen mit niedrigen Einkommen oder Haushalte in Gebieten mit schlechter Infrastruktur sollen so die Möglichkeit bekommen, in Technologien wie Wärmepumpen, Solarthermie oder andere erneuerbare Heizsysteme zu investieren. Laut Regierung soll es “Menschen motivieren, auf klimafreundliche Alternativen umzusteigen.” Die einmal jährlich ausgezahlte Summe besteht derzeit aus dem Grundbetrag von 145 Euro, hinzu kommt gegebenenfalls ein regionaler Ausgleich von bis zu 145 Euro. Wie das Geld am Ende ausgegeben wird, wird nicht kontrolliert. 

Eben das gilt auch für die einzelnen Länder. Eigentlich sollten die Länder mit den ETS-Einnahmen in Klimamaßnahmen investieren. Aber: „Es gibt derzeit keinen Überprüfungsmechanismus, man erwartet einfach, dass sich die Länder an den Plan halten”, sagt Europaabgeordneter Bloss. 

 

Sanierung von Gebäuden ist zentrale Maßnahme

Es gibt eine zentrale Maßnahme, bei der sich Fachleute einig sind, dass sie für Klimaschutz und Bevölkerung entscheidend ist: Sanierung. Wer kein CO2 ausstößt, zahlt auch keinen CO2-Preis. Und wenn insgesamt weniger CO2-Zertifikate gebraucht werden, sinkt sogar der Preis für die, die noch auf fossile Brennstoffe beim Heizen angewiesen sind. 

In der EU-Einigung zur Energieeffizienz von Gebäuden wurde festgehalten, dass die Sanierung von Gebäuden drastisch vorangetrieben werden soll. Das bedeutet auch für Deutschland einen gravierenden Eingriff, denn es hat zahlreiche sanierungsbedürftige Gebäude. Laut der Studie „Klimaneutralität erst 2075+?“ des Münchner Beratungsunternehmens S&B Strategy, wird Deutschland so das Klimaziel im Rahmen des Green Deals verfehlen. Auch die Umweltschutzorganisation BUND und der Deutsche Mieterbund übte im vergangenen Jahr bereits Kritik an der Verzögerung.

Es gebe in Deutschland zwar große Förderprogramme für energetische Sanierung und Heizungstausch, sagt Sibylle Braungardt vom Freiburger Öko-Institut. Diese würden jedoch vor allem von Haushalten mit hohem Einkommen in Anspruch genommen werden. „Es ist ein Problem, wenn Eigenheimbesitzende sanieren können, Wärmepumpen einbauen und sich aus dem CO2-Preis freikaufen, während Mietende das nicht tun können.“

Auch die Dämmung von Häusern ist entscheidend: „Wenn diese nicht vorhanden ist, wird ins Leere geheizt. Da ist selbst ein dauerhafter Zuschuss für die Heizkosten langfristig einfach sinnlos”, sagt Susanne Nies, Projektleiterin Energie und Information am Helmholtz Zentrum. Nies hat in Brüssel zu Energiearmut gearbeitet und ist Leiterin des Projekts Green Deal Ukraine, einem unabhängigen Think Tank. Insbesondere in Osteuropa seien Gebäude schlecht isoliert – und in wärmeren Ländern fehle häufig die Infrastruktur in den Gebäuden. „Dabei sollte Strom und Heizen keine soziale Frage sein.“ 

Andrea sagt, sie schaue jeden Tag Nachrichten und zum Thema Klimaschutz meint sie: „Wir pumpen alles in die Luft. Dagegen müssen wir etwas tun, wir müssen ja für unsere Kinder sorgen.“ 

Die Mutter hat einen eigenen Weg gefunden, um für sich und ihren Sohn zu sorgen. Sie hat ihre Jugendliebe Marcus* wieder getroffen, nun sind die beiden wieder ein Paar, erzählt sie. Noch sei es eine Fernbeziehung. Doch irgendwann würden sie gemeinsam in ihrem Heimatort in Nordrhein-Westfalen leben, darauf warte sie. „Ich habe zu Ben gesagt, wir bleiben arm, wenn wir hier wohnen. Beim Marcus haben wir ein warmes Haus. Ich kann Ben auch mal Sneaker kaufen und ordentliches Essen. Ich werde schlafen können, ich werde nicht mehr frieren.“ Aber nun warte sie erstmal auf den Frühling.

Hilfsangebote: Wer von hohen Nachzahlungen betroffen ist, kann sich an Hilfsstellen wenden. Dort erhalten sie eine Beratung – und werden gegebenenfalls auf dem Weg zu Sach- und Geldhilfen unterstützt. In Deutschland bieten unter anderem Verbraucherzentrale, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas und Diakonie Unterstützung.

Illustration und Text: Die Betroffenen leben alle in Deutschland. Wir haben sie primär über unseren Aufruf im Januar im Spotlight-Newsletter und auf Sozialen Medien gefunden. Viel mehr Menschen, als sich in der Veröffentlichung wiederfinden, haben ihre Geschichten geteilt. Diese haben uns gezeigt, wie umfassend und gleichzeitig unterschiedlich die Fälle aber auch wie weitreichend die Folgen sind. Auffällig war, dass sich in bedeutender Mehrheit Frauen gemeldet haben. Auch das spiegelt die Realität wider: Von Armut ist vor allem der weibliche Teile der Bevölkerung betroffen.

Transparenzhinweis: Mit mehreren Betroffenen haben wir telefoniert und teilweise Unterlagen eingesehen. Zu Andreas Fall liegen der Redaktion alle Dokumente vor. Andrea, ihr Sohn Ben sowie ihr Partner Marcus tragen im Text Pseudonyme.

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