Klimawandel

Unsichtbare Gefahr: Emissionen aus der Viehzucht und der lange Weg zur Nachhaltigkeit

Die EU hat sich verpflichtet, bis 2050 CO2-neutral zu werden. Dabei spielt die Landwirtschaft eine Schlüsselrolle; sie trägt rund zehn Prozent der Emissionen bei, die Europa reduzieren will. Doch Lobbyarbeit macht es großen Betrieben möglich, sich strengeren Umweltkontrollen zu entziehen. Das ungarische Kisbér etwa lebt schon jetzt mit den Folgen einer intensiven Tierhaltung.

Er kommt, ohne dass man ihn hört. Langsam bahnt er sich seinen Weg hinaus, aus dem Stall, durch die jungen Bäume hindurch, über den Zaun und den Schotterweg. Er dringt in das kleine Haus von Krisztina – so wie er sich in zahlreiche Häuser und in das Leben der Menschen Kisbér drückt. Er hängt fest wie Harz eines alten Baums. Und er stinkt. Süß-sauer, verdorben und faulig. Er, das ist der Geruch von Gülle.

„Als wir vor sechs Jahren herzogen, war uns nicht bewusst, wie hartnäckig der Gestank sein würde“, sagt Krisztina. Die 31-Jährige kehrte mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern dem Stadtleben den Rücken, um sich ihren gemeinsamen Traum von einem kleinen Grundstück mit Weingarten zu erfüllen. So zogen sie an den Stadtrand von Kisbér – einer Stadt mit 5.526, Einwohnern, etwa 100 Kilometer westlich von Budapest, der Hauptstadt Ungarns.

„Der Geruch ist intensiv, besonders an warmen Tagen“, sagt sie, „ich komme nicht darüber hinweg. Eigentlich ist es hier idyllisch und ruhig. Aber stellt man sich das vor: Wir können die Räume nicht lüften. Egal wie heiß es ist.“ Und an der Wäsche, die sie zum Trocknen raushängt, bleibe der Geruch kleben.

Der Grund dafür ist eine Schweinemastanlage. In den Ställen von Bakony Bio können mehr als 5.800 Schweine Platz finden. Deren Gülle nutzt das Unternehmen, um mit einer Biogasanlage auf dem Gelände Strom und Wärme zu erzeugen. Krisztinas Grundstück ist ein paar hundert Meter vom Hof entfernt, nur ein paar Bäume und eine kleine Wiese trennen sie.

In das Grundstück haben sie ihre Ersparnisse gesteckt. Dort leben sie in einem kleinen Haus. Noch ist nicht in jedem Fenster des Hauses ein Glas, nur Plastikgitter. Denn fette Schmeißfliegen gibt es mehr als genug. Wegziehen ist für sie keine Option, dazu fehlen die Ressourcen.

Bakony Bio und sein Geruch sind zu einem Dauerkonflikt in Kisbér geworden. Die Bürgerinnen kämpfen seit über zwölf Jahren gegen das Unternehmen, seit es seinen Betrieb aufgenommen hat.

Kapitel 1: Agrarwirtschaft und der Green Deal der EU

Auch die europäischen Landwirte beklagen sich, bedrängt zu werden. In ihrem Fall geht es jedoch um Umweltauflagen aus Brüssel, im Rahmen des sogenannten Green Deals.

Die Proteste in Kisbér sind leiser als die der europäischen Landwirte. Seit Anfang des Jahres gehen sie in mehreren Ländern auf die Straße: blockieren mit ihren Traktoren Autobahnauffahrten, laden Gülle auf Plätzen ab, zünden Reifen an. Beide Konfliktsituationen haben jedoch eins gemeinsam: den Kampf um die Umweltauswirkungen und Maßnahmen des Sektors, der von einem Drittel des jährlichen EU-Haushalts profitiert. Laut farmsubsidy.org, hat auch das Unternehmen Bakony Bio Subventionen erhalten: Zwischen 2014 und 2022 waren es mehr als 2,5 Millionen Euro.

Den Green Deal und die daraus resultierenden Regulierungen betitelt die amtierende Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, als: „Europas Mann auf dem Mond“. 

Es ist das wichtigste politische Projekt von Ursula von der Leyen. Das Ziel: Die EU soll bis 2050 emissionsfrei werden. Dafür muss in der Wirtschaft einiges passieren. Einer der Gründe dafür ist: Der Kontinent Europa erwärmt sich weltweit am schnellsten.

Zudem kann Luftverschmutzung verschiedene Gesundheitsprobleme wie Herz- oder Lungenkrankheiten verursachen. „Obwohl die WHO Luftqualitätsrichtlinien hat, gibt es fast keinen Ort, der sie einhält, auch nicht in Europa“, sagt Lidwien Smit, Professorin für One-Health und Umweltepidemiologie an der Universität Utrecht. 

Auf dem Weg zur Emissionsneutralität ist die Landwirtschaft eine der ausschlaggebenden Kräfte: Der Wirtschaftszweig ist für zehn Prozent der Treibhausgasemissionen der EU verantwortlich. Bei der Reduzierung schneidet er schlechter ab als andere Sektoren.

Die Landwirtschaft produziert allein 56 Prozent der jährlichen Methanemissionen; eines der Treibhausgase, die zur globalen Erwärmung beitragen. Der Wert ist seit 2000 kaum zurückgegangen. 

Außerdem ist die Landwirtschaft für 94 Prozent der jährlichen Ammoniakemissionen der EU verantwortlich. Der Wert des Luftschadstoffs ist in den letzten drei Jahrzehnten stabil geblieben. Auch in den letzten vier Jahren, obwohl er in dem Zeitraum 2020 bis 2029 jährlich um sechs Prozent sinken soll.

„Ammoniak wird oft übersehen, obwohl es zur Entstehung von Partikeln in der Luft beiträgt, wenn es auf andere Gase trifft”, sagt Smit. „Etwa 35 Prozent des Feinstaubs entsteht durch Ammoniak.“ Feinstaub ist besonders schädlich für die menschliche Gesundheit: Aufgrund seiner geringen Größe dringt er in empfindliche Bereiche des Atemsystems ein. Dadurch können nicht nur Erkrankungen wie Asthma verschlimmert werden, sondern auch ernstzunehmende Probleme des Herz-Kreislauf-Systems entstehen. Langfristig kann vorzeitiger Tod eine Folge sein. 

Innerhalb der Landwirtschaft ist Viehzucht die Hauptquelle für Ammoniak und Methan. Der Sektor erzeugt in der EU mehr als die Hälfte der Methan- und fast drei Viertel der jährlichen Ammoniakemissionen.

„Wir vergessen oft die Luftverschmutzung durch Landwirtschaft und die damit verbundenen gesundheitlichen Probleme, weil wir immer noch das Bild haben, dass Landwirtschaft eine ganz natürliche Sache ist”, sagt Smit. “5.800 Tiere an einem Ort sind nicht romantisch. Das ist eine Stadtbevölkerung.“

Kapitel 2: Der Fall in Kisbér

Kann ein Schweinezuchtbetrieb einen Einfluss auf die mentale Gesundheit von Anwohnenden haben?

Zwischen der Anlage und den ersten Häusern der Hauptstraße Kisbérs liegt weniger als ein Kilometer. Noch viel näher, auf der anderen Seite des landwirtschaftlichen Betriebes, an einem Schotterweg, stehen ein paar kleine Häuser mit Gärten. Krisztina und ihre Familie leben in einem davon.

In manchen Zeiten gehen täglich Beschwerden beim Bürgermeister Zoltán Sinkovicz und den Behörden ein. In Kisbér ist der Geruch fast jeden Tag in der Luft spürbar, vor allem in den wärmeren Monaten des Jahres; besonders am Morgen und Abend. Die geografische Lage trägt dazu bei: Kisbér befindet sich in einem Tal, so dass der Geruch und die Emissionen der tagelang über dem Ort steht.

Die Niederlassung der Bakony Bio Zrt in Kisbér ist die erste von vier Zweigstellen, zu denen neben der Viehzucht auch eine Biogasanlage gehört. Laut Homepage soll der Betrieb das Aushängeschild des Unternehmens sein. Die Anlage nutzt nicht nur, aber vor allem die Ausscheidungen der Tiere, um Strom und Wärme zu erzeugen. Unter anderem deswegen präsentiert sich Bakony Bio nach außen als ein Beispiel für ein nachhaltiges und zirkuläres Wirtschaften.

In einem Jahr leben laut Unternehmen im Schnitt 15.000 Tiere in den Ställen. Wenn sich deren Ausscheidungen mischen, Kot- und Darmbakterien aufeinander treffen, entsteht unter anderem Ammoniak. Das farblose Gas riecht schon in geringer Konzentration stechend.

2012 nahm der Hof den Betrieb auf. Doch schon in den ersten Tagen der Testphase schlossen sich über hundert Menschen einer Sammelbeschwerde an. Die Ursache: Ein wohl unerträglicher Gestank von Schweinegülle. Die Reaktion auf den Protest: Nichts.

„Wir haben den Geruch wiederholt den örtlichen Behörden gemeldet“, sagt der Bürgermeister. „Aber die kamen oft erst Stunden oder sogar Tage später. Da hatte vielleicht der Wind gedreht, oder der Gestank war einfach verschwunden. Die Situation nachzuweisen, macht es schwer, das Ausmaß der Belastung festzuhalten.“ Heute ruft Sinkovicz die Behörden nicht mehr an.

Anwohner gründeten eine Facebook-Gruppe, sammelten unermüdliche Unterschriften und reichten weitere Beschwerden ein. Auch die örtlichen Behörden wenden sich wiederholt an das Unternehmen. Dabei ging es in den letzten Jahren immer wieder um fehlende Berichte zu Umweltmaßnahmen, Emissionen und den Umgang mit der Gülle sowie Anträge auf Verlängerung von Lizenzen.

Vor vier Jahren erreichte die Situation einen Wendepunkt: Vertreterinnen der regionalen Behörden, der Bakony Bio, der Kommunalverwaltung und Anwohnerinnen kamen in einer Bürgerversammlung zusammen, um den Dauerkonflikt zu diskutieren – und bestenfalls eine Lösung für alle Parteien zu finden.

Der Eigentümer von Bakony Bio war nicht anwesend. Péter Pongrácz schickte einen Mitarbeiter. Die Versammlung fand im September 2020 statt, in der ersten Phase der COVID-Pandemie. Pongrácz gab gesundheitliche Gründe an, um seine Abwesenheit zu erklären.

Stattdessen schickte er Zsolt Zára, der sich darauf beschränkte, einen Brief im Namen von Pongrácz vorzutragen. Darin verteidigt sich der Eigentümer, dass das Unternehmen mit einem Mix aus chemischen Produkten und technischen Maßnahmen die Geruchsbelästigung reduzieren wolle. Bakony Bio habe zudem mehrere Baumreihen rund um den Betrieb gepflanzt, „die in der Blütezeit einen angenehmen Duft verbreiten werden“. Dies sind Maßnahmen, die die Behörden bereits zuvor angeordnet hatten. Aber die Bürger haben keine Verbesserung bemerkt. Es stinke noch immer.

Károlyné Méssáros, Gábor Zámbó und István Toth sind drei von 119 Personen, die gegen Barony Bio Zrt. vor Gericht gezogen sind. Sie alle wohnen mehr oder weniger einen Kilometer von der Anlage entfernt.

Als Folge der ergebnislosen Bürgerversammlung gehen 119  Einwohnerinnen von Kisbér vor Gericht. Die Stadt schloss sich dem Verfahren an, indem sie den Klägern als Streithelferin beitreten – und sie bei den Prozesskosten unterstützte.

Bence Szentkláray sitzt in seinem Büro in Budapest. Er vertritt die Kläger aus Kisbér in dem Verfahren gegen den nahe gelegenen Schweinemastbetrieb.

„Nach acht Jahren nutzlosem Beschweren mussten wir einen härteren Schritt gehen“, sagt Gabór Zámbó. Der pensionierte Bürgermeister ist einer der Kläger. Für ihn sind die penetranten Dünste auch eine psychische Belastung. 

„Ich schäme mich“, sagt der 65-Jährige. Früher bekamen er und seine Frau, vor allem im Sommer Besuch von Freunden. Doch statt appetitlichem Grillduft, dominierte die Note von Gülle die Sommertafel. „Ich habe eine große Familie, und wir standen uns nahe“, erklärt er. „Meine Schwester und ihre Kinder wohnten mit uns in der gleichen Straße – aber jetzt sind sie weggezogen. Sie kommen nicht einmal gerne zu Besuch.“

„Soziale Isolation ist eine häufige Folge, die ernsthafte Risiken für die psychische Gesundheit und auch körperliche Auswirkungen haben kann“, sagt Gesundheitsexpertin Smit. 

Kisbér ist ein Fall von diversen Einzelschicksalen. Als Teil des Gerichtsverfahrens hat jeder der 119 Klägerinnen einen Zeugenbericht mit Bence Szentkláray, dem Anwalt, der die Bürgerinnen und die Stadt vertritt, aufgenommen. 

„Da ist diese Frau mittleren Alters. Sie sitzt im Rollstuhl und leidet an Asthma“, sagt Szentkláray. Als sie aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht mehr arbeiten konnte, zog sie mit ihrer Familie an den Stadtrand von Kisbér und suchte ein Leben in der Natur. Sie hatten sich vorgestellt, dass sie wenigstens an warmen Tagen im Garten an dem kleinen Bach sitzen können. „Jetzt ist sie dort gefangen, wo die Luft und das Wasser Gestank, Fliegen und Ratten zu ihr bringen“, erklärt der Anwalt. Schon seit einiger Zeit werde sie von Depressionen geplagt. 

Es war ein langer Weg, 119 Menschen davon zu überzeugen, den Mut zu finden, für sich selbst einzutreten – auch wenn der Grund für die Klage eindeutig ist. „In Ungarn ist es immer noch verbreitet, Angst zu haben, gegen Unternehmen oder Politiker vorzugehen“, sagt Szentkláray. Einige berichten, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten. „Manche fürchten um ihren Arbeitsplatz, wenn sie ihre Meinung laut und öffentlich kundtun.“ 

Das erste Urteil im Rechtsstreit wurde nach zwei Jahren verkündet, zugunsten der Kläger. Es wurde jedoch nicht rechtskräftig, da Rechtsmittel eingelegt wurden. 

Im April dieses Jahres entschied das Gericht zum zweiten Mal: Das Gericht stufte die Dünste als Geruchsbelästigung ein und führte sie auf die Handhabung von Gülle zurück. Zudem urteilte es, dass Bakony Bio Zrt. dadurch das Persönlichkeitsrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Klägerinnen verletzt. Bei der Urteilsverkündung wurde jedoch keine potenzielle Gesundheitsgefährdung mit einbezogen. Bakony Bio Zrt. soll Betroffene mit 300.000 HUF oder 500.000 HUF (1.000 Euro, 1.600 Euro) entschädigen. Ein Betrag, den sie als „lächerlich und beleidigend“ empfinden. 

Die Klägerseite will jetzt in die nächste Instanz gehen. 

Weder Vertreter der Bakony Bio Zrt, der Eigentümer Peter Pongrácz, noch deren Verteidiger war bereit, CORRECTIV ein Interview zu geben. Pongrácz sandte jedoch eine schriftliche Erklärung.

Bezüglich der Beschwerden der Anwohner von Kisbér behauptete Pongrácz, dass Geruchstests mehrmals von verschiedenen Behörden durchgeführt worden seien: „Es wurde jedes mal sichergestellt, dass weder die Biogasanlage, noch die Schweinefarm Geruchs-Emissionen abgeben, die geeignet wären, die Anwohner von Kisbér zu beeinträchtigen.“ Außerdem verfüge die Anlage über „alle erforderlichen Genehmigungen“, einschließlich der Umweltschutzgenehmigung, die „zum dritten Mal erneuert” wurde.

Er äußerte sich nicht zu dem Gerichtsverfahren, in dem nachgewiesen wurde, dass die Geruchsbelästigung durch die Bakony-Bio-Anlage in Kisbér die Anwohner unnötig belästigt.

Die Gesundheitsexpertin Lidwien Smit stimmt zu, dass solche Anlagen problematisch sein können, aber nicht nur wegen der Geruchsbelästigung: „Mehrere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Ammoniakkonzentration in Bodennähe in der Nähe von Viehzuchtanlagen verhältnismäßig hoch ist“, sagt Smit. Langzeitstudien zeigen, dass Menschen, die den Emissionen solcher Höfe ausgesetzt sind, eine Verschlechterung der Lungenfunktion aufweisen und ein entsprechendes Krankheitsrisiko steigt.

Die Europäische Umweltagentur hat die Kosten, die für die Gesellschaft durch industrielle Luftverschmutzung entstehen, geschätzt. Die Agentur berücksichtigt bei der Schätzungen unter anderem vorzeitige Todesfälle und Schäden an Ökosystemen. Innerhalb der EU sind das die 30 Anlagen mit den höchsten Kosten auf Grundlage ihrer Emissionen aus dem Jahr 2021. Mehr Daten hier. Quelle: EEA

Die Europäische Umweltagentur hat geschätzt, wie viel die Emissionen von Anlagen wie Bakony Bio die ungarische und europäische Gesellschaft in der Vergangenheit gekostet haben. Diese Schätzung berücksichtigt die Kosten, die durch Krankheiten, vorzeitige Todesfälle oder Schäden an Ökosystemen entstehen. Für die ungarischen Steuerzahler entstand alleine im Jahr 2021 auf Basis der Emissionen des Betriebes in Kisbér eine Summe von 497.000 Euro.

Der Fall von Kisbér ist ein Präzedenzfall in Ungarn – in den letzten Monaten hätten sich Menschen aus anderen Teilen des Landes mit ähnlichen Fällen an den Verteidiger Szentkláray gewandt. Die Stadt ist nur eine von vielen Orten in der EU, an denen die Bevölkerung die Folgen von intensiver Landwirtschaft zu tragen hat.

Kapitel 3: Die Agrarwirtschaft der EU

„Die Landwirtschaft ist eine der größten Hürden, um Umweltziele zu erreichen“, sagt Smit. „Wir brauchen den Green Deal. Aber ohne die Kooperation des Sektors wird er oder andere Konzepte nicht umsetzbar sein.”

In Europa begann das Jahr 2024 mit Bauernprotesten. Sie verteilten sich über den ganzen Kontinent, mit einem gemeinsamen Mantra: Die Umweltreformen der EU erdrücken die Landwirte, insbesondere die kleinen.

„Viele von ihnen haben das Gefühl, dass sie keine Verhandlungsmacht über ihr Einkommen haben“, sagt Ottmar Ilchman. Er ist Weidebauer und Landesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft Niedersachsen/Bremen. „In Deutschland machen die EU-Subventionen je nach Betriebsform 30 bis 50 Prozent des Einkommens der Landwirte aus.“

Landwirtschaft in Europa ist überwiegend durch Familienbetriebe geprägt: Neun von zehn Höfen sind familiengeführt. Außerdem sind sie in der Regel nicht größer als elf Hektar. 

Doch dominiert ein kleiner Prozentsatz von intensiven Landwirtschaften mehr als die Hälfte der Agrarflächen der EU. Es sind vier Prozent aller Betriebe, die durchschnittlich mehr als 100 Hektar bewirtschaften.

Gleichzeitig ist die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe um ein Drittel zurückgegangen. Waren es 2005 noch 13,7 Millionen, so reduzierte sich die Zahl 2020 auf rund 9 Millionen; das bedeutet, dass im Durchschnitt jeden Tag etwa 800 Betriebe verschwinden. Es gibt einen klaren Trend zu weniger und gleichzeitig zu größeren Betrieben.  

In den politisch aufgeheizten Monaten vor den EU-Wahlen im Juni haben sich die Landwirte als Garant für die Ernährungssouveränität Europas inszeniert: Wenn sie durch Umweltauflagen an den Rand des Verschwindens gebracht werden, würde der Kontinent auf Nahrungsimporte angewiesen sein. 

Doch die EU ist ein Gigant, wenn es um den Export von Agrarprodukten geht. Im Jahr 2022 brachte der Agrarhandel einen Überschuss von 33 Milliarden Euro; die EU hat mehr ins Ausland verkauft, als sie von Drittländern erwarb. Und zwischen 2002 und 2022 stiegen die Exporte stärker als die Einfuhren. 

Auch produziert die EU in vielen Fällen mehr Lebensmittel als gebraucht werden: Mit Ausnahmen wie Reis, Ölsaaten oder Pflanzenöle werden ebenso mehr pflanzliche Erzeugnisse hergestellt als genutzt. Das Gleiche gilt für Fleisch und Milchprodukte.

Beispielsweise hat Spanien im Jahr 2022 rund fünf Millionen Tonnen Schweinefleisch produziert; davon verließen drei Millionen Tonnen als Exporte die Landesgrenzen. In diesem Fall ging die Hälfte der Exporte in Länder außerhalb der EU – hauptsächlich nach China, aber auch auf die Philippinen oder nach Japan.

Kapitel 4: Die Lobby und der blinde Fleck Rind

Emissionen der Rinderzucht bleiben weiterhin intransparent.

Die Debatte um neue Umweltschutzregulierungen innerhalb des EU-Parlaments war in den letzten Monaten bei weitem lauter, als die Diskussion über die Industrieemissionsrichtline (IED).

Seit 2010 betrifft dieses europäische Gesetz rund 50.000 Industrieanlagen aller Art – von Wärmekraftwerken über Chemieunternehmen bis hin zu Raffinerien, Mülldeponien oder Zementwerken. Diese Anlagen benötigen eine Betriebsgenehmigung und müssen ihre Emissionen an die Europäische Umweltagentur melden. Auch die 20.000 Intensivtierhaltungen werden von der Richtlinie erfasst.

Doch die Richtlinie deckt lediglich drei Prozent der gesamten Methan- und 18 Prozent der gesamten Ammoniakemissionen ab, die in der EU durch Tierhaltung entstehen. Der begrenzte Geltungsbereich für diese beiden Luftschadstoffe ist hauptsächlich auf eine bemerkenswerte Lücke zurückzuführen: die Rinderhaltung. Sie ist nicht einbezogen.

Diese Lücke sollte mit einer Reform geschlossen werden. 2022 wurde ein Vorschlag ausgearbeitet, der den Geltungsbereich auf zehn Prozent der größten Rinderhaltungsbetriebe ausweitet. Das hätte dazu geführt, dass 43 Prozent der Methan- und 60 Prozent der Ammoniakemissionen aus der Tierhaltung erfasst werden. 

Doch nach einem langwierigen Verfahren wurde im März 2024 eben dieser Vorschlag mit einem neuen Text ersetzt und als überarbeitete Richtlinie vom EU-Parlament angenommen. In ihr wird Rinderhaltung erneut ausgespart. 

„Die IED ist wohl die erste Gesetzgebung, bei der wir eine so starke Gegenreaktion der großen und einflussreichen konventionellen Landwirtschaft sowie ihrer Vertreter in Brüssel beobachten konnten“, sagt Marco Contiero, Greenpeace-Direktor für EU-Agrarpolitik.

 

Benoît Lutgen, belgischer Europaabgeordneter im Ausschuss für Landwirtschaft, machte sich gegen die Aufnahme von Rindern in die überarbeitete Richtlinie über Industrieemissionsrichtlinie stark.

Einer der führenden Köpfe der Opposition ist Benoît Lutgen. Er ist Sohn eines ehemaligen belgischen Senators und Ministers für Landwirtschaft und Umwelt in der Region Wallonien; wo auch Lutgen selbst im Laufe seiner Karriere Landwirtschaftsminister wurde.  

Im Mai letzten Jahres wurde er als Teil des EU-Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (AGRI) damit beauftragt, den Kommissionsvorschlag zu analysieren und damit repräsentativ für den Ausschuss gegebenenfalls vernachlässigte Aspekte in einer neuen Version einzubeziehen. 

In seinem Bericht sprach sich Lutgen unter anderem dafür aus, Rinder bei der Neufassung der IED wieder auszuschließen: „Landwirte mit Industriellen gleichzusetzen, trägt zu einer negativen Wahrnehmung von Familienbetrieben bei“, schrieb er. Seine Sichtweise fand Eingang in den endgültigen Text, der im März dieses Jahres vom Parlament verabschiedet wurde. 

Auf die Frage von CORRECTIV nach seiner Position zur IED und das Auslassen von Rindern erklärte Benoît Lutgen, er habe sich immer für eine Emissionsrichtlinie speziell für die Landwirtschaft eingesetzt. „Kühe sind kein Abfall und Schweine sind kein Zement.“ Er ging dabei nicht darauf ein, ob er die Auswirkungen der Rinderhaltung auf die Ammoniak- und Methanemissionen dabei berücksichtigt habe. Lutgen betonte, dass er nicht nur Landwirtschafts-, sondern auch Umweltminister in Wallonien gewesen sei: Das eine funktioniere nicht ohne das andere; und „diejenigen, die glauben, sie könnten Umweltbelange voranbringen, ohne die landwirtschaftlichen Akteure zu konsultieren, irren sich schmerzlich!“

„Landwirtschaftliche Sachverhalte sind sehr komplex“, sagt Greenpeace-Direktor Contiero. „Die meiste Zeit segnet der Rest des Parlaments nur ab, was der Landwirtschaftsausschuss beschließt.“ 

Vor dem Hintergrund des weitreichenden Einflusses der Entscheidungen des AGRI-Ausschusses führte Greenpeace 2018 eine Analyse durch, um festzustellen, ob Mitglieder Verbindungen zum zugehörigen Sektor hatten. Die Auswertung ergab, dass 25 der 46 AGRI-Mitglieder enge Verbindungen zur Landwirtschaft hatten – in einigen Fällen, weil sie selbst Landwirte waren. Vier weitere hatten weniger enge Verbindungen zur Branche. Beispielsweise betreiben hier Eltern einen Hof. 

„Diese Zahlen zeigen, dass Abgeordnete mit Verbindungen zur Landwirtschaft und zur Agrarindustrie eine sichere Mehrheit im Ausschuss haben und das Ergebnis jeder Abstimmung dominieren können“, schrieb Greenpeace damals.

CORRECTIV hat den beruflichen Werdegang und die Biografien der Mitglieder des letzten Ausschusses analysiert. Obwohl mehr als zwei Drittel der Abgeordneten das erste Mal im AGRI-Ausschuss saßen, ist das Ergebnis ähnlich wie im Greenpeace-Bericht zur Amtsperiode 2018:

23 der 47 Mitglieder haben einen engen Bezug zur Landwirtschaft, die meisten von ihnen sind selbst Landwirte oder waren es, bevor sie in die Politik gingen.

Vier weitere Abgeordnete haben eine weniger enge Verbindung zur Landwirtschaft. Da Lutgen lediglich ein stellvertretendes Mitglied des Ausschusses ist, wurde er in dieser Analyse nicht berücksichtigt.

CORRECTIV prüfte auch, ob diese Abgeordnete von EU-Subventionen für den Sektor profitiert haben. Laut farmsubsidy.org erhielten neun von ihnen zwischen 2014 und 2022 insgesamt 5,6 Millionen Euro aus EU-Töpfen. Sie verteilten sich auf die Personen in Summen von einigen zehntausend bis zu mehreren Millionen Euro; zwei Europaabgeordnete erhielten zusammen 3,8 Millionen Euro.

„Hier geht es um reiche, gut ausgebildete Landbesitzer, die Zeit haben, in die Politik zu gehen und sich wählen zu lassen. Wir blicken nicht auf Kleinbauern, die ein paar Tiere und einen Traktor haben“, sagt Contiero. „Agrarwirte und Großgrundbesitzer müssen keine Lobbyarbeit betreiben. Sie selbst sitzen in den europäischen Institutionen.”

Kapitel 5: Der Bumerang-Effekt und die EU-Wahlen

„Die anstehende Wahl wird über die Umwelt- und Lebensqualität in Europa entscheiden“, sagt Sebastian Lakner, Agrarwissenschaftler an der Universität Rostock.

Sowohl das EU-Parlament als auch der Rat hat die überarbeitete IED angenommen; denn auch diese beiden Institutionen sind neben entsprechenden Ausschüssen an Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Die aktualisierte Richtlinie muss nur noch im EU-Amtsblatt veröffentlicht werden, um geltendes Recht zu werden. Zum Zeitpunkt der Publikation war das noch nicht der Fall. So bleiben die Emissionen der Rinderhaltung weiter intransparent, zumindest bis 2026. Denn eine der Aufgaben der in diesem Jahr gewählten Europäischen Kommission ist die abermalige Prüfung und gegebenenfalls Überarbeitung der IED.

„Die Landwirtschaft ist eine der größten Hürden, um unsere Umweltziele zu erreichen“, sagt Gesundheitsexpertin Smit. „Wir brauchen den Green Deal. Aber ohne die Kooperation des Sektors wird er oder andere Konzepte nicht umsetzbar sein.“

Infolge der Bauernproteste wurden an anderen Stellen Regulierungen nicht verschärft: Mit einer politischen Geste verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Februar die Rücknahme eines Gesetzes, das den Einsatz von Pestiziden halbiert hätte. Der Ursprung der Regulierung war der Green Deal. Diese Substanzen sind eine bedeutende Ursache für Umweltverschmutzung und werden mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Herz-, Atemwegs- und neurologischen Erkrankungen in Verbindung gebracht. 

Auch einige EU-Mitgliedstaaten machten Zugeständnisse bei Umweltnormen im Zusammenhang mit den Agrarsubventionen und lockerten Regulierungen.

Gleichzeitig haben rechtspopulistische Parteien die Bauernproteste für sich instrumentalisiert und erleben gerade in ländlichen Regionen  Zustimmung bei EU-Wahlumfragen. Sie verfolgen eine rückwärtsgewandte Umweltpolitik. 

„Die EU-Kommission hat angesichts der Proteste vieles eingerissen. In nur wenigen Monaten sind wir umweltpolitisch 15 Jahre zurückgesprungen“, sagt Sebastian Lakner, Agrarökonom an der Universität Rostock. Lakner ist Autor und Teil eines von insgesamt 6.000 Personen aus der Wissenschaft unterzeichneten Papiers, das sich für eine Fortführung des Green Deals ausspricht. 

Eine konsequente Klimapolitik zu schieben sei eine kurzfristige Lösung: „Die Notwendigkeit für die EU, einen stärkeren Fokus auf die Umwelt zu verfolgen und Treibhausgase sowie andere Emissionen zu reduzieren, steht außer Frage“, sagt Lakner. „Nicht nur wegen der Folgen für Natur und menschliche Gesundheit, die wir schon jetzt beobachten, sondern auch wegen internationaler Verträge wie dem Pariser Abkommen.“

Wenn man jetzt die Vorschriften lockert, verschwinden die Probleme nicht, warnt der Ökonom. Es hinterlasse in der Branche lediglich eine große Unsicherheit darüber, wie man sich auf die Zukunft vorbereiten könne. „Sicher ist jedoch, dass die Umweltschutzmaßnahmen wieder aufgenommen werden müssen. Und dann vielleicht mit strengeren und vielleicht auch kurzfristigeren Maßnahmen aufgrund der gestiegenen Dringlichkeit.“ 

Strengere Umweltauflagen für Landwirtschaft und Viehzucht könnten zu weniger Produktion und höheren Preisen führen. Doch auch der Klimawandel wird die europäischen Verbraucherinnen hier auf lange Sicht wohl nicht entlasten. In dem Bericht „Agricultural Outlook 2023 – 2035“ schreibt die EU-Kommission, dass in einem Szenario sich verändernder globaler Wettermuster die rückläufige Inlandsproduktion von Fleisch und Milch in der EU „wahrscheinlich zu höheren Inlandspreisen führen wird“. 

„Wir haben eine große ökologische Krise, die politisch adressiert werden muss“, sagt Lakner. „Mit einem rechtsgerichteten EU-Parlament wird eben diese Arbeit weniger wahrscheinlich. Die Wähler sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein.“

Die Recherche ist im Rahmen von CORRECTIV.Europe entstanden. Das Projekt stärkt Lokaljournalismus und so Demokratie auf dem gesamten Kontinent durch grenzüberschreitende Recherchen. Diese werden mit einem Netzwerk von über 200 lokalen Medienschaffenden in ganz Europa umgesetzt. CORRECTIV.Europe wird durch den WPK Innovationsfond und die Adessium Fondation.

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