Europa

Auf den zweiten Blick: Georgien – Wenn der Protest zum Alltag wird.

Seit über sechs Monaten wird in Georgien gegen die Regierung protestiert. Wir erklären die Hintergründe und wie ein Alltag im Protest gegen autoritäre Herrschaft aussieht.

von Team CORRECTIV.Exile

Georgia 01

In dieser neuen Artikel-Serie werfen wir einen zweiten Blick auf aktuelle Ereignisse in Ländern, die in der deutschen Berichterstattung oft nur ein Schlaglicht bleiben. Gemeinsam mit lokalen Expertinnen und Experten fragen wir: Welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen stecken hinter den aktuellen Ereignissen, die wir in den Nachrichten sehen? Was bedeutet das für Demokratie und Medienfreiheit? Mit unserer Exil-Expertise wollen wir globale Zusammenhänge aufzeigen und verstehen, was wir daraus für ein freies, demokratisches Zusammenleben lernen können.

Für diese Folge haben wir mit Paata (Protestteilnehmer/Organisator in Tiflis), Irma Dimitradze (Journalistin bei Batumelebi) und Tamta Gelashvili (Politikwissenschaftlerin, Center of Research on Extremism, Universität Oslo) gesprochen.


“Jeden Tag gehe ich protestieren. Wir kämpfen hier seit Jahren und die Kraft geht uns aus”, sagt Lasha.  Er ist auf dem Weg zur abendlichen Demo in Tiflis und zieht sich routiniert ein Tuch übers Gesicht. Überall sind Überwachungskameras, da zeigt man lieber nicht sein Gesicht. Lasha heißt eigentlich anders, er ist einer von Hunderten, die täglich in der georgischen Hauptstadt auf die Straße gehen und ihre Namen lieber nicht nennen. Für ihn ist der Protest gegen das Regime Alltag geworden. Während Kollegen ihre Abende mit der Familie verbringen und am Wochenende Ausflüge machen, packt er seine Protesttasche und zieht los. Ein Freund, der bei der Polizei arbeitet, hat ihm Tipps gegeben: Die Hosentaschen solle er zunähen, damit ihm keiner Drogen unterjubelt, die dann zu einer Verhaftung führen könnten. Zugenähte Hosentaschen, verhüllte Gesichter, das alles ist Alltag geworden – und zeigt die Absurdität der Situation.

Was bisher geschah

Es ist 2025 in Georgien – seit Monaten prägen Massenproteste das öffentliche Leben. Auslöser war die Ankündigung des Premierministers Irakli Kobachidse Ende November 2024, den EU-Beitrittsprozess auszusetzen. Doch die Wurzeln der Proteste reichen weiter zurück. Bereits 2023 protestierten Tausende gegen ein „Ausländische Agenten“-Gesetz, das als Angriff auf unabhängige Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen und die proeuropäische Ausrichtung des Landes galt. Nach heftigem zivilgesellschaftlichen Widerstand wurde es damals zurückgezogen – vorübergehend. Denn 2024 kam es dann doch. Viele setzten daraufhin ihre Hoffnung auf die anstehenden Parlamentswahlen, wollten die zunehmend autoritäre und russlandfreundliche Regierungspartei „Georgischer Traum“ demokratisch abwählen. Eine Hoffnung, die herbe enttäuscht wurde: Trotz zahlreicher Hinweise auf Wahlmanipulation erklärte sich die Regierungspartei erneut zur Siegerin. Kurzzeitig kehrte Ruhe ein. Viele sprachen von einer Phase der Resignation.

Die EU-Absage des neuen Premierministers bringt nun jedoch erneut Zehntausende auf die Straßen. Studierende, Aktivistinnen, Oppositionspolitiker, Rentnerinnen – sie alle wollen, dass Georgien auf dem europäischen Weg bleibt und sich nicht weiter an Russland annähert. Doch wie sieht es aus, wenn Widerstand gegen die Regierung zum Alltag wird? Welche Räume des Widerstands gibt es in Georgien noch und wie organisieren sich Zivilgesellschaft, Opposition und unabhängige Medien, um eben nicht den russischen Weg zu gehen? Wir waren in Georgien und haben mit den Menschen vor Ort darüber gesprochen, was in den letzten Monaten geschehen ist und wie diese politischen Realitäten sie prägen.

 

Politischer Alltag in Georgien

Protest als letzte Form der Beteiligung

Wir treffen uns mit Paata in einem Teehaus, seinen Nachnamen und Arbeitgeber möchte er lieber nicht sagen, zu groß die Angst vor Konsequenzen. Auch Paata ist einer von Hunderten, die nach sechs Monaten weiterhin jeden Abend vor dem georgischen Parlament demonstrieren gehen und selbst Proteste organisieren. “Als Bürger dieses Landes bin ich für dessen Politik verantwortlich. Wir haben diese Leute an die Macht gelassen, ob durch faire oder gefälschte Wahlen, und wenn einem die politischen Entwicklungen nicht gefallen, dann muss man etwas dagegen tun.” 

Paata erinnert sich an den Beginn der Proteste, an die Menschenmassen auf den Straßen. Er erzählt von willkürlichen Verhaftungen, von Polizeigewalt und davon, dass all dies die Proteste eigentlich nur weiter angeheizt hat: “Wir sind Georgier, wir lassen uns das nicht gefallen. Sie wollten uns kleinkriegen wie in Belarus, aber das hat nur mehr Leute auf die Straße gelockt.” Mittlerweile sieht es anders aus, immer weniger Menschen kommen zu den täglichen Demos, obwohl diese trotz großer Polizeipräsenz momentan friedlich sind. Irgendwann hat die Polizei ihre Strategie geändert. Wer heute demonstrieren geht, riskiert weniger eine gebrochene Nase als vielmehr horrende Geldstrafen, angeblich aufgrund illegaler Straßenblockaden. Viele Menschen tragen Masken, um sich vor den AI-betriebenen Überwachungskameras zu schützen und so dem Risiko zu entgehen, durch die Teilnahme in den finanziellen Ruin getrieben zu werden. Dass weniger Menschen demonstrieren gehen, sieht Paata nicht als Versagen an. Vielmehr haben sich die Formen des Widerstands verändert: Bürger vernetzen sich in kleinen Initiativen, mit Kollegen und Nachbarinnen. Manchmal gibt es Überschneidungen, immer wieder werden auch große Demonstrationen gemeinsam organisiert. Auch wenn dies weniger sichtbar ist, so ist sich Paata sicher: Die Abneigung gegenüber der Regierung wächst weiter an und die Hauptsache ist, dass sich die Menschen darüber austauschen. “Eigentlich sind wir besser vernetzt als die Regierung. Fast keiner der europäischen Staaten hat diese Regierung anerkannt, doch sie verbreitet eben ihre Propoganda. Dagegen versuchen wir anzukämpfen, indem wir uns organisieren.” Ihm ist es wichtig zu betonen: Keiner hier möchte eine Revolution. “Wir wollen freie Wahlen, wir wollen nicht in Russland leben.” Tatsächlich gab es scharfe Verurteilungen und Forderungen nach Neuwahlen auch seitens der EU und des Europarats. Internationale Wahlbeobachtungsorganisationen schätzen die Wahl als weder frei noch fair ein, zu ähnlichen Einschätzungen kommen auch unabhängige georgische Wahlbeobachterinnen. Die vier zur Wahl angetretenen Oppositionsbündnisse erkennen die Wahlergebnisse nicht an und boykottieren seither die Arbeit des Parlaments. Mehrere europäische Länder haben die Zusammenarbeit mit Georgien vorerst eingestellt und einzelne Vertreter des Georgischen Traums sanktioniert. Die Regierungschefs von Ungarn und der Slowakei hingegen, ebenso wie etwa die russische, iranische und aserbaidschanische Regierung, gratulierten dem Georgischen Traum zum Wahlsieg. 

Die Politikwissenschaftlerin Tamta Gelashvili erklärt, dass sich die politische Lage in den letzten Jahren so verschärft hat, dass den Bürgern mittlerweile außer dem Protest eigentlich keine weitere Form der politischen Beteiligung offensteht. Deutlich wird das im georgischen Wahlprozess. Zwar stehen verschiedene Parteien zur Wahl, dabei handelt es sich jedoch nicht um wirkliche politische Institutionen mit ausgearbeiteten politischen Programmen und einer Basis in der Wählerschaft. Somit ist die Wahlentscheidung oft auf anderen Erwägungen basiert, wie etwa Klientelismus, Angst und Abhängigkeit. Wie die Politikwissenschaftlerin Gelashvili sagt, werden die georgischen Debatten widersprüchlich geführt. “Einerseits zeigen Meinungsumfragen seit Jahren, dass Armut und Arbeitslosigkeit als die größten Probleme der Bevölkerung angesehen werden. Diese Themen werden jedoch von den politischen Akteuren überhaupt nicht auf die Agenda gesetzt.” Dies liegt ihrer Einschätzung nach an der dominanten Themensetzung durch rechte Akteure und den schwachen linken Gruppierungen in Georgien. Gesellschaftsrelevante soziale Probleme, die politisch schwer zu lösen sind, wie etwa Armut und Arbeitslosigkeit, würden so gar nicht erst ins Parlament gelangen.  Stattdessen würden die Parteien gezielt Feindbilder, wie die LGBTIQ+-Gemeinschaft, kreieren, um sich echten Problemen wie der Armutsbekämpfung nicht widmen zu müssen.    

Andere Wege der politischen Beteiligung, etwa die Arbeit von Interessengruppen oder Petitionen, funktionieren in Georgien kaum, da sie von der Regierungspartei nicht beachtet werden. Somit bleibt den Menschen eigentlich nur der Straßenprotest, um ihre Forderungen zu äußern. Auf der Straße treffen dann sehr unterschiedliche Forderungen aufeinander. Zwar sind alle hier, um gegen die Regierungspartei zu demonstrieren – manche tun dies jedoch beispielsweise, weil sie sich für Medienfreiheit einsetzen wollen, andere, weil ihnen die Arbeitnehmerrechte und die Sicherheit von Bergarbeitern im Städtchen Chiatura wichtig sind. 

Ein Zusammenkommen, das auch Hoffnung entstehen lässt: So lernen viele Georgier gerade neue Formen der  gesellschaftlichen und politischen Organisation kennen. Es formen sich lokale Initiativen, Crowdfundingkampagnen für Geldstrafen und auch neue Parteien, die ideologische Lücken füllen. Ob diese bei zukünftigen Wahlen tatsächlich große Chancen haben, bleibt unklar. 

Unabhängige Medien geraten an ihre Grenzen

Ich bin müde, wir sind alle so, so müde”. So beginnt Irma Dimitradze, unabhängige Journalistin aus der Schwarzmeerstadt Batumi. Dann erzählt sie, wie sie und ihre Kolleginnen seit Jahren unbeirrt für einen lokal verankerten, kritischen Journalismus kämpfen – trotz wachsender Hindernisse. Die Geschichte von Batumelebi, einem unabhängigen Online-Medium, steht exemplarisch für gelebten Community-Journalismus in Georgien: Sie gehen Hinweisen von Anwohnern nach, organisieren bei Bedarf Crowdfunding-Kampagnen, bringen Bücher in abgelegene Bergdörfer, und veranstalten Diskussionsrunden, bei denen die Bürgerinnen selbst als Experten auftreten. “Als wir gemerkt haben, wie skeptisch die Bevölkerung gegenüber politischen Eliten ist, haben wir das ganze umgedreht und erstmal angefangen, ihnen selbst zuzuhören.” 

Wenn man Irma zuhört, sprudeln die Ideen nur so aus ihr heraus. Doch dahinter steht eine politische Realität, die unabhängigen Medien grenzenlose Kreativität und Durchhaltevermögen abverlangt. Anders geht es nicht mehr.

Irma schildert, wie sich die Lage in Georgien dramatisch verändert hat: Noch vor wenigen Jahren kooperierte Batumelebi mit lokalen Behörden, etwa bei Aufklärungskampagnen während der Corona-Pandemie. Heute gibt es keinen Dialog mehr. Selbst öffentlich zugängliche Informationen werden kaum noch herausgegeben. Stattdessen wurde die Chefredakteurin des Mediums, Mzia Amaghlobeli, im Januar verhaftet – weil sie in einem Tumult am Rande von Protesten den Polizeichef geohrfeigt hatte. Der Fall erzeugt viel Solidarität, so betont etwa Amnesty International, dass auf öffentlich zugänglichem Videomaterial zahlreiche Menschenrechtsverletzungen zu sehen seien, die die Polizei an diesem Tag an Demonstrantinnen begangen hat. Demnach lässt sich nachweisen, dass der Polizeichef explizite und sexualisierte Drohungen gegen Mzia Amaghlobeli ausspricht. Irma erklärt, wie ihre Chefin als Journalistin ruhiggestellt und der Fall politisch ausgeschlachtet wird: „Man versucht, sie als gefährlich darzustellen. Aber das funktioniert nicht – denn die Menschen in Batumi kennen sie. Sie wissen, wer sie ist: Die, die jeder Geschichte nachgeht, die für Bedürftige sammelt, die vor Ort präsent ist.“ 

Amaghlobeli sitzt seit der Verhaftung in Untersuchungshaft. Ihr drohen bis zu sieben Jahre Gefängnis. Noch läuft das Verfahren, doch eines ist klar: Weder die Haft noch das drohende Strafmaß stehen in einem angemessenen Verhältnis zur Tat – einer einmaligen Handlung ohne körperliche Folgen, ausgeführt von einer Person ohne jegliche Vorstrafen. Deutlich schwerwiegendere, gewaltsame Übergriffe bleiben jedoch straflos – etwa als ein Abgeordneter der Regierungspartei Georgischer Traum den Oppositionspolitiker Giorgi Gacharia tätlich angriff. Konsequenzen? Keine. Irma beschreibt, wie diese Gewalt und fehlende Konsequenzen auch ihre Arbeit als Journalistin verändert hat. Besonders einprägsam war für sie der Angriff auf einen Kameramann von TV Pirveli im Jahr 2021, der an den Folgen des Angriffs starb: “Das hat für mich alles verändert. Als Journalist überlegt man mittlweile zweimal, ob man sich bei einer Demonstration als Pressevertreter kennzeichnet. Was früher als Schutz galt, macht uns jetzt zur Zielscheibe.” Dabei sind nicht nur die Angriffe beängstigend, sondern auch die ausbleibende Reaktion der Regierung: Immer wieder haben Regierungsvertreter gesagt, dass solche Angriffe Ausdruck der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung seien, und dass man sich dem nicht entgegenstellen könne. Das steht in krassem Gegensatz zu rechtsstaatlichen Prinzipien. Der Subtext laut Irma: Journalisten, aber auch Menschenrechtsaktivisten sollten sich von der Regierung lieber keinen Schutz erhoffen.  

Wie arbeitet man in so einem Klima weiter? Irma spricht von Disziplin, akribischer Recherche und der Pflicht, das Vertrauen der Leser nicht zu verlieren. In einer Gesellschaft, die unter ständiger Beschallung durch Regierungspropaganda steht – allen voran durch den Fernsehsender Imedi, dessen Mutterkonzern in Großbritannien sitzt – zählt Nähe. Vertrauen. Glaubwürdigkeit. 

Auf den zweiten Blick: Lehren aus den georgischen Protesten

Erstens: Repression zeigt in Georgien ein neues Gesicht. Statt brutaler Polizeigewalt setzt die dortige Regierung auf Geldstrafen, Überwachung und bürokratische Schikane. Insbesondere die Gesichtserkennung und Datenerfassung durch Künstliche Intelligenz, die weit in Persönlichkeitsrechte eingreift, ist eine neue Dimension. Es entstehen keine erschreckenden Bilder der Gewalt, aber dennoch werden Existenzen systematisch zerstört. Das macht das Vorgehen nicht weniger autoritär – nur weniger sichtbar.

Zweitens: Autoritäre Netzwerke funktionieren transnational. Der Kreml unterstützt offen die georgische Regierung, liefert Narrative, Strategien, Rückhalt. Umso wichtiger ist eine ebenso koordinierte, grenzüberschreitende Solidarität der Demokratien: durch politische Unterstützung, durch internationale Aufmerksamkeit, durch konkrete Hilfe für Zivilgesellschaft und freie Medien. 

Drittens: Der Widerstand gegen autoritäre Regime ist ein vielschichtiger Prozess. Die Proteste auf der Straße sind nur die sichtbarste Ebene. Journalistinnen riskieren ihre Freiheit, um gegen Propaganda anzuschreiben. Oppositionelle Parteien müssen unter Repression nicht nur politisch überleben, sondern neue Visionen entwickeln und kommunizieren. Gleichzeitig organisieren sich Privatpersonen – im Alltag, im Dialog, im Schutz vor Sanktionen. 

Denn am Ende geht es um Haltung – und Hoffnung. Menschen wie Paata lassen sich nicht entmutigen. „Ich wünsche mir, dass wir nicht der Frustration nachgeben – dass wir zuversichtlich bleiben“, sagt er. 

Wie kann ich auf dem Laufenden bleiben?

  • Civil.ge berichtet ausführlich auf Englisch über die täglichen Proteste. Sie bieten sowohl Fotodokumentationen als auch Analysen und weitere Nachrichten aus Georgien. 
  • OC Media ist ein kaukasusweites Online-Medium, die unter anderem auf Englisch über politische Entwicklungen berichten. Dazu bieten sie auch Literatur-, Musik- und Filmempfehlungen und sowohl tagesaktuelle als auch langfristige Recherchen. 
  • Das Online-Medium Publika hat einen englischsprachigen Instagram-Kanal, indem sie über soziopolitische Entwicklungen berichten und auch die neuesten Entwicklungen bezüglich der Proteste und der Verhaftungen Journalisten und Oppositionspolitikern abbilden. 
  • Caucasus Social Research Center, ein unabhängiger Think Tank aus Tiflis, veröffentlicht Studien etwa zu politischen Meinungen und Mediennutzung. 

  • Redigatur: Minou Becker, Viera Zuborova
  • Grafiken: Viera Zuborova (Vorlage von Ramaz Bluashvili – Pexels)
  • Kommunikation und Social Media: Katharina Roche