Untergetaucht im Villenviertel
Migration hat viele Facetten. Das zeigt die Odyssee der Ana Flores. Vor einer Jugendgang floh sie aus San Salvador nach Berlin. Hier sollte sie einem deutschen Mann zugeführt werden, doch eine Zeugin Jehovas rettete sie. Nun lebt sie unsichtbar in einem Berliner Villenviertel – und hat gute Gründe, keinen Asylantrag zu stellen.
Zuerst verlangen sie montags ihr Geld, dann montags und mittwochs, umgerechnet erst 10, dann 20, dann 50 Euro, so viel wollen sie haben, jedes Mal. So lange, bis sie pleite ist, bis sie ihr Frisörstudio aufgeben muss. Wobei, das Wort Studio passt nicht, eigentlich ist es nur ein Ledersessel vor einem beleuchteten Spiegel, in ihrem kleinen, flachen Haus.
Sie versucht es noch einmal und eröffnet in eben diesem Haus ein kleines Lebensmittelgeschäft, am Rande des Lehmwegs, der in die Hügel führt, in die Hügel der Colonia Alta Vista, einem Randbezirk in San Salvador, der Hauptstadt El Salvadors.
Doch sie kommen wieder. Zuerst wöchentlich, dann täglich, über Jahre.
Wenn Ana Flores kein Geld hat, nehmen die Maras Salz oder Zucker mit, als Grabgaben für die Beerdigungen ihrer erschossenen Brüder. Maras nennen sich die brutalen Gangs in Mittelamerika, die man früher an ihren Gesichtstätowierungen erkannte, die heute so etabliert sind wie die Mafia in Italien. Die Maras machen El Salvador zu einem der Länder mit der höchsten Mordrate der Welt.
Als sie den Laden schließt, setzen die Maras einen culpo, eine Geldstrafe auf sie aus, weil sie glauben, die Pleite sei nur erfunden, um Einnahmen zurückzuhalten. 7500 Dollar. Als sie die nicht zahlen kann, wollen die Maras Ana Flores umbringen. Sie sieht keinen Ausweg mehr. Wenn sie bleibt, schwebt sie in Lebensgefahr. Wenn sie zahlt, verlangen die Maras mit Sicherheit ein paar Monate später noch mehr Geld.
Sie wächst mit ihrem Vater, ihrer Oma und ihren drei Halbgeschwistern auf – ohne ihre Mutter, die ihr immer fehlt. Mit 21 bekommt sie selbst einen Jungen, Nelson, der ohne seinen Vater aufwachsen wird und, wenn sie nicht vor den Maras entkommt, vielleicht auch ohne seine Mutter.
Also versucht sie zu fliehen, versucht mit ihrem Sohn in die USA zu entkommen. Doch der Coyote, der Schlepper, lässt sie auf halber Strecke hinter der guatemaltekischen Grenze zurück, bei Tapachula in Mexiko, weil ihr Sohn hohes Fieber bekommt, weil es, sollte der Junge sterben, zu gefährlich für den Coyote wird. Das Geld, das sie ihm bezahlt hat, 7000 Dollar, mühsam in der Verwandtschaft eingesammelt, ist weg.
Sie und ihr Sohn müssen allein zurück nach Alta Vista. Einen guten Teil der Strecke laufen sie. Das ist ihr erster Fluchtversuch – ihr zweiter soll sie nach Deutschland führen.
Untergetaucht im Villenviertel
Auf dem Mexikoplatz in Berlin-Zehlendorf stehen alte, reich verzierte Laternen. Aus den Villen der Nachbarschaft wachsen Erker im Diamantschliff. Die Hauswände sind mit Fachwerk verziert, die Grundstücke verdeckt von eckigen, hohen Hecken. Vor den Häusern ziehen automatische Rasenmäher ihre Bahnen, an den Toren hängen deutsche Namen in goldene Schilder graviert, vor den Toren gepflegte Mittelklassewagen.
Hier wohnt Ana Flores jetzt. In der kleinen Küche riecht es nach Kaffee und Waschmittel, die weißen, blumenbedruckten Vorhänge lassen die Autos wie durch Nebel vorbeifahren. Luftballons schweben über dem Fußboden, ein Kinderstuhl steht am Esstisch. An der Wand hängen noch die Buchstaben aus Plastik vom Wochenende: Happy Birthday.
Ana Flores ist klein und füllig. Eben ist sie im dunklen Flur über Spielzeug aus Plastik gestiegen und in die Küche geschlichen, die schwarzen Haare noch nass vom Duschen. Jetzt sitzt sie am Küchentisch, ein Taschentuch in der Hand. Sie lächelt, wartet ab und sucht in den deutschen Sätzen ihrer Freundin nach Worten, die sie einordnen kann.
Sie wohnt bei Ayuda Hartmann, die aus Peru stammt, aber schon ewig in Deutschland lebt. Gerade pumpt Hartmann Kohlensäure in eine Wasserflasche und erzählt dabei, in einem rollenden, scharfen Deutsch, von all den Festen, die immer in ihrer Küche stattfinden.
Viele Wege nach Deutschland enden in einer Schattenwelt ohne gültige Papiere. Es soll in Deutschland über 400.000 Menschen geben, die ihre Visa überzogen haben, aus Asylverfahren abtauchen oder die nie offiziell eingereist sind. Die Wege der Migration in einer globalen Welt sind verwickelt — so komplex wie die Motive derer, die diese Wege gehen. So wie im Fall von Ana Flores. Sie heißt in Wirklichkeit anders, auch alle anderen Namen wurden in dieser Geschichte geändert. Aber dieses ist ihre Geschichte, ihre Wahrheit. Sie hat sie uns so erzählt
Die Flucht. Die Beinahe-Vergewaltigung. Die Rettung
Als sie aus Mexiko zurückkommt, versteckt sich Ana Flores in San Salvador vor den Gangs bei einer ihrer Tanten. Bis sich eine Gelegenheit ergibt, erneut zu entkommen. Ein ehemaliger Nachbarsjunge lebt inzwischen in Deutschland, sie schreibt ihm über Facebook und telefoniert mit ihm. Eines Tages stellt er ihr Unterkunft und Arbeit in Berlin in Aussicht. Er lebt in Kreuzberg und ist verheiratet mit einer Kolumbianerin, lange hat er in Spanien gelebt und einen spanischen Pass, bis ihn die Wirtschaftskrise dort vor drei Jahren nach Berlin vertrieb.
Er schlägt vor, ihr das Flugticket vorzustrecken. Sie stimmt zu. Und sie beschließt, ohne ihren Sohn nach Berlin zu fliegen, den will sie nachholen, wenn sie eine eigene Wohnung gefunden und genügend Geld beisammen, um für ihn zu sorgen. Sie reist ein mit einem Touristenvisum.
Knapp zwei Monate verbringt Flores bei Rafael Matta und seiner kolumbianischen Frau in Berlin. Doch nachts muss sie bei einem älteren Deutschen in Kreuzberg schlafen. Das Paar zeigt ihr die Stadt, besonders die Kneipen und Bars, wo sie ihr Männer zeigen, die sie ansprechen soll. Wer als Frau in Deutschland neu anfange, müsse sich anbieten, sagen sie ihr. Und sie solle mit Bernd, dem Deutschen, schlafen. Dann würde ihr Sohn Nelson schneller bei ihr sein.
Die Kolumbianerin war früher mit dem Deutschen, diesem Bernd verheiratet; Flores hat gesehen, wie er der Kolumbianerin Geld gegeben hat, immer wenn die beiden sich sahen. Nun wird ihr klar: Deswegen hat sie das Ticket nach Deutschland bekommen. Sie soll ihm zugeführt werden. Erzählt sie heute, dann findet sie kaum Worte für den Mann, bei dem sie die Nächte verbringen musste. Er war ekelhaft, sagt sie dann. Und eines Nachts versucht er, sie zu vergewaltigen. Danach darf sie zwei Nächte bei Matta schlafen, es sind ihre letzten zwei Nächte in Kreuzberg.
An einem Donnerstagvormittag Ende Juni hört Ana Flores jemanden an Rafael Mattas Wohnungstür in Kreuzberg klopfen. Es ist eine Frau, die Jehova bezeugt und für die Wachturm-Gesellschaft wirbt. Flores ist allein, sie öffnet die Tür und kommt schnell ins Gespräch mit der älteren Peruanerin, die schon lange in Deutschland lebt.
Sie sprechen über die „sieben Apostel“, eine salvadorianische Kirche, der Flores angehört. Dann erzählt sie von dem Deutschen und dem Paar, das an ihr verdienen will. Schließlich packt sie ihre Tasche und darf mit der Zeugin Jehovas mitgehen, in deren Wohnung. Dort lernt sie am Nachmittag Ayuda Hartmann kennen. Ihre Retterin. Zwei Tage später wird Flores zu ihr nach Berlin-Zehlendorf ziehen.
Frisörin in Zehlendorf
Ayuda Hartmann war früher Assistentin für einen südamerikanischen Botschafter in Berlin. Damals hat sie immer wieder Latinos bei sich wohnen lassen. Auch Leute ohne Papiere? Sie nickt. Und das, obwohl sie selbst vier Kinder zuhause hatte. „Ich kann nicht nein sagen“, sagt sie. Auch ihre eigene, alte Mutter hat sie aus Peru geholt, die dann zwei Jahre unsichtbar bei ihr gewohnt hat.
Sie lehnt an der Fensterbank und faltet die rosa Noppensöckchen ihrer Enkelin. Gerade hat sie ihren Nebenjob als Haushaltshilfe verloren, das Geld wird knapp, und ihr zweiter Mann will sie verlassen. „Er fragt, ob ich die Berliner Asylstelle bin.“ Sie hat trotzdem prächtige Laune. Irgendwie geht es ja immer weiter.
Die Haare der ganzen Bekanntschaft von Ayuda Hartmann hat Ana Flores in den vergangenen Wochen geschnitten, Haare, die nicht schnell genug wachsen, um davon zu leben. Ab und zu hat sie eine Putzstelle für drei Stunden, oder sie macht mal Pediküre. Und sie kümmert sich um die Kinder und Enkelkinder in der peruanischen Familie. Dafür bekommt sie ein Zimmer und das Essen, dass sie gemeinsam mit Ayuda Hartmann kocht.
Aber wie soll es nun weitergehen?
Ana Flores schaut durch den weißen Schleier in die Ferne und spricht von ihrem Vater, dem Padron der Familie, einem Wachmann auf Lebensmittelmärkten – ein Beruf, den die Männer in El Salvador nicht lange ausüben: Letztens gab es 25 Tote in einer Woche rund um einen Lebensmittelmarkt in Alta Vista.
Ihr Vater will nicht, dass sie Asyl in Deutschland beantragt und so seine Tochter vielleicht nie wieder sieht. Denn er weiß: Erhält sie Asyl, dann kann sie nicht nach El Salvador zurück, ohne dass ihr Asylschutz verfällt. Ihr Vater erpresse sie, sagt Ana Flores. Er will unbedingt, dass sie zurückkommt. Er wolle ihren Sohn Nelson so lange bei sich behalten, bis sie zurückkehrt. In das Land, in dem sie gejagt wird.
Aber sie möchte in Deutschland leben, und sie will unbedingt, dass Nelson nachkommt. „Ich will meinen Sohn nicht so zurücklassen, wie ich als Kind von meiner Mutter verlassen worden bin“, sagt sie.
Was also tun? Unsichtbar in Berlin leben, bis ihr Vater ihren Sohn nachkommen lässt? Bis sie genug Geld hat, um Nelson zu holen? Oder so lange hier warten, bis die Maras den Todesbann zurückziehen? Wie kann sie den Behörden bei ihrer Ausreise erklären, dass sie ihr Besuchervisum so lange überzogen hat — und verhindern, dass die Beamte eine Einreisesperre in ihren Pass stempeln? Kann sie überhaupt, nachdem sie sich so lange hier versteckt hat, überhaupt noch Asyl beantragen?
So viele Fragen. Die Odyssee der Ana Flores ist noch lange nicht zuende.
Diese Reportage erscheint parallel bei VICE.