Die Flucht des Dolmetschers
Najib und seine Familie haben ihr Leben riskiert, um nach Deutschland zu kommen. Unser Reporter Marcus Bensmann hat ein schlechtes Gewissen. Vor neun Jahren hat Najib in Afghanistan auch für ihn übersetzt. Vor einem Jahr bat ihn Najib um Hilfe, einer Bitte, der Bensmann nur halbherzig entsprach. Vor einigen Wochen erhält er plötzlich einen Anruf aus München. Najib ist da.
Najib hat mich um Hilfe gebeten. Er hat andere um Hilfe gebeten. Niemand hat ihn gehört. Ich nicht, andere nicht. Also ist er am 29. September 2015 mit seiner Frau und seiner dreijährigen Tochter aus Afghanistan aufgebrochen. Sie haben ihr Leben riskiert, um nach Deutschland zu kommen.
Jetzt sitze ich Najib in München gegenüber und höre mir die Geschichte seiner Flucht an. Eine Flucht, für die ich mich mitverantwortlich fühle.
Aber der Reihe nach.
Als ich Najib in Afghanistan das erste Mal gesehen habe, war er 17 Jahre alt und ging aufs College. Wir begegneten uns in einem Teppichladen in der Stadt Masar-e-Sharif. Er hatte ein offenes Lachen und sprach passabel Englisch, ich suchte einen Dolmetscher, er half mir in den kommenden Tagen bei meinen Interviews. Er war geschickt im Verhandeln und dachte mit, schnell bekam ich Gespräche mit dem Imam, den Menschen auf dem Basar, den Warlords der Stadt. Ich wollte damals wissen, welche Auswirkungen der Bundeswehreinsatz in Nordafghanistan für die Bevölkerung hatte. Der Bericht erschien in der „taz“. Das war im Februar 2006. Es sollte meine letzte Reise nach Afghanistan sein. Zuvor war ich seit 1994 regelmäßig dort gewesen, nun aber wurde es es zu gefährlich. Die Taliban und andere Banden machten Jagd auf Journalisten.
Ich vergaß Najib.
Hilferuf per Facebook
Doch vor einem Jahr meldet er sich plötzlich über Facebook bei mir. Er brauche Hilfe, schreibt er. Die Taliban bedrohten ihn, weil er mit Ausländern wie mir zusammengearbeitet habe. Weil er auch Mädchen in Englisch unterrichtet habe. Die internationalen Truppen zögen sich zurück, die Lage werde immer schlimmer. Wir telefonieren über Skype. Ich rate ihm, zum UN-Flüchtlingswerk zu gehen.
Und vergesse Najib erneut.
Die nächste Nachricht bekomme ich im Mai 2015. Najib schreibt, er müsse jetzt Afghanistan verlassen, er werde von den Taliban verfolgt. Bewaffnete hätten das Gehöft der Familie in der afghanischen Stadt Ankhoi gestürmt. Die Kleinstadt liegt unweit der turkmenischen Grenze. Sein Vater sei entführt und getötet worden. Auf dem Leichnam, der vor dem Haus abgelegt wurde, habe sich ein Brief befunden – an ihn gerichtet. Najib hat die Todesdrohung eingescannt und mir gemailt, ein Brief mit dem schwarzen Briefkopf des islamischen Emirats Afghanistans. „Du warst ein Diener und Übersetzer für Ungläubige und Ausländer. Wir werden dich nicht am Leben lassen.“ Ich leite die Mail an „Reporter ohne Grenzen“ weiter. Und denke erneute, ich hätte meine Pflicht getan.
Ich höre nichts mehr von Najib.
Der Schmuck der Frau
Er aber macht sich auf den Weg, zusammen mit seiner Frau Zaujan und seiner dreijährigen Tochter Mogadas. Zuerst nach Kundus, wo von 2001 bis 2013 die Bundeswehr stationiert war – und in zwölf Jahren nichts erreicht hat. Im September stürmen die Taliban die Stadt. Najibs Familie flüchtet weiter nach Kabul. Ein Verwandter von ihnen hat als Wachmann bei der Bundeswehr gearbeitet und durfte nach Deutschland ausreisen. Er ist nun mit seiner Familie in Sicherheit. Auch Najib will nach Deutschland.
Najib hat 3000 Dollar gespart, seine Frau besitzt einiges an Schmuck. Najibs Vater, vor seiner Ermordung Goldschmied, hat ihn ihr zur Hochzeit geschenkt. Sie verkaufen ihn auf dem Basar in Kabul für 3000 US-Dollar. Jetzt haben die beiden 6000 Dollar. Das Kapital für ihre Flucht ist beisammen.
Fliehen – ohne Bargeld
Najib muss in der afghanischen Hauptstadt nicht lange suchen, um den Mann zu finden, der Menschen heimlich in den benachbarten Iran bringt. Der Schlepper unterhält ein Büro. Er verlangt 800 US-Dollar für Najib, 800 Dollar für seine Frau und 400 US-Dollar für seine Tochter. Najib handelt. Ob das Kind nicht umsonst mit dürfe? Der Schlepper geht darauf ein. Er verspricht ihnen, sie seien in drei Tagen im Iran. Sie sollen sich keine Sorgen machen, er bringe jeden Tag Leute über die Grenze. Das sei Routine.
In Afghanistan, wie in der gesamten islamischen Welt, gibt es seit jeher ein ausgeklügeltes informelles Bankensystem, genannt Hawala. Man zahlt Bargeld bei einem Geldverleiher ein und erhält dafür einen Code. Und kann das Geld, das man in Kabul eingezahlt hat, in Teheran, Istanbul oder Berlin abheben. Für heimliche Reisen ist dieses Netzwerk perfekt. Weil es Sicherheit bietet in einer Situation, in der einen alle übers Ohr hauen wollen.
Bei so einem Geldverleiher zahlt Najib 5000 Dollar ein. 1000 Dollar nehmen sie in bar mit. Schon am nächsten Tag geht es los. Najib kauft zwei Flaschen Wasser und ein paar Kekse. Die Reise ist ja kurz, glaubt er.
Eine Woche Hunger
In einem Taxi werden sie zur iranischen Grenze gefahren. Dort, in der Wüste, pfercht man sie zunächst mit 20 weiteren Flüchtlingen in einem fensterlosen Raum ein. Später marschieren sie los, durch Hitze und Staub. So geht es weiter, tagelang. Ein verlassenes Haus, ein langer Fußmarsch, wieder ein Haus. Die Schlepper, die sie begleiten, sind bewaffnet. Sie schlagen die Flüchtlinge, um sie anzutreiben. So geht es über die Grenze zum Iran. Ihr Wasser ist längst aufgebraucht. Tagelang hungern sie. Eine Woche dauert die Etappe am Ende.
Im Iran empfangen zwei cremefarbende Peugeots die Gruppe – ein Dutzend Personen werden in jeden der Wagen verfrachtet. Sechs auf dem Rücksitz, drei im Kofferraum. Wieder ein Zimmer. Wieder kein Essen. Najib isst Blätter. Ein Stück Brot können sie ergattern, das bekommt die Tochter. Bei jedem Haus wechseln die Wächter.
Schließlich erreichen sie die ostiranische Stadt Iranshar. Dort nennt Najib den Schleppern den Code des Geldverleihers. Die Rate für den Grenzübertritt, 1600 Dollar, wird aus der Ferne beglichen. Erst hier können sie sich Essen besorgen.
Weiter nach Teheran, weiter in eine andere heimliche Unterkunft. Dort findet sich ein Mann, ein Afghane mit iranischem Pass, der anbietet, sie in die Türkei zu bringen. Wieder verhandelt Najib über den Preis. Sie einigen sich auf 2000 Dollar. Die Bezahlung soll nach Ankunft in der Türkei erfolgen. Auch dieser Schlepper hat einen Agenten in Kabul. Najibs Hawala-Mann wird das Geld erneut nach dem Erhalt des Codes freigeben.
Die gefährlichste Nacht
Schon am nächsten Morgen werden sie an die türkische Grenze gefahren. Die Wächter wechseln, Afghanen, Kurden, Türken. Sie sagen einen Codenamen und übergeben die Flüchtlinge der nächsten Einheit. Und dann kommt die Nacht, die die schlimmste ist. In der sie nicht mehr können. In der sie fast aufgegeben haben. Es regnet. Es ist kalt. Seit Stunden marschieren sie durch das Niemandsland der türkisch-iranischen Grenze. Najib ist bepackt mit zwei Rucksäcken, an einer Hand zieht er die völlig entkräftete dreijährige Mogadas, an der anderen die erschöpfte Zaujan. Die anderen sind weit voraus. Die Schlepper treiben sie an mit wütenden Flüchen. Najibs Schuhe finden im Schlamm keinen Halt. Er stürzt und fällt. Jedes Mal, wenn er ausrutscht, stürzen auch Frau und Kind hintendrein. Najib wirft die Rucksäcke weg. Ich kann euch nicht beide ziehen!, schreit Najib in die Nacht. Die Tochter Mogadas klammert sich weinend an den lehmverschmierten Beinen des Vaters fest. Zaujan laufen Tränen durchs nasse Gesicht.
Irgendwann nähern sich aus dem Dunkel hinter ihnen drei Männer. Erst gehen sie vorbei. Doch dann haben sie Erbarmen. Sie packen Frau und Kind und schieben sie den Berg hinauf.
Ausgeraubt
Sie kommen auf dem Bergkamm an. Es regnet immer noch in Strömen. Nun geht es zur Grenze. Die Lichter der Wachtposten sind schon zu sehen. Plötzlich sind die Schlepper verschwunden. Und es tauchen Räuber auf, bewaffnete Kerle. Sie trennen die Gruppe, hier die Frauen, dort die Männer. Sie durchsuchen die Flüchtlinge. Bei Najib finden sie 400 Dollar. Er hat sie in seinen Gürtel eingenähnt. Um nicht durchsucht zu werden, gibt Zaujan freiwillig ihre 400 Dollar ab. Und rettet so ihr Iphone und zwei Ringe. Das ist alles, was sie nun noch besitzen. Und den Rest des Hawala-Guthabens, in Kabul.
Die Räuber verschwinden im Dunkel. Die ausgeraubten Flüchtlinge überqueren die Grenze. Dort empfangen die Schlepper sie. Najib ist sich sicher: Die Schlepper stecken mit den Banditen unter eine Decke. Die Flüchtlinge sind nass bis auf die Haut und starren vor Dreck. Zaujans Schuhe sind unterwegs kaputt gegangen. Najib hat ihr seine gegeben. Er ist auf Strümpfen in die Türkei gekommen. Sie sind am Ende ihrer Kräfte. Aber sie leben. In der nächsten Ortschaft telefoniert Najib mit dem Geldverleiher und gibt den Code frei. Die Schlepper erhalten ihr Geld.
Weiter geht es über Ankara nach Istanbul. Dort ist es wieder ein Afghane, der seine Dienste anbietet. Es gibt zwei Routen für die Fahrt übers Meer nach Griechenland. Die kürzere dauert eine Stunde und soll 800 Dollar pro Person kosten. Die längere dauert vier Stunden und kostet 600 Dollar. Najib besitzt noch 1340 Dollar, bei dem Geldverleiher. Er hat keine Wahl: Er muss die lange, viel gefährlichere Überfahrt kaufen.
Überfahrt im Schlauchboot
Sie werden nach Izmir gefahren, ans Mittelmeer. Zaujan fürchtet sich vor der Überfahrt. Wieder müssen sie in einem Haus warten. Die Zimmer stinken, sind voller Unrat und Dreck. An einem Abend ist ein Schlauchboot fertig, doch es platzt beim Aufblasen. Am nächsten Tag das nächste Schlauchboot. Sie geben den Geld-Code frei. Sie müssen ins Wasser steigen, um ins Boot zu klettern. Zaujan weigert sich. Najib sagt ihr, dass die Wächter sie erschießen werden. Vor lauter Angst klettert Zaujan an Bord. Die Schlepper fahren einige Zeit mit. Plötzlich, ohne Ankündigung, springen sie ins Wasser und schwimmen zurück an den Strand.
Die Flüchtlinge sind nun auf sich gestellt. Sie sitzen dicht an dicht. Sie finden einen, der den Motor bedienen kann, und fahren Stunde und Stunde der griechischen Insel Lesbos entgegen. Das Wasser ist ruhig, doch in der Nähe der Insel wird es kabbelig. Wasser schwappt ins Boot, mit Händen schöpfen es die Flüchtlinge zurück ins Meer. Kurz bevor sie den Strand erreichen, kippt das Boot um. Die Flüchtlinge strampeln im Wasser. Najib kann schwimmen. Er hält seine Tochter im Arm. Dann kommen Retter. Sie erreichen den Strand.
Es ist der 14. Oktober 2015. Sie sind in Europa. Die Balkanroute ist nun nur noch ein kurzes Wegstück. Zwei Wochen später ist die Familie in Deutschland.
Am 29. Oktober klingelt mein Handy. Ich gehe ran. „This is Najib“, sagt eine Stimme. „Najib from Afghanistan. Guess where I am? In Munich.“
Ich kann es nicht glauben. Noch am nächsten Tag fahre ich nach München, um ihn zu besuchen und mir seine Geschichte anzuhören.
„Es fühlt sich an, als seien wir auf der Flucht mehrmals gestorben“, sagt Najib. Wir sitzen in einem McDonalds-Restaurant in einem Gewerbegebiet nördlich von München, nicht weit von der Flüchtlingsunterkunft, in der die Familie vorerst untergebracht ist. Neben ihm spielt aufgeweckt seine Mogadas mit einem gelben Luftballon. Zwei Zöpfe stehen ihr vom Kopf wie haarige Hörner. Sie hat einen trotzigen Blick und lacht.
Pommes gegen Heimweh
Zaujan ist immer noch gezeichnet von den Strapazen der Reise. Ihr Gesicht wird eingerahmt von einem schwarzen Kopftuch, sie wirkt müde und blass. „Selbst wenn ich wüsste, dass mich die Taliban töten würde, ich würde diese Reise nicht noch einmal machen“, sagt sie, während sie Pommes isst. Sie liebt Pommes. Frittierte Kartoffeln erinnern sie an Afghanistan. An der rechten Hand schimmern rotgold die beiden Ringe, die sie vor den Räubern retten konnte. Najib ist charmant, das Kind lacht, aber Zaujan wirkt traurig.
Bald muss die Familie in eine andere Unterkunft umziehen. Najib hat von der Ankündigung von Innenminister Thomas de Maizière gehört, dass alle Afghanen zurückkehren sollen. Deutschland habe viel für Afghanistan getan, man müsse aus dem Land nicht fliehen.
Najib hofft, er betet, dass es nicht so kommt.
Der Text erscheint gleichzeitig am Donnerstag, 10. Dezember 2015, in der Print-Ausgabe der „tageszeitung“.