Flucht & Migration

Schakale an der Zwölf-Meilen-Grenze

Unser Reporter Bastian Schlange ist diese Woche im Mittelmeer. Von Malta aus begleitet er die Aufklärungsflüge von Sea-Watch, einer Hilfsorganisation rund um den jungen Deutschen Ruben Neugebauer. Die Lage vor Ort wird immer extremer: Die Schleuser der Flüchtlinge lauern inzwischen an der Zwölf-Meilen-Grenze, um den Flüchtlingsbooten die Motoren abzunehmen.

von Bastian Schlange

Bundeswehr-Soldaten überprüfen das Boot mutmaßlicher „engine fisher“.© Bundeswehr

Vor wenigen Tagen haben mutmaßliche Piraten versucht, ein Schiff von „Ärzte ohne Grenzen“ zu kidnappen. Unser Reporter Bastian Schlange hat die Hintergründe aufgeschrieben.


Man nennt sie „engine fisher“, Motoren-Fischer. Oder auch „Schakale“: Männer in kleinen Fischerbooten, die an der Zwölf-Meilen-Grenze zur libyschen Hoheitszone herumlungern. An Bord ein Alibi-Netz und ein paar Angelschnüre. Nichts, was zur Hochseefischerei taugen würde.

„Man muss kein Taktiker sein, um zu wissen, was da vor sich geht“, sagt Korvettenkapitän Bastian Fischborn, Bundeswehr-Sprecher der EU-Mission Sophia. Häufig reichen die Tankfüllungen der Flüchtlingsboote nur, um eben das libysche Hoheitsgewässer zu verlassen. Dort warten die „Schakale“ wie Aasfresser auf ihre Gelegenheit: Wähnen sie sich in Sicherheit, schlachten sie zurückgelassene Boote aus. Oder montieren gleich die wertvollen Motoren von noch besetzten Booten ab. Um sie einige Tage später mit einer neuen Ladung Menschen wieder aufs Meer zu schicken. Die Flüchtlinge werden hilflos treibend zurückgelassen.

„Um einschreiten zu können, bräuchten wir stichhaltige Beweise, Video-Aufnahmen zum Beispiel“, sagt Fischborn. „Ansonsten sind uns rechtlich die Hände gebunden. Wir haben kein Mandat für fremde Hoheitsgewässer.“ Außerdem tragen Schleuser keine Waffen, wie etwa die Piraten vor Somalia. „Ein Schleuser ist einfach nur ein Typ mit einem Mobiltelefon. Es ist nicht strafbar, mit zwei oder drei Motoren auf einem Boot zu sitzen.“

Die „Schakale“ sind nur die Fußsoldaten in diesem Spiel, die wirklichen Drahtzieher der Schleusernetzwerke verlassen das Festland nicht. Ihr Geschäft ist krisenfest: Sie haben das Geld der Flüchtlinge bereits kassiert, wenn die auf den Booten kauern.

„Die Menschen werden während ihrer Flucht systematisch zu einer Ware degradiert, dehumanisiert“, sagt Fischborn. Liegt die Wüste hinter den Flüchtlingen, werden sie offenbar in sogenannten „Safehouses“ entlang der libyschen Küste untergebracht. Sind Boote da, ist das Meer ruhig, werden die Menschen zur Küste gebracht und Richtung Europa geschickt.

100.000 Flüchtlinge in 6 Monaten

Seit Schließung der Griechenland-Balkan-Route im März diesen Jahres ist das zentrale Mittelmeer zur wichtigsten Flüchtlingsroute nach Europa geworden. Allein im ersten Halbjahr 2016 sind mehr als 100.000 Menschen in Italien angekommen. Die Zahl der Todesfälle entspricht bereits jetzt der des Vorjahres. Libyen als wichtigster Startpunkt der Schleuser ist ein gescheiterter Staat: Drei Regierungen kämpfen um die Vormacht, dazwischen der IS und an die 1000 verschiedene Clans und Milizen mit ständig wechselnden Allianzen. Das Ergebnis sind ein nahezu rechtsfreier Raum, Korruption und Waffengewalt – ein Paradies für Schlepper.

Seit dem vergangenen Jahr versucht Sea-Watch, eine Hilfsorganisation rund um den jungen Deutschen Ruben Neugebauer, die Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu bewahren. Und will nun einen neuen Weg gehen. „Im vergangenen Jahr konnten wir uns noch am Wetter orientieren“, sagt Neugebauer. „Mittlerweile versteht niemand mehr das System, wann die Boote kommen. Man spürt zwar bei guter Wetterlage, dass sich ein Druck aufbaut, wann aber der Erdrutsch eintritt und plötzlich Dutzende Boote auf dem Wasser sind, kann keiner genau vorhersagen.“

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Ruben Neugebauer von Sea-Watch auf einem tunesischen Flugfeld.

Bastian Schlange

Kommt es zum Einsatz und sind Dutzende Boote voll zusammengedrängter Menschen auf dem Wasser, dann steuern die Flüchtlinge, sofern sie noch manövrieren können, die gut sichtbaren Rettungsschiffe an. Es kommt vor, dass sich Trauben kleiner Boote bilden, die ein Helferschiff umringen. Boote ohne Motor können dann im Eifer der Rettung schnell abgetrieben und übersehen werden. „Was uns in diesen Situationen fehlt, sind keine Schiffe. Es ist Übersicht“, sagt Neugebauer.

Darum startet Sea-Watch seit vergangener Woche mit einem Flugzeug vom Helfer-Stützpunkt Malta ins Einsatzgebiet vor der libyschen Küste, um aus der Luft zusätzliche Informationen liefern zu können. Das Ziel: schnellere Hilfe, bessere Koordination, effektivere Einsätze.

Helferkapitäne unter Druck

Auch die Seenotretter stehen unter Druck. Sie sind spendenfinanziert und müssen Ergebnisse und Erfolge liefern, um weiterhin Geld akquirieren zu können. Gerade an ruhigen Tagen, mit wenigen Flüchtlingsbooten, gehen manche Helferkapitäne das Risiko ein, den Flüchtlingsbooten bis an die Zwölfmeilenzone entgegen zu fahren. Von einem Flugzeug aus ließe sich gefahrlos feststellen, ob eine Seenotrettung an diesem Punkt notwendig ist oder nicht.

Laut dem Missing Migrants Projekt der IOM, der Internationalen Organisation für Migration, kommt bei dem Versuch, das Mittelmeer nach Italien zu überqueren, einer von 38 Menschen ums Leben. 2015 war es noch einer von 56. „Die zentrale Mittelmeerroute ist noch tödlicher geworden“, sagt Sabine Schneider, Sprecherin der IOM. „Und die Schlepper agieren immer skrupelloser.“


Unser Reporter Bastian Schlange ist diese Woche auf Malta und begleitet die Seenotretter bei Ihrer Arbeit. Weitere Texte, Videos und Fotos findet Ihr in diesen Tagen aufcorrectiv.org, auf unserer Facebook-Seite und bei Twitter.