Langzeitbeatmung nach Corona: Fachärzte fordern klare Konzepte
Ein Teil der Corona-Kranken wird nach Einschätzung von Fachleuten nicht wieder von der Beatmungsmaschine loskommen. Wo sie unterkommen, ist unklar. Eine Möglichkeit sind Beatmungs-WGs. CORRECTIV hatte jüngst über Missstände in diesen Wohngruppen berichtet. Nun kritisiert Deutschlands größte Fachgesellschaft für Lungenerkrankungen, dass klare Konzepte für Langzeitbeatmete fehlen.
Michael Pfeifer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), drängt auf eine schnelle Regulierung des Übergangs von beatmeten Patientinnen und Patienten aus Krankenhäusern in die ambulante Versorgung. „Das Thema wird jetzt in der Post-Covid-Phase relevant“, sagt er. „Es fehlt es an definitiven Konzepten für die Patienten, sie zu entwöhnen. Das wird uns jetzt weiter beschäftigen.“
Wie viele Menschen in Folge einer Corona-Erkrankung langfristig beatmet werden müssen, weiß niemand. Laut der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gab es bisher rund 106.000 Behandlungsfälle mit Corona auf den Intensivstationen. Etwa die Hälfte muss nach DIVI-Angaben beatmet werden – also rund 50.000. Studien zufolge kommen gut drei von vier Corona-Patientinnen innerhalb von drei Wochen wieder von den Geräten los. Es gibt allerdings keine Erfassung, was aus den übrigen wird.
In vielen Fällen werden langzeitbeatmete Patienten in sogenannten Beatmungs-WGs versorgt. Bevor Betroffene aus den Krankenhäusern in solche ambulanten Pflegeeinrichtungen verlegt werden, sei derzeit nicht sichergestellt, dass das deren Entwöhnungspotenzial geprüft werde, sagt Pfeifer, Professor an der Universität Regensburg und renommierter Spezialist für Beatmungsmedizin. Er hält diesen Zustand für unhaltbar. Gerade bei Corona-Erkrankten zeige die Erfahrung, dass diese relativ gut wieder selbstständig atmen können – wenn sie dahingehend behandelt werden.
Zwar trat im Herbst 2020 ein neues Intensivpflegegesetz in Kraft, das strengere Kontrollen und Qualitätsstandards für sogenannte Beatmungs-WGs vorsieht. Demnach muss künftig auch frühzeitig geprüft werden, ob der Patient oder die Patientin die maschinelle Beatmung langfristig braucht. Allerdings gibt es einen dreijährigen Übergangszeitraum. Das bedeutet, dass die meisten der Neuregelungen erst ab Ende Oktober 2023 greifen.
„Der Patient wird entlassen und verschwindet aus der Versorgungssituation durch entsprechende Experten“, sagte der Beatmungsmediziner Pfeifer auf einer Pressekonferenz zu einem Kongress der Pneumologinnen in dieser Woche. „Es ist uns im Moment nicht möglich, als Spezialisten diese Patienten weiter zu sehen.“
Der Pneumologen-Gesellschaft geht von bis zu 80.000 Fällen aus
Die Zahl der Beatmungs-WGs ist in den vergangenen Jahren explodiert. Manche Fachleute gehen von rund 30.000 ambulant versorgten Beatmungspatienten aus. Die Fachgesellschaft für Lungenerkrankungen DGP schätzt diese Zahl sogar auf bis zu 80.000. CORRECTIV und Frontal21 hatten Mitte Mai über Fehlversorgungen, Mängel und unzureichende Kontrollen in Beatmungs-WGs berichtet.
In Beatmungs-WGs versorgt ein Intensivpflegedienst oft bis zu zwölf Patientinnen und Patienten. Pro Fall können die Anbieter bei den Krankenkassen jeden Monat fünfstellige Beträge abrechnen. Die fehlende gesetzliche Regulierung begünstigt vor allem Anbieter, denen es mehr um die Rendite geht als um das Wohl der Patienten. Die Recherchen von CORRECTIV und Frontal 21 deuten darauf hin, dass die Versorgung mit Atemwegskanülen oder maschineller Beatmung in manchen Fällen sogar absichtlich in die Länge gezogen wird, um die Renditemöglichkeiten maximal auszuschöpfen.
Die häusliche Beatmung zählt in diesem Jahr zu den Themen des Pneumologen-Kongresses. In einer Pressemeldung nahm die Fachgesellschaft bei der Ankündigung Bezug auf „Berichte über zweifelhafte Methoden in einigen Wohngruppen für Langzeitbeatmete“. Die DPG geht davon aus, dass jeder zweite Patient in den Beatmungs-WGs entweder ganz ohne Beatmung oder nur mit nicht-invasiver Beatmung über eine Maske leben könnte.
Linke fordert Beschwerdestelle
Pia Zimmermann, pflegepolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Bundestag, fordert ein strengeres Durchgreifen gegen fragwürdige Anbieter. Die Missstände, von denen CORRECTIV und Frontal 21 berichteten, seien nicht nur Folge von Regulierungslücken, „sondern in der Marktausrichtung der Gesundheitsversorgung insgesamt“, sagt sie. Die Abgeordnete plädiert dafür, WG-Einrichtungen regelmäßig bei Auffälligkeiten monatlich zu kontrollieren – auch unangemeldet. „Um alte und wehrlose Menschen zu schützen, ist das Instrument der Patientenverfügung zu stärken“, sagt sie. „Im konkreten Fall braucht es eine unabhängige Beschwerdestelle, die verpflichtet ist, jedem Hinweis nachzugehen.“
CORRECTIV hat auch die pflegepolitischen Sprecherinnen und Sprecher von Grünen, FDP, CDU und SPD angefragt, aber nur von den Linken Antworten erhalten. Auf Landesebene kam von den Fachpolitikern ebenfalls wenig Kritik an dem Geschäftsmodell. Beide der von CORRECTIV und Frontal 21 recherchierten Fälle kamen aus Nordrhein-Westfalen.
Auch hier positioniert sich vor allem die Linke deutlich: „Die Politik hat die Marschroute vorgegeben: Ambulant vor stationär – ohne sicher zu stellen, dass die Patientinnen und Patienten dort gut versorgt werden können“, sagt Britta Pietsch, gesundheitspolitische Sprecherin der Linken in NRW und Bundestagskandidatin. Pietsch ist examinierte Krankenschwester und hat selbst in einer Beatmungs-WG gearbeitet. Die derzeitigen Kontrollen reichten nicht aus, um Missstände festzustellen: „Die Prüfkriterien müssen geändert werden, weil sie so den Patienten nicht schützen“, sagt sie. „Es wäre wichtig zu prüfen, ob überhaupt genug Personal da ist, um die Leistungen zu erbringen, die gefordert und dokumentiert werden. Im Moment sehe ich das nicht.“
Das Landesministerium weiß nichts von Defiziten
Das Landesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) in NRW sieht keinen Handlungsbedarf: „Dem MAGS sind aktuell keine konkreten Erkenntnisse bekannt, dass es derzeit zu Defiziten in der Intensivpflege gekommen ist“, teilt eine Sprecherin mit und verweist auf die Verschärfungen, wie sie das Intensivpflegegesetz vorsieht. Auch Peter Preuß, CDU-Landtagsabgeordneter und Sprecher für Gesundheit, beruft sich auf die Neuregelungen: „Das neue Gesetz soll die wirtschaftliche Ausnutzung von Beatmungspatienten verhindern. Gelingt dies noch nicht, muss nachgeschärft werden.“
Die FDP-Abgeordnete und Gesundheitsexpertin Susanne Schneider geht von Einzelfällen statt von strukturellen Missständen aus. Es gebe unter den rund 1000 spezialisierten Intensivpflegediensten „schwarze Schafe“, teilt sie mit. „Wenn Missstände offensichtlich werden, dann müssen Politik und Aufsichtsbehörden auch eingreifen.“ Auf welche Weise, sagt sie nicht. Der Gesetzgeber, schreibt sie, bewege sich bei der Regulierung in einem Spannungsfeld, einerseits die Fehlanreize zu beseitigen und andererseits das Selbstbestimmungsrecht von behinderten Menschen nicht einzuschränken.
Tatsächlich sind Beatmungspatientinnen und -patienten eine heterogene Gruppe: Einerseits leben in den Beatmungs-WGs vor allem Alte und Schwerstkranke, die zum Teil nicht mehr für sich entscheiden können. Andererseits sind auch behinderte Menschen mit neuro-muskulären Erkrankungen zwar auf Beatmung angewiesen, können aber sonst oft noch selbstbestimmt leben und auch studieren oder arbeiten. Viele von ihnen befürchten, dass sie in Folge des neuen Gesetzes in Heime gedrängt werden. Auch sie werden von Intensivpflegediensten versorgt – in aller Regel aber nicht in WGs, sondern in einer Eins-zu-eins-Betreuung im eigenen Zuhause.