Europa

Libysche Küstenwache feuert auf private Seenotretter – offenbar von einem aus EU-Mitteln finanzierten Boot

Die libysche Küstenwache ist für ihr brutales Vorgehen gegen Boote der privaten Seenotrettung bekannt. Am Wochenende aber hat sie nun offenbar ein Rettungsschiff mit scharfer Munition beschossen. Das Einsatzboot dafür scheint sie mit EU-Unterstützung aus Italien bekommen zu haben, wie unsere Recherche zeigt.

von Jean Peters

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Foto: Max Cavallari_SOS MEDITERRANEE

Am Sonntagnachmittag, dem 24. August, hat die sogenannte libysche Küstenwache das Rettungsschiff Ocean Viking „20 Minuten ununterbrochen“ mit scharfer Munition beschossen. Das berichtet die Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée. Bilder, die CORRECTIV vorliegen, belegen, dass es sich bei dem beteiligten Schiff aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Corrubia-Klasse-Boot handelt. Das Boot wurde wohl von Italien zur Verfügung gestellt und ursprünglich aus EU-Mitteln finanziert. Sowohl die italienische Regierung als auch die EU-Grenzunterstützungsmission in Libyen (EUBAM Libya) reagierten bis Redaktionsschluss nicht auf Anfrage. Das Auswärtige Amt schreibt auf Anfrage, „zur Identität der mutmaßlich beteiligten Einheiten der libyschen Küstenwache liegen uns keine eigenen Erkenntnisse vor“. Sie würden die libyschen staatlichen Akteure aber immer wieder ermahnen, sich menschenwürdig zu verhalten.

Schüsse auf Boot mit mindestens 87 Menschen an Bord

„Die Ocean Viking stand unter dem intensiven Feuer der libyschen Küstenwache: ein gezielter und beispielloser Angriff auf Überlebende und humanitäre Helfer, ermöglicht durch die Komplizenschaft Europas“, heißt es in einer Mitteilung der Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée. Die NGO spricht von einem „gezielten Angriff auf unsere Crew und unsere Rettungskapazitäten“, bei dem niemand verletzt wurde, aber die Brücke, Antennen und Rettungsboote beschädigt worden seien. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich laut Seenotretter abgesehen von der Crew 87 Überlebende an Bord, die zuvor in zwei Einsätzen aufgenommen worden waren.

Nach Angaben des Sea-Watch-Sprechers Paul Wagner ereignete sich der Vorfall am 24. August um 13:03 UTC in internationalen Gewässern, etwa 40 Seemeilen nördlich der libyschen Küste. Bereits zuvor habe ein Aufklärungsflugzeug der NGO Sea-Watch um 11:55 UTC ein Corrubia-Klasse-Boot rund 30 Seemeilen südöstlich der späteren Schussposition gesichtet, das zu diesem Zeitpunkt nordwärts unterwegs gewesen sein soll.

Bild vom Aufklärungsflugzeug Seabird 3, kurz vor dem Angriff. Foto: Geraldine Morat Hofmaier/Sea-Watch

Die Ocean Viking war laut SOS Méditerranée vom italienischen Koordinationszentrum angewiesen worden, den zugewiesenen Hafen vorübergehend nicht anzulaufen, sondern nach einem weiteren Seenotfall Ausschau zu halten. Sie fuhren in Richtung des von Sea-Watch aus der Luft gemeldeten Bootes, das in Seenot geraten war. Während dieser Operation sei das Schiff von einer libyschen Patrouille abgefangen worden. Zunächst habe man die Anweisung erhalten, den Einsatz abzubrechen und nach Norden abzudrehen. Obwohl die Crew der Anweisung nachgekommen sei, eröffneten zwei Männer an Bord der Patrouille ohne Vorwarnung das Feuer, so die Aussagen der Rettungsorganisation. Die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar.

Das Boot der Angreifer stammt offenbar aus einer EU-Förderung

Die Angreifer nutzten ein Patrouillenboot der sogenannten Corrubia-Klasse. Vier dieser Boote wurden ursprünglich für die italienische Guardia di Finanza gebaut und in den Jahren 2018 und 2023 schrittweise an Libyen übergeben. Zunächst handelte es sich um eine rein nationale Initiative Italiens: Mit Dekret 84/2018 übergab Rom im Oktober 2018 zwei Corrubia-Einheiten – die später als Fezzan (PB 658) und Ubari (PB 660) bekannt wurden – an die libysche Küstenwache. Im Sommer 2023 folgte eine zweite Übergabe: Italien stellte im Rahmen des von der EU finanzierten Programms „Support for Integrated Border and Migration Management in Libya“ (SIBMMIL) zwei weitere Corrubia-Boote bereit, die fortan unter den Namen Murzuq (PB 662) und Houn (PB 664) operieren. Das Programm ist mit rund 59 Millionen Euro aus EU-Mitteln ausgestattet, die praktische Umsetzung erfolgt über das italienische Innenministerium. Laut einer Studie von 2018 der Stiftung Wissenschaft und Politik war Deutschland der stärkste Geldgeber des „Emergency Trust Fund for Africa“ Programms, aus dem SIBMMIL finanziert wird.

Damit verfügt die sogenannte libysche Küstenwache heute über vier Einheiten dieser Klasse, die sich jeweils in Aufbau und Ausrüstung leicht unterscheiden. Nach Bildauswertungen handelt es sich im aktuellen Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit um das Boot Houn (PB 664). Das war zuletzt laut Sea-Watch-Sprecher Paul Wagner am 8. Juni 2025 durch das Aufklärungsflugzeug Seabird 1 der NGO Sea-Watch im zentralen Mittelmeer dokumentiert worden, wo es „nach einem brutalen Abfangen Geflüchtete illegal nach Libyen zurückbrachte.“

Zentrales Mittelmeer, 8. Juni 2025. Laut Sea-Watch die „Houn“, Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache. Besonderes Merkmal: die weiße Plane. Das Bild wurde vom Aufklärungsflugzeug Seabird 1 gemacht. Foto: Sea-Watch
Dieses Foto stammt von der Ocean Viking, am 24. August. Zu sehen ist das Boot, von dem aus geschossen wurde. Die weiße Plane und das Schiffsmodell deuten auf die „Houn“ hin. Foto: Max Cavallari/SOS MEDITERRANEE

Die Aufnahmen vom jüngsten Angriff auf die Ocean Viking zeigen ein Boot mit denselben äußeren Merkmalen. Zwar ist die Erkennungsnummer auf den aktuellen Bildern nicht eindeutig auszumachen, doch sprechen Größe, Bauweise und Details der Ausrüstung gegen die drei anderen Corrubia-Einheiten. Auch Sea-Watch-Sprecher Paul Wagner erklärte, dass nach derzeitiger Einschätzung „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ die Houn beteiligt war, die im Rahmen des EU-Projekts übergeben wurde. Ein endgültiger Abgleich steht noch aus.

Im Juli 2023 schoss die libysche Küstenwache ins Wasser 

Unstrittig ist, dass sämtliche Corrubia-Boote aus italienischer Produktion stammen und von Italien – teils national, teils mit EU-Unterstützung – an Libyen übergeben wurden. Bereits im Juli 2023 war es zu einem ähnlichen Vorfall gekommen, bei dem ein Corrubia-Boot während einer Rettungsmission der Ocean Viking in die Nähe der Schlauchboote schoss.

SOS Méditerranée wirft der EU und Italien vor, durch die Ausstattung der libyschen Küstenwache solche Angriffe überhaupt erst möglich gemacht zu haben. „Wir fordern eine sofortige Beendigung jeder europäischen Zusammenarbeit mit Libyen. Ein Akteur, der in internationalen Gewässern illegale Ansprüche erhebt, Seenotrettungen bewusst behindert und unbewaffnete humanitäre Helfer sowie gerettete Menschen ins Visier nimmt, kann nicht als zuständige Autorität betrachtet werden“, erklärte die Direktorin von SOS Méditerranée Italien, Valeria Taurino. „Wir können nicht akzeptieren, dass eine international anerkannte Küstenwache illegale Angriffe verübt. Wir fordern außerdem das Ende der Kriminalisierung von Rettungseinsätzen, da diese Haltung den Nährboden für derart gewaltsame Angriffe schafft.“

Transparenzhinweis: Der Autor hat 2018 das Bündnis „Seebrücke“ mitinitiiert, was sich gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung einsetzt. Seit 2019 ist er dort nicht mehr aktiv.

Redigatur und Faktencheck: Sebastian Haupt