So viel kostet die Luftverschmutzung Deutschland

Die deutsche Industrie ist die dreckigste Europas. Konzerne wie RWE oder Thyssenkrupp verschmutzen die Luft – mit massiven Folgen für Gesundheit, Klima und die deutsche Wirtschaft.

Die deutsche Industrie ist die dreckigste Europas. Konzerne wie RWE oder Thyssenkrupp verschmutzen die Luft – mit massiven Folgen für Gesundheit, Klima und die deutsche Wirtschaft.

12. Oktober 2023

Die deutsche Industrie ist eine der größten in Europa und so dreckig wie keine andere. Massive Luftverschmutzung belastet ganze Regionen in Deutschland. Schadstoffe wie das klimaschädliche CO2 oder Schwefeldioxid, das seinen Weg in Atemwege und die Umwelt findet. Fürs bloße Auge unsichtbar und doch schädlich. Gifte, die bei der Chemieproduktion, dem Verbrennen von Kohle oder dem Schmelzen von Stahl durch Tausende von Schornsteinen gejagt werden. 

Wie gravierend die Folgen dieser Verschmutzung für ganz Deutschland tatsächlich sind, macht CORRECTIV nun erstmals mit konkreten Zahlen sichtbar. Grundlage dieser Recherche sind Daten der Europäischen Umweltagentur (EUA), die mehr als 26.000 Industriestandorte in ganz Europa umfassen. Gemeinsam mit CORRECTIV.Europe und mehreren lokalen Partnern in Deutschland, Italien, Polen und Ungarn hat CORRECTIV diese Daten über mehrere Monate hinweg ausgewertet. 

Luftverschmutzung: Deutsche Wirtschaft verlor 2017 rund 60 Milliarden

Für Deutschland sind die Ergebnisse eindeutig: Laut den Berechnungen der EUA verursachen Konzerne wie RWE, BASF oder Thyssenkrupp Schäden in Milliardenhöhe. Allein im Jahr 2017 verlor die deutsche Wirtschaft rund 60 Milliarden Euro infolge von vorzeitigen Todesfällen, Umweltverschmutzung oder Belastungen des Gesundheitssystems. Und das, obwohl die EU und auch Deutschland die industriellen Schadstoffemissionen seit Jahren schrittweise reduzieren. 

In Deutschland werden die Grenzwerte für Schadstoffe aus Industrie, Verkehr oder Landwirtschaft zwar eingehalten, doch laut EUA sind die Emissionen noch immer zu hoch und „die Luftqualität bleibt in vielen Gebieten schlecht“. Die Folgen: Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Asthma. Und auch Wälder, Gewässer und Böden werden massiv geschädigt.

Methode der Analyse

Die Daten stammen aus dem Europäischen Schadstofffreisetzungs- und -übertragungsregister (E-PRTR). Das E-PRTR wird jährlich aktualisiert und enthält 91 Hauptschadstoffe. Nach Expertinnengesprächen und der Durchsicht verschiedener wissenschaftlicher Studien sowie der EU-Gesetzgebung haben wir uns entschieden, uns auf folgende Schadstoffe zu fokussieren:

Wichtigste Luftschadstoffe
PM10
Ammoniak (NH3)
Stickoxide (NOX)
Schwefeloxide (SOX)
Flüchtige organische Verbindungen ohne Methan (NMVOC)

Treibhausgase
Kohlendioxid (CO2)
Methan (CH4)
Lachgas (N2O)

Luftschadstoffe haben bestimmte Schwellenwerte. Ab diesem Grenzwert muss eine Anlage ihre Emissionen an die Europäische Union melden. Liegt eine Anlage unter diesem Grenzwert, muss sie die Emissionen nicht melden und taucht nicht in den Daten auf.

Dafür sind in Deutschland vor allem die großen Energie- und Bergbauriesen verantwortlich: Allein die Folgekosten von Emissionen im Energiesektor belaufen sich in 2017 auf 36 Milliarden Euro. Rund ein Drittel gehen alleine auf das Konto der RWE-Kraftwerke und -Anlagen. Zwischen 2007 und 2021 haben die 31 Anlagen von RWE, die in der EUA-Datenbank gelistet sind, fast 1,4 Milliarden Tonnen klimaschädliches CO2 ausgestoßen. Damit ist RWE der größte CO2-Emittent Deutschlands. Zum Vergleich: 1.000 Tonnen C02 entsprechen mehr als 7.600 Flügen zwischen München und Berlin.

Schaut man auf ganz Europa, wird der Einfluss von RWE auf die Luftqualität noch deutlicher: Zwischen 2007 und 2021 hat kein anderer industrieller Konzern so viele Emissionen in Europa ausgestoßen wie RWE. Auch andere Energieriesen wie Vattenfall oder der polnische Energiekonzern PGE gehören zu Europas größten industriellen Luftverschmutzern – und zu denen mit den höchsten Folgekosten.

Kinder und Schwangere sind besonders gefährdet

Das liegt nicht nur an dem CO2-Ausstoß: Bei der Verbrennung von Kohle entstehen außerdem Feinstaub, Schwefel- und Stickstoffoxide, die ebenfalls ihren Weg in die Luft finden.

Schadstoffe, die gerade in dieser Mischung für den Menschen gefährlich seien, sagt Dorothea Baltruks, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Centre for Planetary Health Policy (CPHP) in Berlin. „Feinstaub kann tief in die Lunge eindringen und ebenso wie Stickstoffdioxidbelastung zu Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen führen.“ Diese Emissionen schaden besonders den Menschen, die nah an großen Straßen oder industriellen Anlagen wie Kohlekraftwerken leben, so Baltruks gegenüber CORRECTIV: „Gerade für Kinder, Schwangere und Menschen mit Vorerkrankungen ist das gefährlich.” 

Auf CORRECTIV-Anfrage teilte RWE mit, dass die Kraftwerke des Konzerns „nach den Bestimmungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes" genehmigt worden seien. „Mit Blick auf den Gesundheitsschutz für den Menschen.” Unter Einhaltung der gesetzlich erlaubten Emissionen. Dies sei aufgrund automatischer Datenübertragung „jederzeit und lückenlos überprüfbar“.

Eine Sprecherin des Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministeriums sagte gegenüber CORRECTIV, dass die Bundesregierung die Luftbelastung weiter reduzieren wolle, um „die menschliche Gesundheit und die Umwelt nachhaltig zu schützen“. Auf die Frage, inwieweit Konzerne wie RWE die Kosten für die Folgen industrieller Luftverschmutzung übernehmen sollten, antwortete das Verbraucherschutzministerium bis zum Redaktionsschluss nicht. 

Besonders betroffen von Luftverschmutzung ist NRW

Doch nicht alle Regionen in Deutschland sind gleichermaßen von Luftverschmutzung betroffen. Vor allem die großen Industriestandorte verzeichnen hohe Emissionsausstöße, etwa das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen oder die Lausitz, wo der ostdeutsche Energie- und Bergbaukonzern Leag mehrere Kohlekraftwerke betreibt. Von den 30 schmutzigsten Industrieanlagen Deutschlands liegen 14 in Nordrhein-Westfalen – also fast jede zweite. Darunter finden sich neben RWE-Anlagen auch Standorte des Stahlriesen Thyssenkrupp, Kohleraftwerke des Energieunternehmens Uniper und eine Erdölraffinerie des globalen Ölkonzerns BP.

Allein diese 30 Anlagen haben zwischen 2007 und 2021 mehr als die Hälfte des gesamten industriellen CO2-Ausstoßes in Deutschland produziert.  


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Die analysierten Schadstoffe und ihre Folgen
Feinstaub (PM10)
Kaum ein anderer Schadstoff ist so gefährlich für die menschliche Gesundheit wie Feinstaub. Er dringt in empfindliche Bereiche des Atmungssystems ein, verschlimmert Atemwegserkrankungen wie Asthma und trägt zu einer erhöhten Prävalenz und Inzidenz anderer Herz-Kreislauf-Erkrankungen und vorzeitiger Sterblichkeit bei. Kleinere Feinstaubpartikel gelten als besonders schädlich, da sie tiefer in die Lungen eindringen können. Auf globaler Ebene tragen Feinstaubpartikel außerdem zum Klimawandel bei.
Ammoniak (NH3)
Bei hoher Konzentration (z. B. aus der Zersetzung von Gülle) kann Ammoniak Pflanzen schädigen. Noch weitaus gefährlicher für die Natur wird es, wenn Ammoniak in Seen oder Flüsse gelangt, da es für Lebewesen im Wasser sehr giftig ist. Die Freisetzung von Ammoniak in die Umwelt kann dazu führen, dass Ökosysteme versauern und Gewässer umkippen. Ammoniak in der Luft trägt auch zur Bildung von Feinstaub bei, der die menschliche Gesundheit schädigen kann.
Stickstoffoxide (NOx)
Von allen Stichstoffoxiden (NOx) wird vor allem Stickstoffdioxid NOx mit Gesundheitsschäden in Verbindung gebracht. In hohen Konzentrationen kann das Gas eine Entzündung der Atemwege verursachen. NOx trägt auch zur Bildung von schädlichem Feinstaub und bodennahem Ozon in der Atmosphäre bei.
Schwefeloxide (SOx)
Eine Belastung mit Schwefeloxid (SOx) kann empfindliche Personen schädigen. Schwefeldioxid (SOx) kann eine Versauerung von Böden und Gewässern bewirken, einschließlich nachteiliger Auswirkungen auf Ökosysteme in Flüssen und Seen sowie Schäden an Wäldern.
Flüchtige organische Verbindungen ohne Methan (NMVOCs)
Viele NMVOCs reagieren mit anderen Luftschadstoffen und bilden bodennahes Ozon (O3), einen wichtigen Schadstoff auf lokaler und globaler Ebene. Erhöhte Ozonwerte können Gesundheitsprobleme der Atemwege verursachen und zu vorzeitiger Sterblichkeit führen. Hohe Ozonwerte schädigen auch Pflanzen, verringern die Ernteerträge in der Landwirtschaft und das Wachstum der Wälder.
Kohlendioxid (CO2)
Problematisch ist Kohlendioxid vor allem als Treibhausgas in Bezug auf den Klimawandel. In vielen Industrieländern kontrolliert das Kyoto-Protokoll der Vereinten Nationen die Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen.
Methan (CH4)
Das Treibhausgas Methan entsteht sowohl auf natürliche Weise als auch bei menschlichen Aktivitäten. Letztere haben dazu geführt, dass sich die Methankonzentration in der Atmosphäre im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter mehr als verdoppelt hat. In absoluten Zahlen wird zwar weniger Methan als CO2 in die Umwelt freigesetzt. Allerdings ist dessen globales Erwärmungspotenzial über einen Zeitraum von 100 Jahren 25 Mal höher als das von Kohlendioxid. Als flüchtige organische Verbindung (VOC) trägt Methan global zur Bildung von bodennahem Ozon bei, das die menschliche Gesundheit und Pflanzen schädigen kann. Methangas, das sich auf Mülldeponien bildet, stellt außerdem eine Explosionsgefahr dar.

Neben industriellen Anlagen treiben auch Agrarbetriebe die jährlichen Emissionen in die Höhe. Der größte Verschmutzer in der Landwirtschaft ist laut der EUA-Datenbank die Tierhaltung, in der vor allem der Schadstoff Ammoniak produziert wird. Europaweit gehen 94 Prozent aller Ammoniak-Emissionen auf die Landwirtschaft zurück. 

Während die Emissionen anderer Schadstoffe in den vergangenen Jahren zurückgegangen sind, bleiben die Ausstöße bei Ammoniak stabil: Deutschland war 2021 nach Frankreich der größte Emittent von Ammoniak. Ein Schadstoff, der aus Kot und Urin von Tieren entsteht, der Luft und Böden verschmutzt und das Grundwasser mit Nitrat belastet. 

Laut den Vorgaben der europäischen „Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen“ muss die EU die jährlichen Ammoniak-Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 2005 um fast die Hälfte senken. Um diese Vorgabe zu erreichen, muss Deutschland seine Ammoniak-Emissionen bis 2030 um 29 Prozent senken. Das könnte schwierig werden: „Diese Verpflichtung wird Deutschland ohne weitere Maßnahmen voraussichtlich nicht erreichen“, sagt Andreas Eisold, Mitarbeiter des Umweltbundesamts in der Abteilung Luft, gegenüber CORRECTIV. Nötig seien daher „emissionsarme, tiergerechte Stallsysteme“ oder ein effizienteres Düngen auf den Äckern. 

Jedes Jahr sterben mehr als 43.000 Menschen an Folgen von Luftverschmutzung

Künftig wird Deutschland wohl mehr für seine Luftqualität tun müssen. Im Jahr 2021 aktualisierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre Empfehlungen für die Luftqualität. Daraufhin formulierte die EU-Kommission eine Reform der geltenden EU-Luftqualitätsrichtlinie. Diese wurde Mitte September vom EU-Parlament angenommen. Im nächste Schritt muss der Vorschlag noch durch den Europäischen Rat.

„Die aktuellen Grenzwerte gelten seit bald 20 Jahren und sind wissenschaftlich veraltet“, sagt Dorothea Baltruks. Die Forscherin begrüßt die geplante Reform der EU: „In Deutschland wird immer vermeldet, dass wir die meisten Grenzwerte einhalten. Trotzdem sterben jedes Jahr 43.500 Menschen an den Folgen Luftverschmutzung durch Feinstaub, Stickstoffdioxid und Ozon.“ Es sei daher dringend an der Zeit, dass mehr für den Schutz der Luftqualität getan werde.

„2019 starben noch immer über 300.000 Europäerinnen und Europäer vorzeitig an Luftverschmutzung.“

Auch Tiemo Wölken, Koordinator der sozialdemokratischen S&D-Fraktion für Umweltpolitik im EU-Parlament, fordert mehr Luftsauberkeit: „2019 starben noch immer über 300.000 Europäerinnen und Europäer vorzeitig an Luftverschmutzung.“ Es brauche daher ein „ambitioniertes Gesetz“, das eine Ahnung von Verstößen möglich mache. Nur so könnten künftig Schäden verhindert werden, sagte Wölken gegenüber CORRECTIV. 

Aus dem Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerium heißt es dazu: „Deutschland begrüßt den Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Novellierung der Luftqualitätsrichtlinie“. So sei nach Einschätzungen der EU-Kommission davon auszugehen, dass eine Verbesserung der Luftqualität nicht nur „gesundheitliche, sondern auch wirtschaftliche Vorteile“ mit sich bringe. 

In ihrem Entwurf schlägt die EU-Kommission schärfere Grenzwerte vor, die sich stärker an den WHO-Richtwerten von 2021 orientieren. In diesem Fall müsste Deutschland sich anstrengen, um die EU-Richtlinien in Zukunft einhalten zu können: Laut Andreas Eisold vom Umweltbundesamt sei Deutschland zumindest in Bezug auf die Stickstoffoxide „auf einem guten Weg“. Bei Feinstaub seien dagegen noch „zusätzliche Anstrengungen“ nötig.



Recherche: Olaya Argüeso Pérez, Sophia Stahl, Gesa Steeger Text: Gesa Steeger Redaktion: Olaya Argüeso Pérez Redigatur und Faktencheck: Gabriela Keller Datenaufbereitung & Grafiken: Kajsa Rosenblad, Max Donheiser Kommunikation: Valentin Zick