Mafia

Zur Hälfte Kind

Das Jugendgericht von Reggio Calabria entzieht per Urteil gefährdete Kinder ihren Mafia-Familien. Das Programm "Liberi di scegliere" (Deutsch: "Frei zu wählen") ist umstritten. Die Journalistin Angela Iantosca hat Jugendliche getroffen, die bei Gastfamilien oder -einrichtungen untergekommen sind. Ihr Buch "Bambini a metà" ("Zur Hälfte Kind") ist im Februar erschienen. Ein Gespräch über Ndrangheta-Strukturen und geraubte Kindheit.

von Margherita Bettoni

Oft beobachtet man: Vater Zahnarzt, Sohn Zahnarzt. Gilt das auch für ´Ndrangheta-Kinder — Vater Mafioso, Sohn Mafioso?

Jeder verfügt über den freien Willen. Die familiäre Struktur der ´Ndrangheta-Clans beschränkt aber diese Freiheit. In Kalabrien fängt die Mafia-Ausbildung oft schon in der Kindheit an. Antonio Zagari, ein Kronzeuge, der bei einem ungeklärten Verkehrsunfall starb, beschreibt in seinem Buch „Ammazzare stanca“ einen besonderen Ritus. Als er ein Baby war, legte sein Vater einen Schlüssel und ein Messer in seine Wiege. Der Schlüssel stand für die Bullen, das Messer für die organisierte Kriminalität. Das erste Objekt, das das Baby greifen würde, würde sein Schicksal bestimmen. Sein Vater hatte ihm das Messer näher gelegt, um seine Wahl zu beeinflussen. Die Bosse bestimmen die Zukunft ihrer Kinder schon sehr früh.

Sie haben diese Kinder schon im Titel ihres Buches „Bambini a metà“ genannt, „Zur Hälfte Kinder“. Wieso?

Weil sie nicht frei sind, ihre Kindheit zu erleben. Ich hatte diese Idee in Scampia, als ich noch über die Camorra schrieb. Ich war in den Vele, den Wohnblöcken, die man von Roberto Savianos „Gomorrha“ kennt. Davide Cerullo, ein ehemaliges Straßenkind, das die Camorra für die Religion verlassen hatte, hatte mich zum Essen eingeladen. Wir standen auf einem Balkon und beobachteten die Kinder, die auf der Straße spielten. Auf einmal hörte man einen Schrei: „Maria, Maria, Maria“. Alle Kinder wurden still, als hätten sie was Falsches gemacht. Der Schrei war das Signal für die Ankunft der Polizei. Und die Kinder wussten es! Ist das keine geraubte Kindheit? Kinder, die mit fünf oder sechs Jahren die Sprache der Kriminellen sprechen und verstehen.

Was kennzeichnet die Kinder der `Ndrangheta-Anhänger?

Wie der Sohn eines Zahnarztes jeden Tag die Geräte des Vaters sieht, so sehen ´Ndrangheta-Kinder täglich Drogen und Waffen. Am Sonntag besuchen sie die untergetauchten Verwandten in Bunkern oder die Verhafteten im Knast – das ist ihre Normalität. Mit 14 Jahren werden sie mit einem Aufnahmeritual „getauft“. Ab diesem Moment ist die ´Ndrangheta  wichtiger als die eigene Familie. Die Jugendlichen sollen bereit sein, selbst Familienmitglieder umzubringen, wenn das nötig ist. Die ´Ndrangheta lässt keine Gefühle zu, denn wer fühlt, kann verraten. Man braucht sich nicht wundern, wenn diese Kinder zu Mafiosi werden : Sie kennen nur einen Alltag — den ihrer Familien. Das Ziel ist, den Kindern eine andere Welt zu zeigen, so dass sie wirklich frei sind, ihr Schicksal zu bestimmen.

Das ist auch das Hauptziel des Projekts „Liberi di scegliere“, das Roberto di Bella, Präsident des Jugendgerichts in Reggio Calabria seit 2012 durchführt.

Ganz genau. „Liberi di Scegliere“ wird zur Zeit nur im Gebiet Reggio Calabria durchgeführt. Um die 25 Kinder nehmen daran teil. Je nach familiärer Situation werden die Kinder ihren ´Ndrangheta-Familien entzogen und entweder nach Sizilien oder zu Gastfamilien in Norditalien geschickt. Das Ziel ist, diesen Kindern die Normalität zu zeigen, die Schönheit, ihnen eine andere Welt näher zu bringen.

Das Projekt wurde kritisiert, mit dem Argument: Der Staat solle sich nicht in die Bildung von Kindern einmischen. Was würden Sie antowrten?

Ich glaube, dass  „Liberi di scegliere“ die einzige Rettung für diese Kinder ist. Die Menschen, die das Projekt kritisieren, reden oft von Kinderrechten. Ein wesentliches Recht ist für mich aber eine angemessene Bildung. Wir reden hier von Eltern, die Kinder gebären, um eine Armee zu bilden. Die ´Ndrangheta  redet gern von Liebe und Familie. Wo bleibt aber die Liebe, wenn Eltern Töchter gegen ihren Willen verheiraten, um die Macht des Clans zu erweitern? Wo bleibt die Liebe, wenn sie ihren Söhnen die Rachsucht beibringen? Das Protokoll gibt den Kindern die Chance, selbst über ihr Leben zu bestimmen.

Besteht nicht das Risiko, dass diese Kinder die Figur der Eltern, von denen sie weggebracht wurden, noch mehr vergöttern?

Ja. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass man mit den Eltern zusammenarbeitet. Die Mafia stellt den Staat gerne als böser Tyrann dar. Er soll hingegen wie ein guter Vater sein, der eine andere Zukunft für die Kinder schaffen will. Das Jugendgericht von Reggio Calabria möchte diesen Kinder schließlich eine Alternative anbieten. Der Vater von Aurora, einer der Protagonistinnen meines Buches,  war am Anfang ganz gegen „Liberi di scegliere“. Er saß aber im Knast, genau wie die Mutter und der minderjährige Bruder von Aurora. Also wurde die 15-jährige in einer Gastfamilie in Norditalien untergebracht. Nun scheint Auroras Vater damit zufrieden zu sein. Er stellt fest, dass seine Tochter gerade etwas erlebt, was er ihr nicht bieten könnte: Ein normales Leben. Wir erleben einen besonderen Moment, in dem der Staat die Gelegenheit hat, mit den ´Ndrangheta-Mitglieder ein Dialog zu starten. Es geht um Familien, mit einer endlose Liste von Toten. Man fragt sich, ob die Eltern selbst sich nicht wünschen, dass dieses Schicksal ein Ende findet.

Wo sehen Sie die Schwäche im Programm?

Das Protokoll an sich ist gut, aber es braucht mehr Unterstützung vom Staat. Insbesondere für die zweite Phase, wenn die Jugendlichen volljährig werden. Die Schwierigkeiten fangen nämlich am Ende an, wenn die Kinder nach Hause zurückkehren. Ich befürchte, dass das Programm sich negativ auswirken könnte. Wenn ich in einer `Ndrangheta-Familie geboren wurde, ist meine Welt die bestmögliche, die ich kenne. Eines Tages zeigt mir der Staat eine neue Welt, die aus Gefühlen besteht. Wenn ich wieder zu meinem alten Alltag zurückkehren muss, bin ich sauer auf diesen Staat. Er hat mir eine neue Welt gezeigt, hat mich aber dann im Stich gelassen. Wir brauchen also eine Planung, die über die Volljährigkeit hinaus geht. Man soll Arbeit für diese Jugendlichen schaffen, sonst sind sie gezwungen, zu ihren Familien zurückzukehren. Auch die Psychologen und die Erzieher sollten besser vorbereitet werden. Dann fehlen auch die Familien, insbesondere in Norditalien, die bereit sind, diese Kinder aufzunehmen.

Für Ihr Buch haben Sie auch Psychologen und Erzieher getroffen, die die Kinder in ihrem neuen Alltag begleiten. Was für Schwierigkeiten haben diese in ihrer Arbeit?

Der Psychologe Enrico Interdonato, der einen meiner Protagonisten begleitet hat, erzählt, dass die Kinder von `Ndrangheta-Familien besonders gut erzogen sind. Sie sind sehr diszipliniert und respektieren die Regeln, die ihnen gegeben werden, weil sie sich seit der Kindheit an besondere Gesetze, die der `Ndrangheta, anpassen mussten. Es ist schwierig, diesen Kindern Gefühle beizubringen. Die ´Ndrangheta lässt keine Gefühle zu. Wenn die Psychologen den Prozess der affektiven Erziehung starten, geht es den Jugendlichen oft schlecht. Viele übergeben sich, als müssten sie etwas aus ihrem Inneren verjagen.

Sie haben auch Libero getroffen, einen jungen Mann, der seiner `Ndrangheta-Familie entzogen wurde. Libero hat eine Weile auf Sizilien gelebt. Nun ist er volljärhig und wohnt wieder in Kalabrien. Wie hat sich das Projekt auf ihm ausgewirkt?

Während meiner Recherchen habe ich Libero drei Mal getroffen. Jedes Mal hatte er sich weiterentwickelt. Am Anfang war er mir gegebüber sehr geschlossen. Ich war eine Frau, die alleine nach Kalabrien gereist war. Dazu war ich auch Journalistin. Er hatte große Vorurteile. Am Anfang sah er seine Zukunft entweder im Knast oder mit dem Tod enden. Doch bei unserem letzten Treffen hat er mir gesagt: „Nun weiß ich nicht, was ich vor mir sehe“. Dieser „Ich weiß es nicht“ ist ein großer Erfolg. Dann hat er mir gesagt, dass er seinen Führerschein machen möchte, um seine Mutter ins Restaurant zu fahren. Auch so etwas wäre in seinem alten Leben undenkbar gewesen. Am schönsten fand ich seine Erzählung über die Straße von Messina. Libero war oft zwischen Kalabrien und Sizilien gependelt, hatte aber die Straße von Messina nie bewusst wahrgenommen. Doch an einem Tag, gegen Ende des Projekts, hat er sie endlich gesehen — und war sprachlos ob der Schönheit der kalabrischen Küste von Sizilien.

ANGELA IANTOSCA, 37, ist Journalistin und Buchautorin. Sie arbeitet bei der staatlichen Rundfunk RAI. Vor „Bambini a metà“ hat sie sie das Buch „Onora la madra“ („Ehre deine Mutter“) geschrieben — eine Porträt der Frauen der ´Ndrangheta.