Mafia

Die Geschichte einer mutigen Frau

Die Mafia ist in Deutschland: Maria G, 35, hat selber für die ’Ndrangheta gearbeitet bis sie Kronzeugin von Ermittlern wurde. Dann aber spürte die Mafia sie auf. Maria musste nach Deutschland fliehen. Wir haben ihre und die Geschichte der Mafia in Deutschland aufgeschrieben. Eine gemeinsame Recherche von CORRECTIV, „stern“ und RTL.

von David Schraven

Maria floh vor der Mafia nach Deutschland. Ihre Geschichte bietet tiefe Einblicke in die Strukturen der Mafia.© Edgar Venneman

Ich sehe Maria G. das erste Mal in einem Auto. Sie sitzt auf dem Fahrersitz, sie hat einen weißen Baumwollpullover mit silberglänzenden Streifen an. Das Auto ist alt. Sie wartet an einer Tankstelle in Süddeutschland. Ich fahre mit einem Kontaktmann in einem Mazda Combi langsam an ihr vorbei. Sie erkennt den Wagen, lässt ihn an sich vorbeirollen, startet ihr Auto und folgt uns in einigem Abstand. Wir fuhren so aus dem Ort heraus, über die Landstraße, zwischen Feldern und Weinbergen hindurch, über Anhöhen und Brücken. Sollte jemand folgen, kann er kaum unerkannt bleiben. Auf einem versteckten Parkplatz am Rand eines Naherholungsgebietes halten die Autos an.

Maria steigt aus ihrem Wagen. Sie ist schlank, trägt eine enge Jeans. Sie wirkt jung. Man sieht ihr die fünf Kinder, die lange Zeit als Ehefrau eines Mafia-Mitglieds nicht an. Sie spricht nicht sehr gut Deutsch – obwohl sie in Deutschland geboren ist. Sie versteht einiges. Maria lächelt, verlegen. Auf Italienisch fühlt sie sich wohler. Ein Übersetzer hilft.

Wir verlassen den Parkplatz, folgen einem schmalen Pfad eine Anhöhe hinauf, eine Wiese, ein Weg, gesäumt von Bäumen, die Schatten spenden. Maria spricht über ihre Heimat hier in Süddeutschland und dann die andere in weiter Ferne, in Kalabrien, die ihr Leben bestimmt. Maria sagt, sie habe Bedenken, ihre Geschichte zu erzählen, so ausführlich, mit Details und den Namen der Menschen, mit denen sie zu tun hatte. Dann überlegt sie.

Die Entscheidung, mit uns zu reden, würde ihr Leben verändern, davon geht sie aus. Sie weiß nicht, ob es besser wird oder schlechter. Kann es auch befreiend wirken zu reden? Kann man ein Leben wie das ihre so vielleicht besser hinter sich lassen, wenn man es einmal in Ruhe erzählt? Maria stellt sich solche Fragen, während sie über den Weg schlendert durch warme Frühsommersonne.

Das alte Leben jedenfalls will sie nicht mehr ertragen, und bei all den Gesprächen, die folgen werden – in einem Ferienhaus im Schwarzwald, in ihrer Wohnung, an einem See, den sie schon als kleines Kind besuchte, beim Bäcker um die Ecke – wird das mehr als deutlich: Im Erzählen lehnt Maria sich geradezu auf gegen das, was hinter ihr liegt. Sie schildert Demütigungen und Bedrohungen, sie beschreibt die Angst, die sie in der Mafia erlebt hat. So viel von dem, was sie darlegt, rechtfertigt den Schritt, den sie geht. Maria hofft auf ein neues Leben, doch das wird schwer zu finden sein.

Die Geschichte beginnt

Nach dem ersten Gespräch haben wir ein Team aufgebaut. Margherita Bettoni, Cecilia Anesi und Giulio Rubino, die schon lange den Mafiablog für CORRECTIV machen, mit Maik Meuser von RTL, mit Wigbert Loer vom Stern.

Zusammen haben wir uns auf die Spuren gemacht. Haben versucht, die Bausteine aus Marias Leben zusammenzusetzen, zu verstehen, wie ihr Leben gelaufen ist. Was ihr Leben über die Mafia aussagt, wie sie funktioniert.

Maria hat mit 16 Jahren ihren ersten Mann kennengelernt, schnell Kinder bekommen und gelernt, still zu sein. Um den Schlägen zu entgehen. Um nicht zu erfahren, was geplant wird. Um nicht genötigt zu werden, das Böse zu tun.

Maria wurde Drogenhändlerin, wurde in Menschenhandel verwickelt und versuchte immer wieder zu entkommen.

Aber alles um sie herum war mit der Mafia verflochten. Ihr ganzer sozialer Zusammenhalt. Alles, was sie kannte. Als sie sich von ihrem gewaltätigen Mann trennen wollte, setzte es Schläge. Nachdem sie zur Polizei ging, um sich zu lösen, versuchte er, sie zu töten. Ihr neuer Mann wurde zusammengeschlagen. Ein Leben zwischen Kriminalität und Gewalt. Maria G. flüchtete mit ihren Kindern in den Zeugenschutz – und konnte sich doch nicht komplett aus den Fängen der Mafia lösen. Immer wieder wurde sie bedroht, angegriffen und belagert. Telefonisch, auf der Straße. Und auch mit Taten. Ihre Autos, ihre Wohungen wurden angezündet.

Unsere Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines Menschen in den Fängen der Mafia. Es ist die Geschichte einer Verwicklung in die Mafia, die weiter reicht, als wir uns vorstellen konnten.

Die Mafia ist hier

Die Mafia muss nicht mehr nach Deutschland kommen. Sie ist hier. Maria berichtet von Kinderarbeit in den 1990er Jahren. Von einer fast unglaublichen Form der Ausbeutung.

Wir lernen, wie sich Mafiosi in Deutschland verbergen, wie sie ihr Vermögen nach Deutschland schaffen und wie schwach unsere Gesetze sind, um dieses Phänomen der Kriminalität zu bekämpfen.

In Stuttgart fälschte die Mafia Wahlunterlagen – mit Hilfe krimineller italienischer Politiker.

Hochrangige deutsche Politiker werden im Umfeld der Mafia angetroffen. Ein Mann mit Connections in die höchsten Kreise des gefährlichen Farao-Clans bekochte die CDU-Fraktion in Stuttgart.

Die Banden breiten sich nahezu ungehindert über das ganze Land aus.

Tausende Seiten Ermittlungsunterlagen

Wir haben Unterlagen aus fast 20 Jahren Mafia-Ermittlungen in Deutschland zusammengetragen. Berichte des Bundeskriminalamts (BKA), der Landeskriminalämter. Wir haben Akten der Antimafiakommission in Rom und etliche Ermittlungsunterlagen aus vielen, vielen Strafverfahren gefunden. Immer wieder scheint durch: Für Mafiosi ist Deutschland ein freies Land.

Nur ein Beispiel: Im Rahmen der Operation „Rheinbrücke“ hatten italienische Ermittler im Jahr 2015 nach jahrelangen Ermittlungen gegen mehrere Mafiosi Haftbefehle ausgeschrieben. Sie wurden in Baden-Württemberg festgenommen. Und bald darauf wieder laufen gelassen. Die deutschen Gerichte sahen in der Mitgliedschaft in der Mafia keinen Grund, einen Menschen an das EU-Mitgliedsland Italien auszuliefern. Erst müsste den einzelnen Männern dazu eine weitere, konkrete Straftat nachgewiesen werden.

Doch genau dieser Nachweis ist in den undurchsichtigen Strukturen der Mafia, in der jeder lügt und betrügt, oft unmöglich. Diese Art der Strafverfolgung gegen die Mafia ist nutzlos. Aus diesem Grund hat der italienische Staat seine Gesetze verschärft. Dort kann ein Mafioso auch einfach als Mitglied der Mafia verhaftet werden, ohne dass ihm dieser Drogenhandel oder jener Waffendeal konkret nachgewiesen wird. Denn als Mitglied stützt er die gesamte Struktur der Mafia. Er trägt seinen Clan genauso, wenn er unsichtbar dessen Interessen durchsetzt. In Deutschland hingegen kann ein Krimineller gefahrlos dem Verein Mafia beitreten. Die Mafia könnte sogar Mitgliedsausweise austeilen und Vereinsheime unterhalten. Alles ohne Risiko.

Als die Mafiosi die deutschen Gefängnisse verlassen haben, müssen sie gelacht haben.

Über 50 Clane

Wir haben in den vergangenen Monaten über 50 Clane der Mafia in Deutschland nachgewiesen. Etliche davon sind heute aktiv. Bei anderen ist es unklar, wie aktiv sie noch sind. Sie sitzen in fast allen deutschen Großstädten, in einigen teilen sich mehrere Clans die Herrschaft.

In Deutschland und der Schweiz wurden mehrere Mafiataufen nachgewiesen. Es gibt von ihnen Tonaufnahmen, Bildaufnahmen. Doch alles das reicht bislang nicht aus, die Gesetze zu verschärfen.

So auch beim zweiten großen Problem, das eine effektive Mafiabekämpfung behindert. In Deutschland kann das Vermögen der Mafiosi noch immer nicht einfach beschlagnahmt werden. Die Mafia behält in der Regel ihr Geld. Selbst wenn sie mal auffliegt. So kann ein Pizzabäcker in Deutschland auf unbekannten Wegen in wenigen Monaten ein Millionenvermögen aufhäufen. Und auch wenn ihm nachgewiesen wird, dass er zur Mafia gehört, kann ihm dieses Vermögen nicht einfach weggenommen werden.

Der Staat muss zunächst beweisen, dass er die Millionen nicht mit Pizzabrötchen verdient hat. Der Staat muss beweisen, dass der Mafioso sein Geld mit illegalen Geschäften gemacht hat. Entsprechend mies sind die Beschlagnahmungsquoten in Deutschland. In manchen Jahren werden in Deutschland nur wenige hunderttausend Euro beschlagnahmt, wie aus einem Bericht des BKA hervorgeht.

In Italien ist das genau andersherum: Dort muss der Mafia-Bäcker nachweisen, wie er mit seinen Brötchen Millionen legal verdient hat. Dann darf er sein Geld behalten. Entsprechend verliert die Mafia in Italien immer wieder Milliarden von Euro.

Frustrierte Ermittler

Ich habe mit einem Ermittler aus dem Ruhrgebiet gesprochen, der nur noch frustriert ist. Jahrelang hat er versucht, einer kriminellen Familie habhaft zu werden, die für bleihaltige Luft aus Gevelsberg, einem Ort südlich des Ruhrgebiets, verantwortlich gemacht wird. Alle seine Bemühungen zerschlugen sich in einem spektakulären Verfahren, in dem ein verurteilter Mörder seine Arbeit für die Mafia gestand. Seine Aussagen wurden auf Video aufgezeichnet. Und dann beging der Mörder einen sehr mysteriösen Selbstmord. Er schluckte Gift, zerschnitt sich die Adern und hängte sich auf. Angeblich in dieser Reihenfolge. Im späteren Prozess in Hagen gegen die beschuldigten Kriminellen änderte der Gutachter des Gerichtes seine Meinung zur Glaubwürdigkeit der Videoaussage des Mörders – und die beiden angeblichen Mafiosi wurden freigesprochen. Interessanterweise saßen sie dennoch in Haft. Sie hatten in einem Restaurant in Genua einen Mann erschossen, weil er Krümmel auf ihre Hosen gekippt hatte.

Das ist die Mafia

Das Bild der Mafia in Deutschland ist komplex. Schnell war uns im Team klar, dass die Geschichte, die sich vor uns entfaltete, größer war, als alle anderen Geschichten, die wir bisher gemacht hatten. Die Recherche über das Leben der Mari G. war mehr als eine Reportage. Es ging direkt ins Herz der Mafia. Direkt in das Leben der Familie.

Wir konnten verstehen, was die Mafia stark macht. Wir haben das Misstrauen gegenüber allen staatlichen Instanzen verstanden. Diesen Glauben, dass es keinen offiziellen, keinen geraden Weg gibt, auf dem Gesetze und Regeln bestimmen, wie wir uns verhalten müssen. Stattdessen regiert die Willkürherrschaft der Mächtigen, denen die Familien der Mafiosi ausgeliefert sind: sie fühlen sich der Gnade ausgeliefert, ein Gehalt zu bekommen, eine Wohnung, ein Schulzeugnis, eine Arbeitsstelle. Alles ist manipulierbar und alles wird manipuliert.

Ein Mafioso fühlt sich heimisch in einer Art Zauberland, in dem unbekannte Kräfte an unsichtbaren Fäden die Geschicke der Menschen bestimmen. In den Augen der Mafiosi gibt es nur einige wenige Bosse, die wissen, wie diese unsichtbare Klaviatur der Macht funktioniert. Und sie sind sicher, dass nur der, der sie beherrscht, etwas erreichen kann. Dieses fast magische Wissen macht die Bosse zu Herrschern in der Welt der Mafia. Es gibt keine klare Ordnung, sondern nur Chaos, das von Wissenden im Geheimen gelenkt wird.

Die Mafia ist eine Schicht von Menschen, die von Kind auf gelernt haben, dass Ausbeutung alles ist. Du wirst ausgebeutet und Du beutest aus. Nur die wenigsten entscheiden sich freiwillig, in die Mafia einzutreten. Sie werden hineingeboren und steigen auf – oder sterben bei dem Versuch, das zu schaffen.

Unser Buch

Wir haben ein Buch über die Mafia produziert. Wir haben einen tiefen Einblick in die sonst verschlossene Welt der organisierten Kriminalität in Deutschland geschaffen.

Maria hat im vergangenen Jahr neu geheiratet. Bei der Hochzeit trug sie ein weißes Kleid. Es gab eine feierliche Torte und für die Gäste eine Heiligenfigur. Eine Tochter von Maria ist schwerbehindert und sitzt im Rollstuhl. Auf der Hochzeit hatte sie eine rote Handtasche, die sie stolz den Gästen präsentierte.

Maria sucht einen Ausweg für ihre fünf Kinder. Jeden Tag trägt ihr neuer Mann die Tochter, die im Rollstuhl sitzt, vier Stockwerke hinunter und wieder hinauf in eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung unter dem Dach eines alten Sozialhauses in Winnenden.

Maria will ihren Kindern den Weg durch die Hölle ersparen. Sie strengt sich an. Sie hat erkannt, dass der Ausstieg aus der Mafia früh anfängt. In der Schule. Sie sollen Vertrauen lernen in die Institutionen. In Italien haben die ersten Mafiabekämpfer angefangen, diese Wege zu unterstützen. Sie setzen ebenfalls auf die Kinder. Niemand wird böse geboren. Sie bieten den Kindern Beschäftigungen jenseits der Banden. Sie bieten Bildung und schenken Freiheit jenseits der Kriminalität. In Deutschland müssen die Kinder von Maria um Anerkennung ringen.

Marias Weg ist nicht leicht. Immer wieder wird sie zurückgeworfen in die alte Welt. Immer wieder erlebt sie die Angst, dass irgendwann ein Rächer der Mafia vor ihr steht und sie tötet.

Ihr fällt es schwer, sich in der normalen Welt verständlich zu machen oder Verständnis zu finden. Bei Ämtern, in der Schule, bei Vermietern. Nicht immer liegt es an den anderen. Maria ist durch ihr Schicksal selbst kompliziert geworden. Verschweigt Sachen oder versucht, auf Umwegen ans Ziel zu kommen. Wie sollte es auch anders sein, bei der Bürde, die sie trägt. Doch Maria strengt sich an, auf dem rechten Weg zu bleiben.

Denn es gibt sie, die Hoffnung.

Am 18. Geburtstag ihres ältesten Sohnes las Maria einen Brief vor. Eine emotionale Botschaft an ihr Kind. „Du hast schreckliches erlebt, aber nun die Chance, einen normalen Beruf zu ergreifen.“


Mehr zum Leben von Maria lesen Sie in unserem Buch:

„Die Mafia in Deutschland – Kronzeugin Maria G. packt aus.“ – zu bestellen in unserem Shop.

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Am Montag, den 13. März, sendet RTL um 22:15 Uhr eine Dokumentation über Maria und die Mafia.

Wir werden bei CORRECTIV in den nächsten Tagen weitere Geschichten zur Mafia veröffentlichen. Am Montag zeigen wir eine interaktive Grafik, auf der wir die Aktivitäten der Mafia-Clane in Deutschland sowie der mit ihnen verbundenen Menschen darstellen.

Die Mafia ist unter uns. Wir müssen das erkennen. Und sie bekämpfen.


P.S.

Als wir das Buch fast fertig geschrieben hatten, mussten wir Marias ersten Mann, den Mafia-Boss, mit unseren Fragen konfrontieren. Hat er tatsächlich versucht, Maria umzubringen? Hat er sie geschlagen? Hat er ihr den Tod gewünscht?

Wir haben versucht, mit ihm zu sprechen. Er hat ein Gespräch abgeblockt.

Wir haben ihm unsere Fragen in einem Brief gesendet. Er hat nicht geantwortet.

Stattdessen hat er unseren Brief mit unseren Fragen zur Polizei getragen und gesagt, wir seien Stalker, die ihm nachgingen. Die Polizei hat unsere Fragen gelesen – und ein Ermittlungsverfahren gegen Marias Ex-Mann eröffnet. Mordversuch verjährt nicht.

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