Missbrauch in der katholischen Kirche

Opferanwälte fordern, Schadensansprüche bei Missbrauch leichter anzuerkennen

Vor dem Landgericht Traunstein kämpft ein Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen Priester um Schadensersatz. Die Kirche blockiert. Seine Anwälte fordern nun eine Beweiserleichterung.

von Marcus Bensmann

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Andreas Perr klagt gegen das Erzbistum München und Freising. Foto: Ivo Mayr / Correctiv

Es ging um den Missbrauch durch seinen Priester und darum, ob seine spätere Drogensucht auch Folge des Missbrauchs war. Über zwei Stunden wurde Andreas Perr von einem Gutachter befragt, den das Landgericht Traunstein bestellt hatte. Weil Perr Schmerzensgeld von der Kirche fordert, muss er seinen erlittenen Schaden beweisen. Es wird wohl noch einen zweiten Termin geben, bis der Gutachter zu einem Ergebnis kommt.

In den vergangenen Jahren sind hunderte Männer an die Öffentlichkeit getreten und haben berichtet, wie sie als Kinder von Priestern missbraucht wurden. Für viele von ihnen folgte ein Leben in Brüchen. 

Andreas Perr geriet in Alkohol- und Drogensucht. Es folgten, wie bei vielen Opfern, ein gebrochener Berufsweg oder Armut. Dazu kommen Probleme, Beziehungen einzugehen oder Familien zu gründen. Für den ehemaligen Vorsitzenden Richter des Oberlandesgerichts Köln, Lothar Jaeger, hat der Missbrauch durch Priester die Opfer oft „aus der Bahn geworfen“, „das Lebensglück“ sei zerstört. Allein der „gesunde Menschenverstand“ zeige einen Zusammenhang zu dem erlittenen Missbrauch. 

Jaeger fordert, dass Zivilgerichte den Missbrauchsopfern von Priestern Schmerzensgeld im hohen sechsstelligen Bereich, wenn nicht gar Millionenhöhe, zusprechen müssten. Jaeger hat dazu in diesem Jahr das Buch „Sexueller Missbrauch und Gewalt – Wege zu hohen Anerkennungsleistungen und Entschädigungen“ veröffentlicht.

In dem Gerichtsverfahren in Traunstein wird nun geprüft, ob das Opfer seine erlittenen Schäden im Zweifelsfall nicht beweisen muss.  Das fordern die Anwälte des Opfers. Das könnte auch Folgen für weitere Verfahren von Missbrauchsopfern haben.

Bisher haben wenige Opfer des Missbrauchs in der katholischen Kirche den Weg vor die Zivilgerichte gewagt. 2023 sprach das Landgericht Köln dem Opfer Klaus Menne 300.000 Euro für jahrelangen Missbrauch zu. Dessen Anwälte hatten 700.000 Euro gefordert.

Priester nach Urteil wegen Kindesmissbrauch erneut eingesetzt

Vor dem Landgericht Traunstein in Bayern wird seit gut einem Jahr der Fall von Andreas Perr verhandelt. Perr hat das Erzbistum München und Freising und die Erben des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. auf Schmerzensgeld verklagt: 300.000 Euro fordert er vom Erzbistum und 50.000 von den Erben des Papstes, der in den 1980er als Erzbischof in München und später bis 2005 als Präfekt der Glaubenskongregation Sexualstraftäter im Priestergewand eigentlich bestrafen sollte. Das Verfahren gegen die Papsterben ist abgetrennt, bis diese gefunden sind. 

Die Verantwortlichen des Erzbistums und Joseph Ratzinger ermöglichten es, dass ein Priester trotz einer Verurteilung wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs Ende der 1980er Jahre in der Gemeinde Garching an der Alz wieder eingesetzt wurde. Dieser Priester H. konnte dort den Kindesmissbrauch fortsetzen. Eines seiner Opfer war Andreas Perr.

Perr muss nun vor Gericht beweisen, dass der Missbrauch durch den Priester H. für seine Drogensucht verantwortlich ist. Das sieht die Zivilprozessordnung vor, die dem Kläger auferlegt, den entstandenen Schaden nachzuweisen.

Gilt für den Priester eine besondere Fürsorgepflicht wie bei Ärzten?

Für Fälle von körperlichen oder seelischen Schäden gibt es im Zivilrecht eine Ausnahme, bei der die Opfer einen Schaden nicht beweisen müssen. Für Mitglieder medizinischer Berufe wird grundsätzlich vermutet, dass bei einer Verletzung durch eine medizinische Behandlung „der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war“. In einem solchen Fall reicht dem Gericht die Vermutung und nicht der Beweis.

Peers Anwälte ziehen bei dem Missbrauch durch einen Priester genau diese Analogie. Zwar sei das Verhältnis zwischen „Pfarrer und Pfarrkind kein Behandlungsverhältnis“, schreibt der Rechtsanwalt in einem vorliegenden Schriftsatz an das Landgericht Traunstein. Doch auch wenn der Täter kein Arzt sei, übernehme er als Priester eine „Berufspflicht“, die die „seelische Gesundheit“ betreffe, und gegen diese habe der Priester durch den Missbrauch „vorsätzlich“ verstoßen.   

„Wenn der Geistliche nun in diesem Schutzumfeld vorsätzlich oder grob fahrlässig die Pflicht zur Bewahrung der seelischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen verletzt, dann verstößt er damit auch gegen eine selbst übernommene Berufs- und Organisationspflicht, die derjenigen des Arztes (…) vergleichbar ist“, schreiben die Anwälte Perrs. Daher fordern sie eine Beweislastumkehr oder eine Beweiserleichterung, da nach „der Lebenserfahrung eine tatsächliche Vermutung oder eine tatsächliche Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang“ durch den Missbrauch des Priesters an Perr gegeben sei.

Jaeger: Bistum leugnet Kerngrundsätze der Kirche

Die Anwälte des Erzbistums widersprechen dieser Überlegung in einem Schreiben an das Landgericht, das CORRECTIV vorliegt. „Eine Vergleichbarkeit der Interessenlage kommt nur für die Verletzung von Berufspflichten in Betracht, die (…)  dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen“, so die Anwälte. Sie schreiben: „Das Verhältnis des Klägers zu dem Beklagten (Anmerkung: Priester H.)  war mit einem ärztlichen Behandlungsvertrag nicht vergleichbar.“  Für den Katholiken und ehemaligen Richter Jaeger ist das unverständlich. „Die Anwälte des beklagten Bistums leugnen aus prozesstaktischen Gründen Kerngrundsätze der katholischen Kirche.“ Das Erzbistum sollte – auch über Rechtsanwälte – die Auffassung vertreten, dass der Schutz für das seelische Wohl der Kinder zu den ureigensten Aufgaben eines jeden Priesters gehöre, sagt Jaeger. 

Bisher versuchen die katholischen Bistümer in Deutschland, die Schadensregulierung bei sexuellem Missbrauch über die sogenannte Unabhängige Kommission zur Anerkennungsleistung (UKA) unter dem kirchlichen Dach zu regeln. Die zunehmenden Klagen vor den Zivilgerichten drohen dieses Monopol zu brechen. „Sollte das Landgericht Traunstein der Argumentation des Klägers zur Beweislastumkehr folgen, was keinesfalls sicher ist, so wäre das für weitere zivilrechtliche Klagen wegen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker von erheblicher Bedeutung“, sagt Jaeger.