Die neue deutsche Kriegsmaschine

Deutschlands Umbau zur Militärmacht ist in vollem Gange: Geheime Regierungspapiere zeigen, dass Milliardensummen in Munition und umstrittene Waffensysteme fließen sollen. Ist das Land bereit für die Konsequenzen?

17. Dezember 2025

Jahrzehntelang diskutierte Deutschland über jedes Gewehr und jede Granate. Jede militärische Beschaffung war ein Politikum, jedes Rüstungsprojekt ein Streitfall. Dann kam es zum radikalen Kurswechsel.

Aus Sorge, Russland könne bis 2029 Staaten innerhalb des NATO-Gebiets angreifen, will Deutschland eine Armee neuen Zuschnitts aufbauen – funktionsfähig, einsatzbereit, kriegsfähig.

Wie weit die Regierungspläne gehen, zeigen jetzt geheime Dokumente aus dem Verteidigungsministerium, die CORRECTIV einsehen konnte. Sie sind der Fahrplan für den Umbau Deutschlands zur Militärmacht. Auf Hunderten Seiten wird skizziert, wie die Bundeswehr sich in den kommenden Jahren aufstellen will. 

Die Pläne beinhalten eine weitreichende Bestellliste: Rund 400 Milliarden Euro sollen in den kommenden Jahren in Munition und in neue Waffensysteme fließen. Darunter sind auch solche, deren Einsatz lange kategorisch ausgeschlossen wurde, weil sie entweder autonom agieren – oder eine nukleare Eskalation provozieren könnten. Experten mahnen die Regierung daher zur Zurückhaltung. 

Das Verteidigungsministerium äußerte sich gegenüber CORRECTIV „aus Gründen der militärischen Sicherheit“ nicht auf Detailfragen zur Liste. „Die Beschaffung für die Bundeswehr wird abgeleitet aus den Bedarfen der Streitkräfte für ihre Aufträge“, schreibt eine Sprecherin allgemeiner. „Der Beschaffungsprozess unterliegt strengen Vorschriften und der engen politischen Kontrolle.“

Doch gerade wie die Bestellliste zustande kam, ist für Experten und Bundestagsabgeordnete nicht nachvollziehbar. 

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Deutlich wird durch die Liste auch, dass die Regierung in vielen Fällen längst weiß, wie und an welche Unternehmen sie Rüstungsaufträge vergeben will. Das soll in mehr als 40 Fällen ganz ohne Ausschreibungsverfahren geschehen, durch die Firmen sich um Aufträge bewerben können. Es geht um mehr als 64 Milliarden Euro.

Weiterhin zeigen die Dokumente, wie nach der Einführung des neuen Wehrdienstes die Ausbildung von Soldatinnen und Soldaten umgestaltet werden soll. Ein Fokus liegt auf der Umstrukturierung des sogenannten Heimatschutzes: Soldatinnen und Soldaten, die im Kriegsfall im Inland kritische Infrastrukturen schützen sollen.  

Die Regierungspapiere verdeutlichen einen tiefgreifenden Wandel, der in den kommenden Jahren in alle Lebensbereiche der Deutschen greifen wird. Unsere Recherche zeigt: Das Land steht vor gewaltigen gesellschaftlichen und ethischen Herausforderungen.

Kapitel 1: Kamikaze-Drohnen braucht das Land

Die Bezeichnung, die sich auf zwei Posten im geheimen Bestellpapier des Verteidigungsministeriums vom August für die Waffen findet, klingt harmlos: „Loitering Munition“. Doch Beobachter haben längst einen anderen Namen für das System auserkoren: Kamikaze-Drohnen. 

Warum sie so genannt werden, erlebte Ibrahim Naber am Abend des 13. Oktober am eigenen Leib. Der Journalist ist da gerade in Dnipro, einer Region nahe der Grenze zum Donbass in der Ukraine unterwegs. Die Front ist weit entfernt. Doch der Krieg reicht bis tief ins Hinterland hinein: Naber begleitet hier eine mobile Feuereinheit der ukrainischen Streitkräfte. Sie soll russische Drohnen abwehren.

Zunächst läuft alles nach Plan. Naber und seine beiden Kollegen filmen, wie Soldaten Maschinengewehr-Salven abfeuern. Dann interviewen sie die Männer nahe ihres Militärlastwagens. Plötzlich hören sie in der Dunkelheit ein Geräusch, das weder die Journalisten noch die Soldaten einordnen können. Es klingt, als würde ein Auto auf sie zu rasen.

Wenige Sekunden später schlägt eine Drohne in den ukrainischen Militärlaster ein und explodiert. Naber wird durch die Luft geschleudert und landet einige Meter weiter am Boden. 

Er rafft sich auf, schleppt sich zu einem nahegelegenen Waldstück. Dort legt er seinem Kollegen, der durch die Schrapnelle der Drohne am Bein verletzt wurde, ein sogenanntes Tourniquet an, um die Blutungen zu stoppen. Später werden die Journalisten evakuiert. 

Konstantin, wie einer der ukrainischer Soldaten aus der Einheit mit Vornamen heißt, verlor durch den Angriff sein Leben. 

In der Ukraine sind täglich Hunderte dieser Kamikaze-Drohnen unterwegs. Auch im Sudan werden sie eingesetzt. Huthis attackieren mit ihnen amerikanische Schiffe. Gesteuert werden sie nach dem Start mit Hilfe von an Bord installierten Kameras. Manchmal größer, manchmal kleiner, mal mit Rotoren, mal mit starren Flügeln, mal im Schwarm, mal allein, umkreisen sie dann ihre Ziele. Irgendwann stürzen sie hinab. Beim Aufprall zerstören sie sich selbst.

Die Fluggeräte werden auch Einweg-Drohnen genannt, oder, zynisch: Suizid-Drohnen. Seit Monaten verändern sie die Regeln des Schlachtfelds. „Das permanente Surren verfolgt die Soldaten, wohin sie auch gehen“, sagt Naber. Der psychologische Effekt sei drastisch: Man fühle sich nirgends mehr sicher.

Die deutsche Bundesregierung schloss den Einsatz solcher Systeme im Jahr 2022 noch kategorisch aus. Doch die Zeiten haben sich geändert: Die interne Bestellliste, die CORRECTIV einsehen konnte, zeigt, dass das Verteidigungsministerium die Geräte erstmals beschaffen will. Damit soll etwa die neue Panzerbrigade 45 der Bundeswehr in Litauen ausgestattet werden. 

600 Mini-Kamikaze-Drohnen eines bislang unklaren Herstellers sollen bestellt werden, für rund 700.000 Euro. 700 Millionen Euro sollen zudem an den israelischen Rüstungsbauer Elbit Systems fließen, offenbar für das System „SkyStriker“. Aktuell laufen zudem Tests mit den Systemen zweier deutscher Start-Ups und dem Rüstungsriesen Rheinmetall. Die Unternehmen versprechen sich jeweils einen 300-Millionen-Euro-Auftrag. 

Viele Expertinnen und Experten sind sich einig, dass solche Kamikaze-Drohnen das Kriegsgeschehen für alle Seiten unberechenbarer machen. Von Genf aus drängen Richard Lennane und seine Kollegen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) deshalb EU-Staaten dazu, auf eine Regulierung hinzuwirken. 

„Unsere Bedenken hinsichtlich der Kamikaze-Drohnen bestehen darin, dass sie billig hergestellt werden müssen. Das ist die Idee dahinter“, sagt Lennane. „Die darin verwendeten Kameras sind oft einfache analoge Videokameras mit schlechter Qualität.“ Was ein legitimes Ziel ist und was nicht, sei so schwer zu beurteilen. 

„Es stellt sich auch die Frage, was passiert, wenn es zu Fehlfunktionen kommt oder sich kein Ziel finden lässt. Was macht man dann? Lässt man die Drohne einfach auf einem Feld abstürzen – oder sucht man nach einem anderen Ziel, bei dem man sich nicht ganz sicher ist, ob es rechtmäßig ist oder nicht?“ 

Russische Soldaten setzen im August 2025 eine Kamikaze-Drohne vom Fabrikat Lancet zusammen. (Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Alexei Konovalov)

Bei diesen Fragen ist der Elefant im Raum noch gar nicht benannt: Künstliche Intelligenz. Hersteller implementieren sie zunehmend in ihren Drohnen, zur Zielfindung oder Zielerfassung. Die Idee dahinter: Mehr Autonomie führe zu einer höheren Trefferquote und zu weniger Verlusten.

Max Mutschler vom Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) ist hinsichtlich der aktuellen Entwicklung rund um die Kamikaze-Drohnen besorgt. „Die Gefahr besteht, dass man sich auf die KI verlässt, auch bei der Zielauswahl“, sagt der Rüstungsexperte. „Solche Systeme sind fehleranfällig.“

Lange galt bei der Anschaffung von Waffensystemen und Armeen weltweit ein ungeschriebenes Gesetz: Der Mensch muss die finale Tötungsentscheidung treffen. Doch KI-getriebene Kamikaze-Drohnen drohen diese Grenze jetzt einzureißen. Längst warnen Beobachter und Menschenrechtsorganisationen vor einem Kontrollverlust.

Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums schreibt CORRECTIV zum Einsatz von KI-Systemen in der Bundeswehr zwar, dass „die Entscheidung über Einsatzraum, Zielauswahl und Waffeneinsatz“ jederzeit „in der Verantwortung eines Menschen“ bleibe und „nicht durch das System selbst getroffen“ werde. Das Genfer Abkommen, und damit das humanitäre Völkerrecht, werde jederzeit eingehalten.

Doch Experten wie Lennane fragen sich: Wie soll bei einem sich selbst zerstörenden System rekonstruiert werden, ob ein Mensch oder eine KI einen Angriff befohlen hat? Und wer ist nach dem humanitären Völkerrecht verantwortlich und wird zur Rechenschaft gezogen, wenn es zu zivilen Opfern und Schäden kommt? 

Auch wenn Mutschler das System an sich für problematisch erachtet: „Der Geist ist aus der Flasche.“ Eine Regulierung käme zu spät. Eine Anschaffung von Kamikaze-Drohnen für die Bundeswehr mache Sinn, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Auch Journalist Naber, der durch eine russische Drohne verletzt wurde, hält das für alternativlos. 

Es ist nicht das einzige System auf der Wunschliste des Verteidigungsministeriums, das Experten alarmiert. Darunter findet sich auch eine Waffe, die zumindest Rüstungsexperte Mutschler als sehr gefährlich einschätzt: die Hyperschallrakete.

Auch mit ihr betritt die Bundeswehr Neuland. Ihr Kauf wird sich in die größten und teuersten Militärprojekte der deutschen Geschichte einreihen.

Kapitel 2: Die mysteriöse Wunschliste

Die Hyperschallrakete ist in den vergangenen Jahren zu einem geopolitischen Statussymbol geworden: Wer sie hat, ist groß, reich, stark.

Russland brüstet sich als Vorreiter bei der Entwicklung des Systems, das Land setzt die Raketen nach eigenen Angaben teils bereits in der Ukraine ein. China präsentiert seine Versionen regelmäßig bei Militärparaden. Auch die USA entwickeln Hyperschallraketen. Deutschland will jetzt offensichtlich nachziehen. 

„Beschaffung von Marschflugkörpern und Raketen für eine Hyperschall-Gleiterwaffe für Ground Deep Precision Strike 2000km+“ – so heißt es in der Beschreibung der Bestellung in der Wunschliste des Verteidigungsministeriums. 500 dieser Langstreckenwaffen sollen demnach bestellt werden, für rund sechs Milliarden Euro, Lieferant unbekannt. Zudem soll eine eigene, deutsche Version der Waffe entwickelt werden.

Hyperschallrakten fliegen, so die Theorie, mit extremen Geschwindigkeiten, wodurch ihre Flugbahnen und Aufprallpunkte schwer vorhersagbar sind. Sie können während des Fluges komplexe Manöver ausführen, womit aktuelle Verteidigungssystemen sich schwer tun. Allerdings: Der militärische Nutzen der Rakete ist umstritten, manche halten ihre Wirkmacht für nicht erwiesen.

US-Soldatinnen und -Soldaten stehen im Juli 2025 vor einem Abschusssystem der Hyperschallrakete „Dark Eagle“ im Norden Australiens. Sie wurde in diesem Jahr erstmals außerhalb der Vereinigten Staaten stationiert. (Foto: picture alliance / Cover Images | U.S. Army/Cover Images)

Auf der Liste des Verteidigungsministeriums finden sich neben der Hyperschallrakete und den Kamikaze-Drohnen auch Bestellpläne für Munition, Radarsysteme für Satelliten und Waffen wie die Nachfolger zum Gewehr G36 und der Handfeuerwaffe P8 von Heckler und Koch. Dazu kommt eine ganze Menge Überwachungstechnologie.

Insgesamt sollen für die mehr als 300 Posten in den kommenden Jahren rund 400 Milliarden Euro fließen. Es ist eine Summe, die das einst viel diskutierte Sondervermögen für die Bundeswehr wie eine Nichtigkeit wirken lassen. 

Angegeben sind neben den konkreten Systemen teils auch die gewünschten Lieferanten und ob ein Vergabeverfahren geplant ist. Verteidigungsminister Boris Pistorius will den Weg freimachen für vereinfachte Direktvergaben, um Militärausgaben zu beschleunigen. Das überarbeitete Gesetz soll Anfang 2026 in Kraft treten.

Eine langwierige Ausschreibung, bei der Unternehmen für Aufträge bewerben können, fällt so weg. Zehn solcher Direktvergaben finden sich in der Liste. 39 Bestellungen sollen zudem „ohne Teilnahmewettbewerb“ vergeben werden, an einen vorausgewählten Kreis von Unternehmen.

Klar ist, wo die folgenreiche Bestellliste entstand: im Bendlerblock, einem historisch bedeutsamen Gebäudekomplex in Berlin, heute der Sitz des Verteidigungsministeriums. Unklar ist, wie die Liste entstand. 

Sara Nanni, Grünen-Bundestagsabgeordnete und Obfrau im Verteidigungsausschuss, ist verwundert, als sie diese erstmals einsehen kann. Sie fragt sich, ob sie im Einklang mit den Vorgaben und Planungen der NATO entstanden ist. Im dortigen Hauptquartier in Brüssel ist die Liste nach CORRECTIV-Informationen nicht bekannt gewesen.

In der Regel erstellen die Teilstreitkräfte der Bundeswehr, also das Heer, die Luftwaffe und die Marine, Listen mit zu beschaffenden Posten. Diese werden dann im Verteidigungsministerium vorgeprüft. Dann werden einzelne Posten dem Haushaltsausschuss im Bundestag vorgelegt – dieser muss jede Militärausgabe über 25 Millionen Euro abnicken. 

„Es ist auffällig, dass diese Wunschlisten immer länger werden und nicht immer klar ist, warum manche Dinge da drauf stehen“, sagt Michael Brzoska. Der renommierte Friedens- und Konfliktforscher beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem skandalgebeutelten Beschaffungswesen der Bundeswehr. Er hält die Liste für überdimensioniert und nicht an den tatsächlichen Bedarf angepasst. 

Verteidigungspolitikerin Nanni hat die Sorge, dass sie nach „Zuruf-Prinzip“ entstanden sein könnte. Sie meint damit: die Rüstungslobby rufe, die Politik antworte. „Gegen die Produktkategorien habe ich nichts, allerdings würde ich gerne mal eine Fähigkeitsplanung sehen, die herleitet, was warum in welcher Stückzahl sinnvoll sein soll.“

Im Bendlerblock ist laut der internen Hierarchie Staatssekretär Jens Plötner für den Bereich Rüstung und damit für die Beschaffungsplanung zuständig. CORRECTIV schickte ihm über das Verteidigungsministerium eine Anfrage zur Entstehung der Bestellliste, erhielt aber keine Auskunft. Somit ist weiterhin unklar, wer über die einzelnen Posten und darüber, ob sie direkt vergeben werden sollen, entschieden hat.

Auch, wann der Haushaltsausschuss über die jeweiligen Posten auf der Liste abstimmen wird, ist offen. Jüngste Anschaffungen deuten jedoch darauf hin, dass die Posten auf der Liste tatsächlich nach und nach abgearbeitet werden. Darunter ist etwa das neue Satelliten-Radarsystem „Spock“, das sich auf der Bestellliste findet. 

Die Hyperschallrakete dürfte zu erheblichen Debatten führen. Deutsche Experten sind konträrer Ansicht über das Beschaffungsvorhaben.

Anders als bei den Kamikaze-Drohnen sieht Rüstungsexperte Mutschler bei dem System eine Schwelle überschritten: Denn Hyperschallraketen könnten einen regional begrenzten Konflikt erweitern. „Sollte Russland das Baltikum angreifen, könnten damit hochkarätige Ziele tief im russischen Gebiet attackiert werden, was dann aber auch zu einem Gegenschlag führen könnte“, sagt er. Doch weil Russland die Raketen auch mit nuklearen Sprengköpfen bestücken könnte, sei eine Eskalationsspirale aus Sicht des Fachmanns steil.

Ein zerstörtes Wohngebäude in Kiew, Ukraine. Am 21. Juli 2025 feuerte Russland Drohnen und Raketen darauf. Darunter waren laut der ukrainischen Luftwaffe auch Hyperschallraketen. (Foto: picture alliance / Xinhua News Agency | Li Dongxu)

Mutschler fordert vor einer Beschaffung von Hyperschallraketen zu prüfen, ob diese Waffen durch Rüstungskontrolle für beide Seiten verboten oder zumindest in ihrer Zahl stark begrenzt werden könnten. Dahinter steckt ein oft langwieriger, diplomatischer Prozess, um die Bedrohung auf allen Seiten zu reduzieren.

Beinhalten würde das unter anderem, Russland an einen Tisch zu bitten. Genau das ist nach Ansicht des Sicherheitsexperten Christian Mölling, Direktor des Forschungsprojekts „EDINA: European Defence in a New Age“, die Krux: „Verhandlungsbereit würde sich Russland wohl erst dann zeigen, wenn wir die Raketen schon bei uns stationiert haben.“ 

Der sogenannte INF-Vertrag zwischen den USA und der Sowjetunion im Jahr 1988 sei laut Mölling im Grunde nur deshalb zustande gekommen, weil beide Parteien damals über nukleare Mittelstreckenraketen verfügten. In der Folge kam es zur Abrüstung, die Systeme wurden zerstört.

Mölling hält eine Beschaffung der Hyperschallrakete für eine logische Konsequenz. „Es ist die Weiterentwicklung dieser Langstreckenraketen, und die kommen nun eben auch. Das mag man einen Rüstungswettlauf nennen, aber wir müssen mit der Bedrohung aus Russland umgehen“, sagt der Politikwissenschaftler.

Das Verteidigungsministerium äußerte sich nicht auf Fragen zur Beschaffung der Hyperschallrakete.

Kapitel 3: Kriegsmacht Deutschland?

Neben der Bestellliste für Munition und neue Waffensysteme wird in den Dokumenten aus dem Verteidigungsministerium auch skizziert, wie und wo Bundeswehrsoldaten künftig trainiert werden sollen. 

Mehr Bedeutung kommt demnach dem sogenannten Heimatschutz zu, der sich umstrukturieren und mit insgesamt 23 Bataillonen neu aufstellen wird. Soldatinnen und Soldaten, die im Heimatschutz tätig sind, sollen im Inland Verkehrsadern und kritische Infrastruktur schützen. Einen Vorgeschmack darauf, wie das aussehen kann, bekam die Hauptstadt im vergangenen Monat.

Es ist mitten in der Nacht, als die Einheit sich in taktischer Formation die Stufen der U-Bahn-Station Jungfernheide in Berlin hinunter bewegen. Nach und nach betritt ein Soldat nach dem anderen das Gleisbett. Dann bewegen sie sich zu einem stehengebliebenen Zug vor, das Gewehr im Anschlag. Dort helfen sie einem verletzten Kameraden.

Die Szene könnte aus einem Spielfilm stammen. Bundeswehr-Soldatinnen und Soldaten übten im November zum ersten Mal in der Geschichte in einer öffentlichen Bahnstation. Trainiert haben sie eine Woche lang für den Ernstfall: einen Angriff auf Berlin.

Soldaten trainieren im November in einem Berliner U-Bahnhof den Ernstfall: Einen Angriff auf die Hauptstadt. (Foto: picture alliance / photothek.de | Florian Gaertner)

Wenn es tatsächlich zu einem Krieg innerhalb des NATO-Gebiets kommen würde, bräuchte es massenhaft deutsche Soldatinnen und Soldaten: 460.000, so heißt es in den Regierungspapieren, seien für den Beitrag zur Bündnisverteidigung nötig.

Im Bendlerblock hat man deshalb ein Modell für eine neue Wehrpflicht entwickelt. Erstmals seit ihrer Aussetzung vor 14 Jahren sollen ab dem kommenden Jahr Zehntausende neue Rekruten ausgebildet werden. Ein großer Teil der Truppe müsse aber aus der Reserve kommen.

Der neue Kurs ist nicht ohne Widerstand. In Großstädten bildeten sich in den vergangenen Wochen erste Demonstrationen. Es ist das alte Motto, neu verpackt: „Unsere Kinder kriegt ihr nicht.“

Die Deutschen werden zunehmend mit der Aussicht auf einen Krieg konfrontiert, in Talkshows, mit Bildern wie aus dem Berliner U-Bahnhof. Doch die Vorbereitungen laufen auch im Hintergrund auf Hochtouren: Im Spätsommer bekamen Bürgermeister und Landräte landesweit Besuch von hochrangigen Vertretern der Armee, wie CORRECTIV offenlegte. 

Es ging darum, was im Kriegsfall auf ihre Kommunen zukommen wird – wie Feuerwehren, Hilfswerke und Polizeien unterstützen müssen. Zusammengefasst sind diese Prozesse im sogenannten „Operationsplan Deutschland“, einem mehr als tausend Seiten starken Dokument. Aktuelle Ausschreibungen auf der Vergabeplattform der EU zeigen zudem, dass Deutschland zehntausende Modularzelte und Feldbetten beschaffen will. In vielen Kasernen werden neue Unterkunftsgebäude gebaut.

Die Munitionsproduktion läuft indes wie am Fließband: Rheinmetall will in seinem neuen Werk im niedersächsischen Unterlüß bis zu 350.000 Schuss Artilleriemunition im Jahr herstellen. Der Rüstungskonzern findet sich als Munitionslieferant mehrfach auf der Bestellliste aus dem Verteidigungsministerium. 

Auch im deutschen Mittelstand herrscht angesichts der Pläne der Bundesregierung Goldgräberstimmung: Der deutsche Verteidigungsindustrieverband teilte kürzlich mit, man werde von neuen Mitgliedsanfragen „überrannt“. Die Zahl der Unternehmen, die ihre Produktion von Maschinenbau oder Automobilteilen auf Rüstung umstellen wollen, hat sich binnen eines Jahres beinahe verdoppelt, von 243 auf 440.

„Dass die deutsche Rüstungsindustrie drängelt, finde ich politisch bedenklich“, sagt Experte Brzoska. „Was passiert denn mit all den neu aufgebauten Kapazitäten, wenn der Bedarf der Bundeswehr gedeckt ist? Oder wenn es hinsichtlich Russlands anders kommt, als wir glauben?“ Den Unternehmen bliebe dann, so analysiert der Forscher, nur noch der Waffenexport.

80 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen. Die Erfahrung von Vernichtungskrieg, Schuld und dem Zusammenbruch der Nation führte dazu, dass breite Teile der Bevölkerung das Thema Krieg lange Zeit mieden. Deutschland setzte auf Wiederaufbau, wirtschaftliche Stabilität und eine politische Kultur der Abrüstung und der internationalen Zusammenarbeit. 

Doch der Wandel hin zur Kriegsmaschine, zur neuen Militärmacht, ist in vollem Gange. Er betrifft uns alle.

Text: Till Eckert
Recherche: Martin Böhmer, Till Eckert, Stella Hesch, Alexej Hock
Design: Mohamed Anwar, Rose Mintzer-Sweeney, Hans Spieß, Phillip Waack
Redaktion: Anette Dowideit, Gesa Steeger
Faktencheck: Gesa Steeger
Credits Videomaterial: Rheinmetall (Header), Ibrahim Naber / Welt (Drohnenangriff)