Nutzt die Polizei bald Gesichtserkennung? So reagieren Polizeivertreter, Datenschützer und Bürger darauf
Das Innenministerium plant neue Befugnisse für Polizei und BKA – inklusive Gesichtserkennung, KI und Zugriff auf Internetfotos mittels Datenbanken. Was Datenschützer – darunter der ehemalige Datenschutzbeauftragte des Bundes – und Polizeigewerkschaft sagen.
Moskau, März 2024: Aufnahmen einer Beerdigung. Hunderte sind gekommen, um Kremlkritiker Alexej Nawalny die letzte Ehre zu erweisen und zu demonstrieren. Wenige Tage später nimmt die russische Polizei mehrere Menschen fest. Mutmaßlich, weil sie auf Videoaufnahmen erschienen waren: Damals sagte ein Sprecher der russischen NGO OVD-Info, dass die Polizei Teilnehmer nach der Veranstaltung mittels Videoaufnahmen und neuen Technologien zur Gesichtserkennung verfolgt und gefunden haben könnte.
Diese Technologien sind grundsätzlich nichts Neues: Was dabei zum Einsatz kommt, ist Biometrie, die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, einzigartige Eigenschaften von Menschen zu messen. Diese Eigenschaften können neben dem Fingerabdruck zum Beispiel das Gesicht, das Gangprofil, die Augen oder sogar die Stimme sein. Biometrie hilft dabei, eine Person sicher zu erkennen, weil jeder Mensch andere Merkmale hat, die sich nicht ändern.

Biometrische Datenanalyse wird bereits in Ländern wie Singapur, Neuseeland, China und den USA angewendet oder etabliert, meist für Grenzkontrollen und Sicherheitsanwendungen. Wer zum Beispiel schon einmal in die USA eingereist ist, musste dort seinen Fingerabdruck lassen.
Auch in der EU wurde das System bereits eingeführt und zuletzt am Flughafen Düsseldorf angewendet. Die Datenanalyse könnte neue Möglichkeiten für Sicherheitsbehörden eröffnen, etwa für die Bekämpfung von Kriminalität oder um Terrorverdächtige zu finden.
Ampelregierung scheiterte 2024 an der Ausweitung des Systems
2024 wollte die Ampelregierung dieses System unter Nancy Faeser (SPD) ausweiten: Mit dem sogenannten „Sicherheitspaket“ sollte die „Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden“, wie das BMI damals schrieb. Unter anderem sollte Terrorbekämpfung mit Hilfe von biometrischer Gesichtserkennung und automatisierter Datenanalyse verbessert werden.
Geplant war, dass etwa das Bundeskriminalamt (BKA) und die Bundespolizei Befugnis erhalten, biometrische Daten aus öffentlich zugänglichen Internetquellen abzugleichen. Ziel war es, damit mutmaßliche Terroristen und Tatverdächtige schneller zu identifizieren und zu orten. Das Gesetz scheiterte jedoch teilweise am Bundesrat.

BMI unter Dobrindt will das „Sicherheitspaket“ wieder auf die Tagesordnung setzen – Datenschützer warnen
2025, das BMI führt jetzt Alexander Dobrindt (CSU), wird eben jenes „Sicherheitspaket“ wieder neu besprochen. Netzpolitik veröffentlichte den Entwurf. Wieder steht eine deutlich stärkere Digitalisierung in der Polizeiarbeit zur Debatte, sowie biometrische Datenanalyse und KI-gestützte Ermittlungssoftware. Auch von einem Einsatz der Software des US-Konzerns Palantir ist die Rede.
Und wieder warnen Datenschützer; darunter das Deutsche Institut für Menschenrechte, Amnesty International, Algorithmwatch oder die Gesellschaft für Freiheitsrechte.
So auch Ulrich Kelber: Von 2019 bis 2024 war er der Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, zudem ist er Professor für Datenethik an der Hochschule Bonn/Rhein-Sieg. Er verweist in einer Antwort an CORRECTIV darauf, dass „auch schon eine nicht-flächendeckende biometrische Überwachung ein tiefer Eingriff in die Grundrechte“ wäre. „Auf anlasslose Überwachung muss konsequent verzichtet werden.“

Eine weitere Kritik zeigt sich an der Datenbank, die für eine biometrische Datenanalyse notwendig wäre. Hierfür ließen bereits erwähnte Organisationen ein Gutachten anfertigen, das zeigte: „Es ist technisch nicht umsetzbar, frei verfügbare Bilder aus dem Internet für einen Abgleich praktikabel durchsuchbar zu machen.“
Dies macht große biometrische Datenbanken zum Kern solcher Systeme – zugleich aber auch zum zentralen Streitpunkt in der Debatte um Massenüberwachung. Denn das anlasslose Sammeln und Speichern von Fotos zur Erstellung solcher Datenbanken ist nach der EU-KI-Verordnung verboten. (CORRECTV berichtete hier zur KI-Verordnung.)
Wovor Datenschützer noch warnen
Während das Innenministerium noch berät, schlagen Expertinnen und Datenschützer Alarm.
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sagt auf CORRECTIV-Nachfrage, Gesichtserkennung und andere biometrische Abgleiche würden „tief in unsere Privatsphäre“ eingreifen. „Fast jede Person hat heute Fotos im Internet, oft auch ohne Wissen oder Zustimmung. „Der Aufbau einer biometrischen Vorratsdatenbank würde den Grundstein für Massenüberwachung legen und wäre eindeutig rechtswidrig“, so Simone Ruf von GFF.
Doch selbst ohne Datenbank stelle jeder Abgleich einen massiven Eingriff in die Freiheit dar: Wenn alle jederzeit identifiziert werden könnten, würde „Anonymität unmöglich, mit gravierenden Auswirkungen für Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit“. Außerdem seien die eingesetzten KI-Systeme fehleranfällig und würden besonders marginalisierte Gruppen diskriminieren.
Algorithmwatch geht noch weiter. Pia Sombetzki, Senior Policy Managerin, sagt: „Die Kosten in Euro und Cent sind das eine – die Kosten für unsere Grundrechte das andere. Einmal eingeführt, sind biometrische Überwachungssysteme der Schlüssel in der Hand derer, die die Tür hinter der Demokratie für immer verschließen wollen.“
Sombetzki verweist auf den eingangs beschriebenen Fall in Russland. „Wenn jetzt Bundesinnenminister Dobrindt der Polizei solche Abgleiche erlauben will, setzt er das falsche Zeichen“, so Sombetzki.
Das sagen Sie – unsere Leserinnen und Leser – zum Vorhaben
Nach der letzten Berichterstattung hierzu im SPOTLIGHT-Newsletter erreichten CORRECTIV zahlreiche Zuschriften. Viele waren der Idee gegenüber positiv gestimmt: „Wir sollten den jetzigen Rechtsstaat mit allen modernen Mitteln unterstützen, damit er sichtbar gut funktioniert“, hieß es. Oder: „Terroristen, ausländische Geheimdienste und Extremisten nutzen moderne Techniken wie KI und Gesichtserkennung.“ Da dürften die Polizei, das BKA und der Bundesnachrichtendienst (BND) „nicht hinten anstehen.“
Aber ebenso häufig zeigte sich Sorge. Unter anderem sei es „nicht auszudenken“, wenn Parteien wie die AfD „an die Macht kommen und dann auf unsere biometrischen Daten zugreifen können“. Auch Sorge vor dem US-Konzern Palantir wurde mehrfach verdeutlicht. Klar machte etwa dieser Leser: „Ich will nicht Verbrechern an der Demokratie Tür und Tor öffnen.“
Und eine weitere Leserin ergänzte: „Überwachung stellt uns alle unter Generalverdacht. Wenn wir eine freie Gesellschaft wollen, dann muss die Freiheit jedes Bürgers und jeder Bürgerin geschützt werden. Auf sämtliche Überwachungs-Spielereien muss verzichtet werden.“
Gewerkschaft der Polizei: Die Digitalisierung ist schon jetzt „schwerfällig“
Bei all den Ideen von Dobrindt und dem BMI stellt sich weiter die Frage: Wie realistisch wäre denn Stand jetzt der Einsatz solcher Technologien im polizeilichen Alltag überhaupt? Ist Deutschland schon so weit? CORRECTIV befragte hierzu die Gewerkschaft der Polizei (GdP).
Der Bundesvorsitzende Jochen Kopelke antwortete: „Der Einsatz ist realistisch.“ Aber sinngemäß sagt Kopelke auch, die Polizei ist noch nicht da, wo sie sein sollte: „Die Polizeibehörden haben weiterhin zentrale Probleme bei der allgemeinen Digitalisierung.“
Als Beispiel nennt Kopelke das IT-Projekt „P20“: Mit diesem Programm (hier PDF dazu einsehen) soll die polizeiliche IT-Architektur „harmonisiert und modernisiert“ werden. Die deutsche Polizeiarbeit werde sich dadurch „grundlegend ändern“, steht dazu auf der Webseite des BMI. Das Projekt sei aber „schwerfällig“, so Kopelke. Es adressiere die „Bedarfe der Kolleginnen und Kollegen zu wenig und zu langsam“.
P20 schafft dabei die technische Basis und Infrastruktur, die auch für die Nutzung und Einbindung von KI und im Weiteren Biometrie-Anwendungen notwendig ist. Dies bestätigte Kopelke. Er verwies aber darauf, dass die eigenständigen Landespolizeibehörden „auch unabhängig von P20 die landeseigenen Voraussetzungen schaffen können“.
Was das Ministerium (nicht) sagt
CORRECTIV fragte außerdem das Innenministerium:
- nach den geschätzten Gesamtkosten für Entwicklung, Betrieb und Datenschutzmaßnahmen biometrischer Analysesysteme.
- Nach der rechtlichen Begründung des Entwurfs trotz erheblicher Kritik von Juristinnen und Datenschutzbeauftragten.
- Nach der Einschätzung des Ministeriums zum Spannungsverhältnis zwischen effizienterer Strafverfolgung und den Risiken für Datenschutz und Freiheitsrechte.
- Sowie nach möglichen Evaluations- oder Testphasen mit unabhängiger Kontrolle und verpflichtender Rückmeldung.
Zu keiner dieser Fragen gab es Auskunft. Eine Sprecherin des BMI erklärte lediglich: „Derzeit erfolgt die Ressortabstimmung zu den Gesetzentwürfen zur Stärkung digitaler Ermittlungsbefugnisse in der Polizeiarbeit und zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus.“

TAB und FITKO sind bisher nicht involviert
Weiter befragte CORRECTIV zwei Institutionen zum Gesetzentwurf, die genau dafür da sind, staatliches Handeln bei digitaler Transformation und Technikfolgen kritisch zu begleiten und zu beraten. Doch beide sind bislang nicht eingebunden.
- FITKO: Die Föderale IT-Kooperation hilft dabei, dass verschiedene Behörden in Deutschland bei Computern und Technik gut zusammenarbeiten, damit die Behörden ihre Aufgaben besser und digital erledigen können. Im Falle des Gesetzentwurfs sagt ein FITKO-Sprecher, „in keine der genannten Verfahren noch Umsetzungen involviert“ zu sein. Zum Vorhaben äußerte er sich auch sonst nicht.
- TAB: Das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag untersucht, welche Folgen neue Technologien für Gesellschaft, Umwelt, Recht und Ethik haben können. Es berät den Bundestag mit wissenschaftlichen Analysen, damit politische Entscheidungen gut informiert getroffen werden können. Das TAB arbeitet zwar nicht automatisch zu jedem Gesetzentwurf, sondern auf Auftrag des Bundestags.
Wenn aber ein Gesetz so tief in Grundrechte, Überwachung und Datenschutz eingreift wie ein biometrisches Verfahren – wäre es da plausibel, dass es frühzeitig die Folgen untersucht? Ulrich Kelber sagt auf CORRECTIV-Nachfrage: „Wir brauchen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, eine Überwachungsgesamtrechnung und Technikfolgenabschätzung, bevor(!) die Politik einschneidende Maßnahmen beschließt.“ Aber auch das TAB erklärte, es bearbeite „derzeit kein Projekt, das sich mit dem Themenfeld befasst“.
Ehemaliger Bundesdatenschutzbeauftragter: „Mehr Zeit nehmen“
Abschließend empfiehlt Kelber den Bundestagsabgeordneten, bei der Entscheidung über das Gesetz nicht vorschnell zu handeln. Sollte die Regierung es versäumen, die „notwendigen gesellschaftlichen Debatten“ und „wissenschaftliche/technische Untersuchungen“ durchzuführen, müsse das Parlament selbst diese Verantwortung übernehmen und sich ausreichend Zeit für eine fundierte Entscheidung nehmen. „Das macht mehr als eine einfache Anhörung notwendig.“
Text: Samira Joy Frauwallner
Redigat: Ulrich Kraetzer, Anette Dowideit, Till Eckert
Faktencheck: Till Eckert