Türkei

Wie ich ins Fadenkreuz eines Mafiabosses geriet

Youtube-Videos des bekannten Mafiabosses Sedat Peker lassen aktuell die Machtzentrale der Türkei erzittern: Er will belegen können, dass Erdoğans Umfeld mit der Mafia zusammenarbeitet. Das hat eine gewisse Ironie – denn auch ich bin bereits in Pekers Fadenkreuz geraten.

von Can Dündar

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Der Mafiaboss Sedat Peker, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Can Dündar. (Screenshot: ARD-Mediathek / Collage: WDR)

Die türkische Politik wird aktuell aufgemischt wie noch nie – ausgerechnet von einem Mafiaboss. Immer mehr hochrangige Figuren aus dem Umfeld des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mussten aufgrund seiner Enthüllungen in den vergangenen Jahren ihre Plätze räumen.

Sedat Peker will mit dem politischen Establishment der Türkei abrechnen. Seine Anschuldigungen sind schwer: Die Politik und die organisierte Kriminalität seien miteinander verwoben. Seit 2021 veröffentlicht er dazu regelmäßig Videos auf Youtube. Sie ziehen die Menschen in ihren Bann.

Ich selbst recherchiere seit vielen Jahren zu fragwürdigen Beziehungen zwischen der Regierung und der Mafia in meinem Heimatland. Es hat eine gewisse Ironie, dass gerade Peker nun offenbar zum Kronzeugen für das Thema wird. Denn wir beide haben eine Geschichte. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte diese Geschichte 2016 mit meinem Tod enden sollen.

Das ist die Geschichte eines Mafiabosses, der von Erdoğans Verbündeten zu seinem Feind wurde – und jetzt Jagd auf dessen Regime macht.

Peker drohte mir, als ich wegen meiner Recherchen im Gefängnis saß

Mein erster Berührungspunkt mit dem Paten Sedat Peker änderte mein Leben für immer. 

Im Jahr 2015 veröffentlichte ich eine große Recherche über illegale Waffenlieferungen der Erdoğan-Regierung an islamistische Milizen in Syrien. Das gefiel dem Präsidenten nicht. „Der Mann, der diesen Bericht verfasst hat, wird teuer dafür bezahlen. Den lasse ich nicht einfach so davonkommen“, sagte er damals.

Die türkische Regierung versuchte, meine Recherche zu widerlegen. Ohne Erfolg.  Trotzdem wurde ich verhaftet. Während ich im Gefängnis saß, wurde ich zur Zielscheibe eines besonders gefährlichen Mannes: Peker. Er adressierte mich persönlich in einem Facebook-Beitrag. „Zu Can Dündar sage ich: Wenn ihr versucht, Terroristen wie ihn aus dem Knast zu befreien, hängen wir sie draußen an Bäumen auf – und die im Gefängnis an den Fahnenmasten.“

Nur drei Monate nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde ein Attentat auf mich verübt. 

Ich überlebte. Der Täter jedoch wurde umgehend freigelassen. Ich wusste: In der Türkei war es nicht mehr sicher für mich. So ging ich nach Deutschland ins Exil. Hier lebe ich seitdem unter Polizeischutz.

Jetzt hat Peker, der mich einst mit dem Tod bedroht hat, offenbar die Seiten gewechselt – und ich versuche, seine Enthüllungen zu analysieren.

Pekers Bande wurde erst zu einer Pro-Erdoğan-Miliz, dann musste er untertauchen

Man muss Peker als Quelle natürlich sehr kritisch sehen. Schon als junger Mann war er Anführer einer kriminellen Bande, die sich als Problemlöser für die kleinen Leute anbot. 

Oft bleibt diesen Menschen keine Wahl: „Geht es zum Beispiel um einen Mietstreit, eine Scheidung oder Unterhalt, können die Leute oft ihre Angelegenheiten nicht mehr vor Gericht regeln“, sagt Figen Çalıkuşu, die in Antalya als Anwältin praktiziert. „Weil die Gerichte oft zugunsten der Mächtigen urteilen, weil vor Gericht Geld eine Rolle spielt, gehen die Leute im Dreieck Geld-Mafia-Justiz mittlerweile den Weg, der ihnen am nächsten liegt, der am attraktivsten und einfachsten für sie ist.“

Das nutzen die mafiösen Strukturen natürlich aus. Wie auch Peker. Mehrfach wurde er inhaftiert und verurteilt: wegen Bildung krimineller Vereinigungen, Schutzgelderpressung, Anstiftung zum Mord.

Nach einer zehnjährigen Haftstrafe kam Peker frei und vertiefte anschließend seine Beziehungen zur Regierung. Er startete durch. Milliyet, eine der größten türkischen Zeitungen, kürte ihn 2017 sogar zum „wohltätigsten Geschäftsmann des Jahres“. 

Und so wurde aus Pekers krimineller Bande eine Art Pro-Erdoğan-Miliz. Seine Machtbasis: Die rechts-nationalistischen Grauen Wölfe.

Erdoğans und Pekers Familien stammen beide aus Rize, einem Küstenort am Schwarzen Meer. Kurz vor den Wahlen 2015 rief Peker zur Unterstützung Erdoğans auf. Kritikern drohte er mit Gewalt. „Wir lassen sie alle ausbluten, als wäre der Welt die Hauptschlagader durchtrennt“, sagte er damals. 

In dieser Zeit verließen viele Menschen das Land; gerade die, die sich für eine friedliche Lösung für den sogenannten Kurdenkonflikt aussprachen. Pekers Einsatz für Erdoğan scheint erfolgreich: er blieb an der Macht. Auch 2019 mobilisierte Sedat Peker seine Anhänger. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Istanbul damals behauptete er indirekt, die Opposition würde Parteimitglieder „auf die Straßen schicken“, sollten sie die Wahl gewinnen. Die Leute sollten sich Waffen besorgen und sich „vorbereiten“. 

Die Masse skandierte: „Sag schieß und wir schießen. Sag stirb und wir sterben.“

Sedat Peker 2019 auf einer Wahlkampfveranstaltung in in Istanbul. (Screenshot: ARD Mediathek)

Nach Ansicht der Menschenrechtsanwältin Çalıkuşu nutzt das Erdoğan-Regime die Mafia gezielt: „Damit erhöhen sie ihre Macht und festigen zugleich ihr autoritäres, repressives Regime auf brutale Weise. Sie verbreiten Angst und Schrecken.“

Im Jahr 2020 dann wendete sich das Blatt für Peker. Sein Erzrivale, der Boss einer weiteren Bande, wurde aus dem Gefängnis entlassen: Alaattin Çakici. Dieser galt wohl als Favorit des ultranationalistischen Regierungspartners. Und es gibt nur offenbar Platz für einen Paten. Peker musste untertauchen.

Währenddessen wurde sein Haus durchsucht, in Anwesenheit seiner Frau und seiner Tochter. Aus Pekers Sicht war das eine unverzeihliche Kränkung. In einem Youtube-Video von 2021 sagte er: „Um einer Träne meiner Tochter willen, würde ich die Welt in Brand setzen, bei Gott, das würde ich tun.“

Der Staat, dem er einst diente, verfolgte ihn nun per internationalem Haftbefehl. Peker setzte sich nach Dubai ab. Dort bereitete er einen Rachefeldzug vor. „Ihr habt versucht, mich zum Schweigen zu bringen, indem ihr meine Kinder bedroht. Das aber war euer größter Fehler“, sagte er in einem weiteren Video.

Und so wurde der einstige Verbündete Erdoğans zu seinem Feind. 

Peker geht mit seinen Videos viral – und viele Behauptungen passen zu meinen Recherchen

Das erste Video, das Peker auf YouTube veröffentlichte, sahen in kürzester Zeit rund eine Million Menschen. Plötzlich lieferte der Mafiaboss Hinweise und Belege zu Recherchen, die uns Journalisten jahrelang beschäftigt haben. Dafür hat er sich quasi ein Studio eingerichtet.

Vieles, was er behauptet, passt zu meinen eigenen Recherchen. Er spricht von hochrangigen Politikern und Vertretern staatlicher Organisationen mit Kontakten zu kriminellen Gruppen. Er bringt sie in Verbindung mit Auftragsmorden, mit gewalttätigen Attacken gegen die Medien und der Bedrohung von Oppositionellen. Und das alles im engen Umfeld von Präsident Erdoğan.

Peker in einem seiner Youtube-Videos. (Screenshot: ARD-Mediathek)

In seinem ersten Video berichtet Peker, wie die politische Führungsebene der Türkei in den Drogenhandel involviert sei. Wichtig dafür sei der Ort Bodrum, ein kleiner Ort an der türkischen Ägäis. Offenbar ist er nicht nur für Touristen beliebt, sondern auch ein Umschlagplatz für Kokain. Die Türkei wird laut offiziellen Berichten immer wichtiger als Transitland für den Stoff aus Lateinamerika. Die Menge habe sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht. 

Der Luxus-Yachthafen „Yalıkavak Marina“ bei Bodrum war lange in Händen eines aserbaidschanischen Oligarchen. Im Jahr 2018 dann wurde jedoch ein Gefolgsmann von Erdoğan, der frühere Innenminister Mehmet Ağar hier als Manager eingesetzt. 

Und kaperte so den gesamten Hafen, wie Peker in seinem Video andeutet.

Ein Foto von 2020 hat dazu eine besondere Bedeutung. Darauf zu sehen ist Alaattin Çakici, der Mafiapate und Rivale von Peker, zusammen mit Ağar, dem ehemaligen Innenminister einem Ex-Soldaten und hohen Tier der Grauen Wölfe und einem ehemaligen Offizier, der mit etlichen staatlichen Morden in Verbindung steht. 

Man stelle sich vor, ein ehemaliger deutscher Innenminister, ein deutscher Mafiaboss und zwei Generäle der Bundeswehr würden den Hamburger Hafen übernehmen. Sie posieren gemeinsam für ein Foto und sagen: „Ab jetzt haben wir das Kommando.“

Von links: Alaattin Çakici, ein Mafiapate und Rivale von Peker, zusammen mit Mehmet Ağar, dem ehemaligen Innenminister einem Ex-Soldaten und hohen Tier der Grauen Wölfe und einem ehemaligen Offizier, der mit etlichen staatlichen Morden in Verbindung steht. (Screenshot: ARD Mediathek)

Über Jahre habe ich beobachtet, wie Mehmet Ağar aufstieg: Vom Polizeichef, zum Parlamentsabgeordneten bis hin zum Innenminister. Eigentlich sollte er den Terror der PKK bekämpfen – doch sie wurde im Grunde mächtiger, zu einer schmutzigen Einheit, die mit Drogenbanden kooperierte. Ağar saß damals als Polizeipräsident an den Schaltstellen, er konnte Waffen verteilen und falsche Ausweise ausstellen, um seine Leute zu decken. Unter seiner Leitung wurde ein Nachrichtendienst der Polizei gegründet, auf dessen Kosten etliche politische Morde gingen.

Einer der gefälschten Ausweise ging offenbar an den international gesuchten Anführer einer kriminellen Bande. Das kam bei Ermittlungen zu einem Autounfall mit einem Mercedes heraus, bei dem er und seine Freundin starben. Damals ebenfalls im Auto: ein konservativer Abgeordneter und der stellvertretende Polizeipräsident von Istanbul. Dieser hätte den Verbrecherboss eigentlich festnehmen sollen. 

Mehmet Ağar wurde erst 15 Jahre später nach der Aufhebung seiner politischen Immunität verurteilt. Fünf Jahre Gefängnis für die „Führung einer kriminellen Vereinigung“. Ein Jahr später kam er allerdings wieder frei. Er unterstützte Erdogans Partei, die AKP, wurde rehabilitiert und letztlich zum Hafenmanager in Bodrum. Erst nach Pekers Videos im Jahr 2021 wurde der politische Druck auf Ağar so groß, dass er zurücktreten musste.

Das nächste Ziel Peker war Süleyman Soylu, damals Innenminister. Unter ihm habe Peker staatlichen Schutz genossen; und er sei es gewesen, der Peker dazu bewegte, ins Ausland zu gehen. Daraufhin tauchten Fotos auf, die kriminelle Bandenführer gemeinsam mit Soylu in seinem Büro im Innenministerium  zeigen.  

2023 wird Soylu von Erdoğan aus dem Kabinett entfernt. Pekers zweiter Schlag.

Die Türkei fragt sich: Wie viel weiß Peker noch?

Ein Video von Sedat Peker war für mich besonders spannend. Denn darin geht es um die Geschichte, die mich damals ins Gefängnis gebracht hat.

Peker erzählt darin von Waffenlieferungen der türkischen Regierung nach Syrien – und er sagt, die Lastwagen für den Transport seien von ihm gestellt worden. 

Wie ich selbst damals recherchiert hatte, gingen die Waffen, anders als von Erdoğan behauptet, nicht nur an die turkmenische Minderheit in Syrien. Sondern auch an islamistische Extremisten. Peker behauptet, die LKWs wurden von der Gruppe „Sadat“ geschickt. 

Viele halten die Organisation „Sadat“ für die Logistiker hinter Erdoğans Kampf gegen die Opposition. Quasi die Wagner-Gruppe der Türkei. Sie half 2016 auch, den Putschversuch gegen Erdoğan niederzuschlagen. Der Gründer der Gruppe ist Adnan Tanriverdi, ein ehemaliger Militäroffizier, der zu Erdoğans oberstem Sicherheitsberater wurde.

Die Spur führt direkt in den Präsidentenpalast. Die Videos des Mafiabosses Sedat Peker zeigen Wirkung. Ein hochrangiger Politiker nach dem nächsten muss den Posten räumen. Die Türkei fragt sich: Wie viel weiß Peker noch? Und wie brenzlig wird es möglicherweise für Erdoğan selbst?

Bisher gibt dieser sich gelassen und residiert weiter in seinem Präsidentenpalast in Ankara. Die türkische Botschaft in Berlin reagierte nicht auf meine Bitte um eine Stellungnahme zu Pekers Enthüllungen. Erdoğan selbst teilte mit, man werde nicht ruhen, bis die Verbrecher ausgeliefert werden – und meint damit Sedat Peker. Dessen Antwort lässt nicht lange auf sich warten. 

In einem weiteren Video deutet Peker an, er und Erdoğan hätten persönlich miteinander zu tun gehabt: „Im nächsten Video werden wir darüber reden, wann wir uns kennenlernten, wann wir uns trafen. Gemeinsam. Unter Brüdern.“ Und: „Mit nie gesehenen Beweisen werde ich belegen, was ich erzähle. Wir werden uns Absolution erteilen.“

Seither warten die Menschen in der Türkei – und auch ich persönlich – auf Pekers nächsten Streich. Angeblich soll das Video bereits produziert worden sein. 

Doch noch bleibt es still auf dem Kanal des Paten. 

Zu diesem Thema ist auch eine Dokumentation entstanden. Sie ist in der ARD-Mediathek abrufbar.