Dialog in Dessau: Ideen, wie eine Stadt barrierefrei werden kann
Barrieren im Alltag betreffen viele Menschen. In Dessau luden MDR Sachsen-Anhalt, die Mitteldeutsche Zeitung und CORRECTIV zum Dialog ein, was gebraucht wird, um am öffentlichen Leben teilzunehmen.
Die gläserne Drehtür fügt sich unauffällig in die Glasfassade des langgezogenen Museumsbaus ein. Ein kleines Bild daneben zeigt: Kinderwagen passen hier nicht durch. Rollstühle auch nicht, aber wer klingelt, bekommt Zugang zu einem anderen, barrierefreien Eingang. Auf einem Bildschirm begrüßt eine Frau Besuchende in Gebärdensprache, es gibt tastbare Elemente und taktile Leitsysteme, die blinden und sehbehinderten Menschen die Orientierung ermöglichen. „Barrierearm“, sagt Anne Scheider von der Stiftung Bauhaus über das Museumsgebäude. Man habe versucht, so viele Barrieren wie möglich abzubauen, aber vollständig barrierefrei sei es noch nicht.
Unter der Frage „Wie zugänglich ist Dessau?“ haben CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT zu einem Teilhabe-Forum ins Bauhaus eingeladen. Die Veranstaltung ist Teil des Projekts „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“.
Diese Recherche ist Teil des crossmedialen Projektes „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“ von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT zur Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt. Zur CrowdNewsroom-Umfrage und den mobilen Redaktionen in Dessau, Halberstadt und Tangermünde gibt es hier mehr Informationen.
Das Museum wurde 2018 gebaut, demnach mussten und konnten viele Standards umgesetzt werden. Anders sieht es bei den hundert Jahre alten Bauhausbauten in der Stadt aus. Anne Schneider sagt, hier stünde der Denkmalschutz der Barrierefreiheit im Weg.
Anne Schneider ist eine von drei Podiumsgästen, die CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT eingeladen hatten: In Anlehnung an eine Fishbowl- Diskussion sind die weiteren feste Plätze durch Jacqueline Lohde, Bürgermeisterin und Beigeordnete für Bauen und Stadtgrün und Cornelia Lüddemann, Fraktionsvorsitzende der Landtagsfraktion Bündnis90/Die Grünen und Sprecherin für Mobilität, Landesentwicklung und Ländliche Räume der Grünen Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt besetzt.
Manfred Grimm und Anja Clement vom Behindertenbeirat Dessau nehmen den mobilen Platz ein. Marc Rath, Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung, führt durch den Abend, der von zwei Gebärdenprachdometscherinnen übersetzt wird.
DIN 18040, die Grundnorm für barrierefreies Bauen, gilt seit 2014 und in Sachsen-Anhalt ist sie Teil der „Technischen Baubestimmungen des Landes“ und somit verpflichtend. Darin ist beispielsweise geregelt, welche Türbreite erforderlich ist, damit Menschen mit Rollstuhl durchkommen, wie hoch Schwellen sein können, damit sie noch passierbar sind oder auch wie taktile Orientierungshilfen beschaffen sein sollen.
Doch nicht immer wird die Norm eingehalten, das ärgert die Architektin Anja Clement. Sie ist aktives Mitglied des Behindertenbeirats der Stadt Dessau-Roßlau und auch im Behindertenbeirat des Landes Sachsen-Anhalt. Clement hat Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, eine fortschreitende Erkrankung der Bewegungsneuronen, die zu Muskellähmung führt. Sie kennt die Stadt als gehende Person, Person mit Rollator und nun als Mensch im Rollstuhl. Anja Clement setzt sich für Teilhabe ein, für den Abbau von Barrieren. Laut Clement sei damit gemeint, dass Menschen mit Behinderung selbständig, also ohne Hilfe agieren können – auch wenn das inzwischen nicht mehr auf sie zuträfe.
Barrierefreiheit kommt allen zugute
Nicht abgesenkte Bordsteine, unüberwindbare Stufen, unebene Gehwege, nicht vorhandene Aufzüge und kurze Ampelschaltungen sind einige Barrieren, auf die die Menschen in der Stadt Dessau-Roßlau stoßen. Jacqueline Lohde, die seit einem Jahr als Bürgermeisterin und Beigeordnete für Bauen und Stadtgrün im Amt ist, macht sich Notizen und sagt, sie sei gekommen, um Feedback einzusammeln. Sie verweist darauf, dass bei städtischen Bauprojekten die Expertise des Behindertenbeirats eingeholt würde. Sie sei aber auch darauf angewiesen, dass Betroffene Bedarf anzeigen und sie auf Barrieren aufmerksam machen, man müsse vor allem dort investieren, wo Bedarf besteht, sagt sie.
„Falsch“, sagt die Mutter einer querschnittgelähmten Tochter, „es ist andersherum, ich muss frei sein in der Wahl.“ Beispielsweise bei der Wahl des Wohnortes.
Auch kommt an dem Abend immer wieder zur Sprache, dass die Bevölkerung von Dessau-Roßlau die zweitälteste Deutschlands ist und sämtliche Maßnahmen zur Barrierefreiheit auch älteren Menschen in der Stadt zugutekommen. Ein Gast warnt auch davor, das Thema zu zerstückeln, denn was für den Rollstuhl gut wäre, sei für den Kinderwagen und den Rollator ebenso von Vorteil.
Expertise von Betroffenen bei Planungsprojekten
Die Landtagsabgeordnete Lüddemann erinnert daran, dass es früher Stadtteilspaziergänge gegeben habe, bei denen gemeinsam mit Betroffenen Wege geprüft und Barrieren identifiziert worden seien. Im Hintergrundgespräch erklärt die Behindertenbauftragte Daniela Koppe, dass diese Spaziergänge wieder aufgenommen werden, um die Stimmen aus der Bevölkerung einzusammeln.
Die Stadtteilspaziergänge weisen auf unbemerkte Hindernisse hin. Das zeigt sich in der Präsentation von Anja Clement, für die sie extra eine Tour durch Dessau unternommen hat, um alle Hindernisse zu fotografieren: es sind Bilder von Kabelführungen über die Straße oder eine Regenrinne, direkt hinter dem Bordstein, Dinge, die ihr vorankommen im Alltag mit Rollstuhl behindern. Einige der Beispiele sind bereits in der CrowdNewsroom Karte von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT eingezeichnet. Eine Frau aus dem Publikum mit Hörbeeinträchtigung merkt an, sie persönlich könnte überall Punkte setzen, denn sie stoße mit ihrer Behinderung überall auf Barrieren.
Stück für Stück oder das große Ganze?
Als es um die Umsetzung geht, verweist die Politikerin Lüddemann darauf, dass die Umsetzung der Barrierefreiheit nicht bloß eine Frage des guten Willens sei, sondern Pflicht. 2009 habe Deutschland die UN-Behindertenkonvention ratifiziert und sich damit zur Umsetzung verpflichtet, das hätten aber manche Entscheider noch nicht verstanden.
Doch wie man diese Pflicht angehe, darüber herrscht Uneinigkeit. Während Lüddemann einen Umsetzungsplan fürs große Ganze wichtig findet, schlägt die Baubürgermeisterin Lohde vor, Barrierefreiheit Schritt für Schritt anzugehen und vor allem an konkreten Beispielen zu arbeiten.