Barrierefreiheit

Unsichtbare Barrieren: Autismus im Erwachsenenalter

Autismus bleibt oft unentdeckt und führt zu unsichtbaren Hindernissen im Alltag. Zudem gibt es nach CORRECTIV-Recherchen zu wenig Diagnosestellen – jahrelange Wartezeiten sind die Folge.

von Duška Roth , Chiara Swenson

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In einer CORRECTIV-Ausstellung in Tangermünde konnten sich Besucher anhören, welche Hindernisse Autisten im Alltag erfahren. © Chiara Swenson

Denise blickt nach links und rechts, Panik steigt in ihr auf. Bis eben wusste sie noch, wo sie ist und wohin sie wollte, jetzt hat sie sich verirrt. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen ist sie auf dem Weg zur Arbeit, doch heute müssen sie in ein neues Gebäude. Auf einmal sieht für sie alles gleich aus. Ihr wird die Situation zu viel. Am liebsten würde sie sich jetzt in eine Ecke setzen und schreien. Aber wie sollte sie das ihren Kollegen erklären? Veränderungen bringen Denise aus der Fassung, manchmal wird sie dann laut. Bei ernsten Gesprächen im Büro muss sie mit den Tränen kämpfen. Wenn sie aber Gefühle äußern soll, setzt sie das unter Druck. Die Merkmale von Denise deuten auf Autismus hin. Eine offizielle Diagnose hat sie bislang nicht. 

Im Rahmen des Projektes „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“ von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT haben wir bereits viele Menschen in Sachsen-Anhalt kennengelernt, deren Barrieren sichtbar sind: Rollstuhlfahrer, Sehbeeinträchtigte, ältere Menschen mit Gehhilfe. Sie haben uns ihre Hindernisse gezeigt. Doch nicht alle Barrieren sind auf den ersten Blick erkennbar. Womit Denise kämpft, können andere Menschen von außen nicht nachvollziehen. 

Deshalb treffen wir sie zusammen mit weiteren Mitgliedern einer lokalen Selbsthilfegruppe für Autisten im Landkreis Stendal. Welche Barrieren begegnen Autisten im Alltag und in welchen Situationen fehlt ihnen Unterstützung? Im Gespräch wird deutlich: Die Barrieren für Autisten beginnen bereits bei der Diagnose. Vor allem für erwachsene Menschen. 

Diese Recherche ist Teil des crossmedialen Projektes „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“ von CORRECTIV und MDR SACHSEN-ANHALT zur Barrierefreiheit in Sachsen-Anhalt. Zur CrowdNewsroom-Umfrage und den mobilen Redaktionen in Dessau, Halberstadt und Tangermünde gibt es hier mehr Informationen.

Eine von 100 Personen ist autistisch

In Sachsen-Anhalt sind 5.510 autistische Personen in ärztlicher Behandlung bei den gesetzlichen Krankenkassen gemeldet. Das sind etwa 0,28 Prozent der Bevölkerung des Landes. Nicht erfasst sind nicht-diagnostizierte Autistinnen und Autisten, sowie diejenigen, die nicht in ärztlicher Behandlung oder Selbstzahlende sind.

Statistiken darüber, wie viele Menschen in ganz Deutschland autistisch sind, gibt es keine. Aber Experten gehen davon aus, dass von 100 Personen eine autistisch ist. Das entspricht ungefähr der Häufigkeit von Schizophrenie. Wer zu Autismus recherchiert, merkt jedoch schnell: Im Vergleich zu Schizophrenie weist das Behandlungssystem große Lücken auf.

Die Wartelisten sind lang

Autismus kann von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie oder Neurologie sowie in spezialisierten Autismus-Therapie-Zentren (ATZ) diagnostiziert werden. Allgemeine Hausärzte können die Diagnose nicht ausstellen, lediglich nach einem Verdacht eine Überweisung zum Facharzt veranlassen.

CORRECTIV hat 15 Kliniken, Autismuszentren, Autismusambulanzen und psychotherapeutische Praxen mit Spezialisierung auf Autismus in Deutschland befragt. Mit dem Ergebnis: Keine der Stellen hat freie Termine, alle verweisen auf eine Warteliste. 

Auf vielen Internetseiten weiterer Diagnosestellen steht sogar, die Warteliste für ein diagnostisches Verfahren bei Erwachsenen sei vorerst geschlossen. Beispielsweise auf der Webseite der Charité, der Uniklinik München, der Uniklinik Frankfurt am Main, des Evangelischen Krankenhauses Berlin oder des Neuropsychiatrischen Zentrums Hamburg.

Wenn es Wartelisten gibt, sind sie lang. Das geht aus der Umfrage von CORRECTIV und mehreren Gesprächen mit Psychologen und Psychiatern hervor. Patientinnen und Patienten müssen sich im Schnitt auf eine Wartezeit von mehr als zwölf Monaten einstellen. Eine Klinik gibt sogar Wartezeiten von bis zu vier Jahren an.

Bei manchen Stellen erfolgt die Terminvergabe deshalb nur an einem Tag für das ganze nächste Jahr. Denise kann das bestätigen. Ihr erster Versuch, in Leipzig, rund 200 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, einen Wartelistenplatz zu bekommen, scheiterte schon an der Kontaktaufnahme: „Da war null Durchkommen, das Telefon war ständig besetzt. Innerhalb von zwei Stunden waren die Leitungen dann wieder zu, weil alle Termine vergeben wurden.“

Deutschlandweit hat CORRECTIV knapp 70 Zentren, Ambulanzen und Praxen identifiziert, die Diagnostik für Autismus bei Erwachsenen anbieten. Hinzu kommen mutmaßlich noch niedergelassene Ärzte und Therapeutinnen, es gibt jedoch keine zentrale Suchmaschine dafür. Weder die Dachverbände der gesetzlichen Krankenkassen, noch die Bundespsychotherapeutenkammer führen offizielle Listen über solche Stellen. In der Arztsuche der Kassenärztlichen Vereinigung werden Diagnosestellen speziell für Autismus nicht aufgeführt.

Wenn Autismus undiagnostiziert bleibt

Autistische Menschen zeichnen sich aus medizinischer Sicht durch soziale, kommunikative und Verhaltensunterschiede aus. Zum Beispiel fällt es ihnen schwer, soziale Situationen einzuschätzen und Emotionen ihres Gegenübers einzuordnen. Reaktionen von Autisten können deshalb in der Wahrnehmung von anderen unpassend oder ungeschickt wirken.

Während viele Menschen im Kindesalter diagnostiziert werden, passen sich andere Betroffene an ihr Umfeld an und lernen, für Autismus typische Verhaltensweisen zu verbergen. Das wird auch „Masking“ genannt. Viele fallen vermutlich auch gerade deshalb durchs Raster; ihre Verhaltensweisen werden nicht als autistisch erkannt. Auch eine Studie der Uniklinik Köln von 2011 legt die Vermutung nahe, dass eine nennenswerte Zahl im Kindes- und Jugendalter nicht diagnostiziert worden ist. 

Das könnte auch auf Denise zutreffen. Als Kind sei sie verhaltensauffällig gewesen, sie habe den Unterricht gestört, sei abgehauen, erzählt sie. Sie war bereits in Kliniken und therapeutischer Behandlung. Auf Autismus getestet wurde sie nicht.

Spätestens im Erwachsenenalter suchen Menschen wie Denise eine Erklärung. Wie viele Menschen genau, ist nicht bekannt. Sie haben Schwierigkeiten, auf Neues zu reagieren oder bestimmte äußere Reize zu verarbeiten und stoßen mit ihren Reaktionen auf Unverständnis der Umwelt.

Das könnte der Grund sein, wieso Denise sich in dem unbekannten Gebäude verirrt und überfordert gefühlt hat. Ohne eine Diagnose bleibt die Erklärung aus. Nachteilsausgleiche oder andere Formen der Unterstützung erfordern einen Nachweis. Das permanente Masking raubt Betroffenen zusätzlich Kraft und erhöht das Risiko, Depressionen und Angstzustände zu entwickeln. Eine Studie der Universität Cambridge von 2022 hat aufgezeigt, dass unter den untersuchten Personen, die durch Suizid gestorben sind, zehn Prozent diagnostizierte und nicht-diagnostizerte autistische Menschen waren. 

Es fehlt an Fachwissen 

Autistische Kinder sprechen nicht, sind unempathisch, drehen sich weg. Solche stereotypen Vorstellungen von Autismus sind längst widerlegt. Selbst die Einteilung in verschiedene Autismus-Typen wurde mit der neuen internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-11) abgeschafft. Mittlerweile weiß man: Autistische Menschen bewegen sich in einem Spektrum von verschiedenen Merkmalen. Wie stark diese ausgeprägt sind, ist individuell. Angepasstes Verhalten kann diese Merkmale ebenfalls verschleiern und somit die Diagnostik erschweren. 

Auch Beccs hat lange Zeit nach einer Erklärung gesucht. Beccs ist Mitte 20 und hat wie die meisten erwachsenen Autisten Strategien entwickelt, sich nach außen hin anzupassen: „Ich habe gelernt: Wie muss ein Gesicht aussehen, wie muss es wirken? Wenn ich Menschen nicht in die Augen schauen kann, dann in die Stirn: Drei Sekunden warten, wegschauen, wieder hinschauen“, erklärt Beccs.

Beccs berichtet von mindestens zwei Allgemeinärzten, die eine Autismus-Diagnose deshalb für ausgeschlossen hielten. Auch Denise war mehrere Jahre Patientin von verschiedenen Ärzten, ohne dass jemand Autismus in Erwägung zog. Mehrere Studien, unter anderem von der Autismus-Forschungs-Kooperation (AFK), kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Es fehlt an Fachwissen bei Allgemeinmedizinern und psychologischen Psychotherapeuten. Gegenüber CORRECTIV betonen mehrere Psychologen und Psychiater, dass Autismus innerhalb der Ausbildung kaum vorkomme. Sie fordern deshalb mehr Schulungen und Fortbildungen zu Autismus bei Erwachsenen. 

Ärzte müssen eine Lebenszeitdiagnose stellen

Petia Gewohn ist psychologische Psychotherapeutin und hat sich bereits im Studium auf Autismus spezialisiert. In ihrer Hamburger Praxis bietet sie Diagnostik und Therapie bei autistischen Erwachsenen an. „Autistische Menschen können in der Gesellschaft leben, ohne dass es auffällt. Sie erscheinen im sozialen Bereich vielleicht etwas unbeholfen, aber können sich über bestimmte Themen gut unterhalten“, erklärt sie. Jahrelanges Masking, also bestimmte Verhaltensweisen zu verschleiern oder zu unterdrücken, erschwert die Diagnostik. Dafür brauche es viel persönliche Zeit mit dem Patienten. Gewohn sagt, sie leiste regelmäßig unbezahlte Arbeit. 

Hinzu kommt: Neurologische Ausprägungen, die als neurodivergent bezeichnet werden, wie Autismus, sind meist angeboren. Deshalb ist eine Diagnostik bei Erwachsenen sehr aufwändig: „Wenn man eine Depression diagnostiziert, hat man festgelegte Kriterien, man sortiert nach leicht, mittel oder schwer. Aber bei der Autismus-Diagnostik muss vielseitig begründet werden: ‚Warum ist die Person ein Leben lang nicht als autistisch aufgefallen?‘“, erklärt Petia Gewohn. Psychologen und Psychiaterinnen müssen also im Nachhinein eine Lebenszeitdiagnose stellen.

Wie zeitaufwendig das ist, weiß Kai Vogeley, Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Kognition an der Uniklinik Köln: „Wir sammeln Grundschulzeugnisse, Hefte und Fotos. Wir müssen uns vergewissern, dass über verschiedene Bereiche hinweg ähnliche Symptome auftreten: Kindergarten, Schule, Arbeit, Familie, Freundschaft.“ 

Hinzu kommt, dass Autismus nach außen hin Ähnlichkeiten mit anderen Beeinträchtigungen aufweist. Es brauche deshalb eine besonders gute Differentialdiagnostik, um Autismus von sozialen Ängsten und beispielsweise Persönlichkeitsstörungen abzugrenzen, erklärt der Psychiater. Falsche Diagnosen könnten laut Vogeley auch erheblichen Schaden anrichten. 

Beccs und Denise haben das beide erlebt. Während Denise mit den anderen Diagnosen keine Hilfe fand, haben sich bei Beccs dadurch Ängste und Selbstzweifel festgesetzt.

Ausgeklammert aus dem System

In Deutschland leben etwa genauso viele Menschen mit Autismus wie mit Schizophrenie. Doch der Umgang innerhalb des Gesundheitssystems weist große Unterschiede auf: Schizophrene Menschen werden in Ambulanzen, Psychiatrien oder von niedergelassenen Psychiatern behandelt. Die Diagnostik ist fester Bestandteil der Facharztausbildung und klar strukturiert. Es gibt Medikamente dafür. 

Diagnosen auf Autismus sind zeitaufwendig und kompliziert. Wer sich dennoch aus eigenem Interesse auf die Diagnostik spezialisiert hat, kann sich allein dadurch nicht finanzieren. 

„Das hat dazu geführt, dass die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, kurz AWMF, dafür plädiert hat, dass es solche Fachzentren gibt“, sagt Kai Vogeley. Die Idee dahinter: Ein niedergelassener Arzt oder Psychiater äußert einen Verdacht auf Autismus und schickt die betroffene Person zu einem spezialisierten Zentrum. Dort können die aufwändigen und zeitintensiven Diagnosen durchgeführt werden.

Die Anfragen wegen Diagnosen nehmen zu 

Doch auch die Warteliste bei Vogeley ist lang, zwei Jahre muss man sich gedulden. „Wir haben über tausend Menschen auf der Warteliste. Über unser Telefon kommen mindestens 20 neue Anmeldungen pro Woche, mit E-Mail wären es bestimmt 50 neue Anmeldungen“, sagt Vogeley. Das, was der Facharzt beschreibt, berichtet auch der Großteil der auf Autismus spezialisierten Ambulanzen und Fachzentren, die CORRECTIV befragt hat. Fast alle betonen zudem, dass die Anfragen wegen einer Diagnose bei Erwachsenen in den letzten Jahren zugenommen haben.

Beccs hat mittlerweile eine Diagnose bekommen. „Jetzt ergeben Dinge Sinn. Es ist so, als ob mir jemand plötzlich einen komplett neuen Werkzeugkoffer in die Hand gedrückt hätte“, sagt Beccs. „Ich weiß jetzt, dass ich andere Kommunikationsbedürfnisse habe. Statt zu versuchen, mir etwas anzueignen, das ich nicht kann, schlage ich Anderen eine Kommunikation vor, die auch für mich funktioniert.“ 

Denise weiß noch nicht, wie ihre Chancen auf eine Diagnose stehen, sie hat aber einen Wartelistenplatz bei einem Neurologen in Magdeburg bekommen. Wann sie endlich an einen Termin kommen könnte? Frühestens in einem Jahr. 

Auch die Geschichte von Denise war Teil der Ausstellung in der mobilen Redaktion von CORRECTIV und dem MDR SACHSEN-ANHALT in Tangermünde.

Ihre Geschichte und die von fünf anderen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen war Teil einer Audio-Ausstellung, die wir im Rahmen des Beteiligungs-Projektes „Stopp! Wo kommst du nicht voran?“ in Tangermünde organisiert haben. 

Krankheit, Störung oder sozial ausgeschlossen? Das medizinische Modell versus das soziale Modell von Behinderung 

Früher wurde Behinderung oft als Krankheit gesehen. Behinderung ist ein Defizit, also führt dazu, dass jemand etwas nicht kann. Als Grund dafür wurde die Behinderung selbst gesehen. In unserem Gesundheits- und Sozialsystem werden Begriffe aus dem medizinischen Modell genutzt, die Defizite betonen: Zum Beispiel „schwerbehindert“ oder „Autismus-Spektrum-Störung“. Unser Sprachgebrauch wird davon beeinflusst: Wir sagen, dass Menschen an Autismus leiden oder anders als normale Menschen sind.

Menschen mit Behinderung rein nach medizinischen Kriterien zu betrachten, widerspricht dem Übereinkommen der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Diese Konvention von den Vereinten Nationen hat auch Deutschland ratifiziert. Trotzdem wird das medizinische Modell im Sprachgebrauch und im allgemeinen Umgang mit Behinderungen immer noch verwendet.

Das soziale Modell sagt: Menschen werden behindert. Weil unsere Gesellschaft nicht inklusiv ist. Weil es Barrieren und Ausschluss gibt.

 Im Autismus-Spektrum wird beispielsweise die Formulierung „Identity-First“ bevorzugt: Statt von Menschen mit Autismus wird von autistischen Menschen gesprochen. Autismus wird außerdem nicht als Erkrankung oder Störung betrachtet, sondern ist eine Form von Neurodiversität.

 In unserem Text haben wir versucht, Wörter aus dem medizinischen Modell nur dann zu benutzen, wenn es notwendig ist: An den Stellen, wo es inhaltlich um medizinische oder rechtliche Fragen rund um Autismus in Deutschland geht. Wir haben außerdem versucht, bestimmte Aspekte des sozialen Modells zu beachten. Demnach nutzen wir die „Identity-First“-Formulierung und die Wörter, die autistische Gesprächspartner und -partnerinnen für sich selbst gewählt haben.

Diese Recherche ist in Zusammenarbeit mit Lisa Steiner entstanden, die als freie Journalistin in Wien arbeitet und selbst autistisch ist. Außerdem hat uns die inklusive Redaktion andererseits unterstützt. Mehr Informationen: https://andererseits.org/

Text und Recherche: Chiara Swenson, Duška Roth
Mitarbeit: Lisa Steiner
Redaktion: Justus von Daniels
Kommunikation: Valentin Zick