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Buch: Ein erkämpftes Leben

Wie ein früheres Heimkind als Pharmazeutin Medikamentenversuche in deutschen Kinderheimen aufdeckte – und jetzt einen Roman daraus gemacht hat.

von Cristina Helberg

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Erst hat sie einen der größten Medikamenten-Skandale an Heimkindern aufgedeckt. Jetzt hat Sylvia Wagner einen Roman über das Thema geschrieben. Foto: Ivo Mayr / Correctiv

Sylvia Wagner wird 1964 in einem Säuglingsheim im Ruhrgebiet geboren. Ihre Mutter darf sie noch fünf Tage lang stillen, dann wird sie von ihrer Tochter getrennt. Sylvia selbst wird das erst viele Jahre später erfahren. Ihr Leben ist in den ersten Jahren vor allem eins: fremdbestimmt. Sie wächst erst im Kinderheim auf, später in einer Pflegefamilie. Und doch wird Sylvia Wagner erreichen, was vielen anderen Kindern des Heimsystems verwehrt bleibt. 

Sie schreibt ihre Lebensgeschichte selbst. Sie erkämpft sich ihren Platz in der Gesellschaft, die Heimkinder bis heute oft verleugnet und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, relativiert. 

Als Pharmazeutin und promovierte Wissenschaftlerin weist sie systematische Medikamentenstudien in deutschen Kinderheimen bis in die 1970er Jahre nach: Kindern wurden dort tausendfach ohne Zustimmung Medikamente, unter anderem neuartige Psychopharmaka mit schwersten Nebenwirkungen, verabreicht. Eine zynische Praxis: An wehrlosen Kindern wurde teilweise getestet, wie Medikamente wirken. Oder sie wurden mit überdosierten Spritzen ruhiggestellt. „Betonspritzen“ seien sie genannt worden, erzählt Wagner. Die Kinder seien danach tagelang wie gelähmt gewesen. „Kotzspritzen“ war eine andere Form: Danach erbrachen sich die Kinder unkontrolliert.

Wagner findet auch Belege für Versuche mit neuen Impfstoffen an Säuglingen und hirnchirurgische Eingriffe an Kindern. Ehemalige KZ-Ärzte waren an der medizinischen Gewalt beteiligt. Sie deckt den größten Skandal von Medikamenten-Versuchen der Bundesrepublik auf. 

Wie es ist, als Betroffene und Expertin zugleich, diese Taten aufzuarbeiten, beschreibt Sylvia Wagner in ihrem im CORRECTIV-Verlag erschienenen Roman „heimgesperrt“. Es ist das Buch einer Befreiung; über missbrauchte Heimkinder, eine menschenverachtende Pharmaindustrie und den geglückten Versuch, das alles ans Licht zu bringen.

Heimgesperrt
Sylvia Wagner
251 Seiten
20,00 €

 

Sylvia Wagner hat sich dieses Leben nicht ausgesucht. „Es ergab sich so. Es brach auch in mein Leben ein“, sagt die Protagonistin Hannah im Buch und so hat sich auch Wagner immer wieder gefühlt. Auch wenn sie betont, dass sie nicht die Romanfigur Hannah sei. Das Buch „heimgesperrt“ beruht auf den wissenschaftlichen Arbeiten Wagners und ihren Gesprächen mit ehemaligen Heimkindern. Deren Einzelschicksale wurden miteinander vermischt, fiktionalisiert und verwoben mit eigenen Erlebnissen der Autorin. „Die Geschichten haben sich nicht wie beschrieben zugetragen, hätten sich aber so ereignen können“, schreibt Wagner im Vorwort. 

Alles, was Sylvia Wagner über ihre frühe Kindheit weiß, hat sie selbst über Jahre Stück für Stück zusammengetragen. Es ist ein unvollständiges Mosaik aus kindlichen Erinnerungen, bürokratischen Schreiben, wenigen vergilbten Fotos und den Erzählungen Anderer. Dazwischen klaffen Lücken, gefüllt mit Fragen. 

Sylvia Wagner erinnert sich an die Zeit im Heim – es gibt nur wenige Dokumente und Bilder. Foto: Ivo Mayr / Correctiv

Diese Ungewissheit, die sie mit vielen Heimkindern teilt, beschreibt auch die Protagonistin Hannah im Roman: „Kein Mensch kann sich an seine frühe Kindheit erinnern. Aber die meisten Menschen haben doch Fotos von sich als Baby. Wie sie von ihrer Mutter oder dem Vater auf dem Arm gehalten werden, wie sie im Bettchen liegen, im Kinderwagen sitzen, die ersten Gehversuche machen. Aber all das haben diejenigen, die im Säuglingsheim waren, in der Regel doch nicht. Es gibt keine Erinnerung an die Zeit, keine Fotos, die das Gedächtnis ersetzen könnten, niemand, der einem verrät, welches Wort man als erstes gesprochen hat. Es ist die prägendste Zeit im Leben eines Menschen. Das Fundament. Es ist zerbrechlich.“ 

Im Heim: Sie wusste kaum etwas über sich

Sylvia Wagner ist 13, als sie in den Schränken ihrer Pflegeeltern heimlich nach diesem Fundament sucht. Sie will mehr über sich wissen als die Schnipsel, die sie hier und da aufgeschnappt hat. Wenn mal wieder die Frau vom Jugendamt über sie, statt mit ihr spricht oder ihre Pflegemutter Briefe über Sylvia öffnet, die sie selbst nicht lesen darf. „Ich habe immer schon recherchiert und gesucht. Das hat sich durch mein Leben gezogen“, sagt sie rückblickend.  Auf den wenigen, rötlich vergilbten Fotos, die sie aus dieser Zeit besitzt, trägt Sylvia Schlaghose und Cordhemd. Sie ist größer als ihre Klassenkameradinnen. Aus der letzten Reihe blickt sie mit einem herausfordernden Lachen direkt in die Kamera. 

In einem Schrank ihrer Pflegeeltern entdeckt Sylvia schließlich einen Aktenordner, gefüllt mit Dokumenten ihres Lebens. Das erste Mal hält sie ihre Geburtsurkunde in der Hand. Erfährt, wo sie geboren wurde. „All diese Informationen wurden mir richtig verheimlicht“, sagt Sylvia Wagner und schiebt nach: „obwohl es ja mein Leben war und ist“. Die Deutungshoheit über ihr Leben ist bis heute keine Selbstverständlichkeit. 

Den nächsten Versuch, die Lücken im Mosaik ihrer Kindheit aufzufüllen, unternimmt sie erst nach ihrem 18. Geburtstag. „Ich wusste, dann habe ich ein Recht auf Akteneinsicht“. Sie fährt zu der kirchlichen Organisation, die sie mit sechs Jahren in die Pflegefamilie vermittelte. „Die Mitarbeiterin hat mir ein paar Seiten hingelegt. Davon war ganz viel geschwärzt“, erinnert sich Wagner. „Das kann doch nicht meine ganze Akte sein, habe ich gesagt.“ Doch die Mitarbeiterin weigert sich, mehr herauszugeben. Über das Jugendamt bekommt Sylvia Wagner schließlich doch die kompletten Dokumente zu sehen. Zwei dicke Aktenordner, in denen ihre Kindheit festgehalten war – aus Sicht des Heims und des Jugendamtes.

Sie sieht das erste Mal die Unterschrift ihrer Mutter. In einem anderen Brief, verfasst wenige Tage nach Sylvias Geburt, steht in Schreibmaschinenschrift „Der Mündel bleibt im Kinderheim“. Es geht in Behördensprache weiter. Amtsgericht. Vormundschaft. Kindesmutter. 

Sylvia sei ein „zartes, aber gesundes, widerstandsfähiges Mädchen“, schreiben die Nonnen. Aber auch, dass sie manchmal schwierig sei, „ein richtiger kleiner Draufgänger“. Auffälliges Verhalten lasse sich „durch geschicktes Dirigieren der Erzieher verringern“. Es klingt, als seien die Kleinkinder wilde Tiere, die von Dompteurinnen gezähmt werden.

Gebissen und gekratzt: Sie wehrte sich gegen die neuen Pflegeeltern

Die Berichte des Kinderheims wecken Erinnerungen. Nach manchen Seiten fühlt sich die 18-jährige Sylvia bestätigt. Situationen, die bisher nur in ihrem Kopf waren, finden sich in den Berichten der Nonnen wieder. Sie hat es sich nicht eingebildet. Andere Dokumente widersprechen ihrer Erinnerung. An eine Kennenlernzeit mit den Pflegeeltern kann sie sich nicht erinnern.

In Briefen ans Jugendamt steht, es habe mehrere Vorabtreffen gegeben. „Das ist eine glatte Lüge. Da stand auf einmal diese fremde Frau vor mir. Ich habe die nie vorher gesehen. Das weiß ich doch heute noch. Ich habe mich ja tierisch gewehrt mit Händen und Füßen. Ich habe sie gekratzt, gebissen, die hat mich rausgezerrt aus dem Heim. Ich kannte die nicht. Und ich wollte doch nicht einfach mit einer wildfremden Frau mitgehen“, beschreibt Wagner ihr erstes Zusammentreffen mit der Pflegemutter. Je düsterer die Erinnerungen werden, desto öfter schaut Sylvia Wagner aus dem Fenster. Das Sprechen fällt dann leichter. 

Die 18-jährige Sylvia erzählt niemandem von den neuen Erkenntnissen über ihr Leben. Sie ergänzt ihr Lebensmosaik und beginnt damit, ein eigenes Fundament darauf zu gießen. Sie zieht aus dem Haus ihrer Pflegeeltern aus, macht eine Ausbildung und studiert Pharmazie. Doch ganz kann sie ihre Vergangenheit nicht ablegen. 

Als sie zu einer Pflegefamilie kam, wehrte sie sich buchstäblich mit Händen und Füßen. Wieder war sie fremdbestimmt.  Foto: Ivo Mayr / Correctiv

In ihrem Pass steht noch immer der Name der Pflegeeltern. „Die haben durchgedrückt, dass ich ihren Namen kriege. Das war für mich grauenhaft. Das schnitt mich noch mehr von meiner eigenen Identität ab“, sagt Wagner rückblickend. Jahrelang versuchte sie, die Namensänderung rückgängig zu machen. „Ich bin mehrfach umgezogen. Jedes Mal bin ich als Erstes zum Standesamt in der neuen Stadt und habe versucht, meinen Namen zu ändern.“ In der vierten Stadt klappt es, kurz vor dem Ende des Studiums. Auf dem Zeugnis und der Approbationsurkunde steht ihr neuer alter Name. „Das war mir sehr wichtig, denn es war mein Verdienst, dieses Studium. Meine Pflegemutter hat immer so getan, als ob ich ganz dumm wäre. Die wollte auch auf keinen Fall, dass ich aufs Gymnasium gehe oder studiere“.

Noch heute freut sich Sylvia Wagner, wenn sie mit ihrem zurückgewonnenen Namen angesprochen wird. 

Medikamentenversuche wurden heruntergespielt

Nach dem Studium arbeitet sie als Pharmazeutin und ahnt nicht, dass das Thema ihrer Kindheit schon bald wieder präsenter werden wird. Ende der 2000er Jahre stößt sie durch Medienberichte mehrfach auf das Thema der ehemaligen Heimkinder. „Ich fand das toll, wie die sich organisiert haben, was die auf einmal für eine Power hatten, dass man nicht allein war. Ich war ja sonst immer allein mit meinem Schicksal.“

Bei einem Ehemaligentreffen hört sie das erste Mal von Betroffenen, die sich an Medikamente, schmerzhafte Therapien und verstörende Versuche in Heimen erinnern. Viele bitten sie, als Pharmazeutin dazu zu recherchieren. „Wenn ehemalige Heimkinder erzählt haben, dass sie Medikamente bekamen, wurde das immer abgetan“, erinnert sich Wagner.

Die Versuche waren näher, als sie damals ahnte. „Ich bin mehrfach da so dran vorbeigeschrammt. Ich habe gerade eben noch Glück gehabt, dass ich nicht im Behindertenheim gelandet bin, nicht für schwachsinnig erklärt worden bin. Dass ich mich durchsetzen konnte, aufs Gymnasium zu gehen. Es war aber immer irgendwie knapp, das hätte auch alles ganz anders passieren können.“

Noch 2010 stellte der vom Bundestag beauftragte „Runde Tisch Heimerziehung“ in seinem Abschlussbericht fest: „Ehemalige Heimkinder berichteten, dass sie im Heim Psychopharmaka einnehmen mussten und drangen darauf, diese Problematik im Rahmen des Runden Tisches zu behandeln. Trotz intensiver Bemühungen konnten dazu jedoch nur begrenzte Erkenntnisse gewonnen werden.“

Wagner fand heraus: Systematische Medikamentenstudien mit Heimkindern ohne Einwilligung

Sylvia Wagner lässt das Thema nicht los. Auch sie veröffentlicht erste wissenschaftliche Texte zu Arzneimittelstudien an Heimkindern. Neben viel Anerkennung hört sie über Dritte auch Kritik. Als Betroffene könne sie das Thema nicht wissenschaftlich und neutral aufarbeiten, heißt es. „Gerade, weil ich betroffen bin, konnte ich es aufarbeiten, weil ich eben ein besonderes Interesse daran hatte“, widerspricht Wagner. Ihre Stimme wird dabei lauter. „Wahrscheinlich wäre es bis heute nicht aufgearbeitet, wenn ich es nicht gemacht hätte.“

Ihr ist klar, sie muss ihre Recherchen absichern. „Es musste wissenschaftlich fundiert werden“. Deshalb entscheidet sie, im Rahmen einer Doktorarbeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf weiterzuforschen. Sie durchforstet medizinische Fachzeitschriften, Unterlagen von Pharmaunternehmen, Archive und Dokumente von Heimkindern. Bis sie schließlich nachweisen kann: Es hat bis Mitte der 1970er Jahre umfangreiche Medikamentenstudien an deutschen Heimkindern gegeben – ohne Einwilligung der Sorgeberechtigten. 

Die Gruppe der möglichen Betroffenen ist riesig. Etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche lebten in der Zeit von 1949 bis 1975 in Heimen in Deutschland. 

„Nicht nur, dass man die Versuche gemacht hat, sondern man hat die Betroffenen auch heute noch als unglaubwürdig dargestellt. Das ist wieder ein Schlag ins Gesicht“, sagt Wagner. „Ich konnte zeigen, dass es das doch gegeben hat. Andere Wissenschaftler konnten das bestätigen. Wenn Betroffene wegen einer Entschädigung klagen, wird das immer mehr mitberücksichtigt. Die Aufarbeitung kommt also tatsächlich direkt einigen Betroffenen zugute. Es kann nicht mehr abgestritten werden. Und das gibt mir natürlich Kraft“. 

Neben der Wissenschaft brauchte dieser Missbrauch eine weiteren Ausdruck: Der Roman

Doch zur Wahrheit gehört auch: Die jahrelange Recherche hinterlässt Spuren, besonders als Betroffene. Sylvia Wagner konnte nachts oft nicht schlafen, fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. „Ich wollte innerlich Abstand von dem Thema haben“, erinnert sie sich. Am liebsten würde sie mit dem Thema Heim abschließen. „Der Doktorhut saß auf meinem Kopf. Zeitungen und Hörfunk berichteten über die Medikamentenversuche an Heimkindern, die ich aufgedeckt hatte. Eigentlich wollte ich die Sache nun hinter mir lassen. Urlaub machen, im Meer schwimmen. Aber es ließ mich nicht los“, schreibt sie im Vorwort ihres jetzt erschienenen Buches.  

„Noch immer saßen die Geschichten in mir, hielten mich besetzt“. Wie ein Hamster mit vollgefressenen Backen habe sie die Last in sich gespürt, sagt Wagner. „Der sitzt da und bewegt sich nicht mehr.“ Es ist viel zusammengekommen. „Durch die Recherchen, was ich alles gelesen habe in den Archiven, was mir Betroffene erzählt haben und meine eigene Geschichte. Das ist einfach ganz viel, was sich in mir aufgestaut hatte. Die nüchterne Sprache einer wissenschaftlichen Arbeit transportiert nicht die Emotionen, nicht das Leid, nicht die Wut der Betroffenen.“

Sylvia Wagner entschließt sich für einen ungewöhnlichen Weg: Sie will sich den Hamster vom Leib schreiben. Es soll ein Buch werden, das ihr die Freiheit gibt, auch Gefühle zu beschreiben und gleichzeitig über Rechercheergebnisse zu berichten, die in ihrer Doktorarbeit keinen Platz mehr fanden.

Sylvia Wagner hat sich durch ihre wissenschaftliche Arbeit und das Buch frei gekämpft.  Foto: Ivo Mayr / Correctiv

Mit dem faktenbasierten Roman „heimgesperrt“ verbindet sie ihre Arbeit als Expertin und Wissenschaftlerin mit den Emotionen der Betroffenen. Viele Jahre hat sie versucht, diese zwei Seiten sorgfältig zu trennen. „Mit dem Buch führe ich beides das erste Mal zusammen“. In ihrem Roman macht sich die Protagonistin Hannah auf die spannende und emotionale Suche nach der Wahrheit und deckt schließlich nach und nach die Medikamentenversuche auf. Das Schreiben empfand Sylvia Wagner als befreiend. „Nach jedem abgeschlossenen Kapitel, hatte ich ein Glücksgefühl. Die Worte flossen wirklich fast so aus mir raus“. 

Opfer werden abgewimmelt, wenn sie Entschädigung fordern

„Der Hamster ist jetzt weg“, schreibt Sylvia Wagner, als ihr Buch fertig ist. „Dahingeflossen mit den Worten. Es fühlt sich gut an und leicht.“ Ein Stück von ihm stecke in jedem Kapitel.

Sylvia Wagners größte Hoffnung: Eine größere Leserschaft zu erreichen als mit einer rein wissenschaftlichen Veröffentlichung. „Es leben viele Heimkinder in der Gesellschaft, mitten unter uns, ohne sich zu outen. Es waren ja zigtausende Betroffene und diese Menschen werden immer noch zu wenig gehört und nicht ernst genommen. Viele leben bis heute in Armut. Sie brauchen Unterstützung, aber wenn sie einen Antrag auf Opferentschädigung stellen, werden sie abgewimmelt und abgewiesen.“

Spätestens wenn ältere Menschen betreut werden, sei das Thema jedoch für alle relevant. „Auch wenn man nicht im Heim war, steht man irgendwann vor der Frage: Komme ich ins Altersheim und werde vielleicht ruhiggestellt mit Medikamenten? Das betrifft nicht nur ehemalige Heimkinder. Es ist ein gesellschaftliches Thema. Wie gehe ich mit Mitmenschen um, die keine Lobby haben, die vulnerabel sind? Die Heimkinder sind nur eine Gruppe davon“. 

Für diese Gruppe ist Sylvia Wagner an ihre eigenen Grenzen gegangen, hat sich jahrelang durch Berge von Akten gewühlt, sich die Lebensgeschichten unzähliger Betroffener angehört und nun einen Roman geschrieben. „Unterschiedliche Aspekte der Erfahrungen ehemaliger Heimkinder fügen sich zusammen zu einem umfassenderen Bild der Heimgeschichte. Es ist ein Bild der Betroffenen“, schreibt sie über ihr Buch. 

Ein Mosaik aus vielen tausenden Teilen. Auch wenn Lücken bleiben.

Sylvia Wagners eigene frühe Kindheitsgeschichte wird ebenfalls unvollständig bleiben. Zu viele Dokumente fehlen, zu viele Menschen können ihre Geschichte nicht mehr erzählen. Mehr als vier Jahrzehnte nach ihrer Zeit im Heim hat Sylvia Wagner vor kurzem doch noch eine ehemalige Betreuerin gefunden, die sich an sie erinnern kann. „Wie war ich eigentlich so als Kind?“, hat sie die Frau gefragt. „Du warst sehr durchsetzungsfähig und hast dich immer für die anderen eingesetzt und die Schwächeren verteidigt. Da mussten wir immer schon aufpassen, dass du nicht unsere Erziehung hintertreibst“, antwortete die Seniorin. 

Es ist eine der seltenen Erinnerungen, die perfekt ins Mosaik passen. „Im Prinzip habe ich mit der wissenschaftlichen Arbeit und nun dem Roman genau das getan: Anderen geholfen und das System hintertrieben, in dem ich die Vertuschung der medizinischen Gewalt aufgedeckt habe“, sagt Sylvia Wagner. Sie ist sich treu geblieben und hat diesem Kampf viele Jahre ihres Lebens gewidmet.  „Nach der wissenschaftlichen Arbeit fehlte noch etwas. Mit dem Roman sind auch die Emotionen der Betroffenen dargelegt. Ich habe das Gefühl, das Thema jetzt abgeschlossen zu haben. Ich fühle mich befreit“. 

Redaktion: Justus von Daniels

Heimgesperrt
Sylvia Wagner
251 Seiten
20,00 €