Thüringen: Es ist unklar, ob Angela Merkel gegen das Grundgesetz verstoßen hat
Im Netz wird behauptet, Angela Merkel habe mit ihrem Statement zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen verfassungswidrig gehandelt. Das müsste ein Gericht klären – mehrere Rechtswissenschaftler gehen aber nicht von einem Verstoß aus.
Hat Kanzlerin Angela Merkel gegen das Grundgesetz und die Thüringer Verfassung verstoßen, als sie forderte, das Ergebnis der Wahl zum Ministerpräsidenten müsse rückgängig gemacht werden? Die Seite N23.TV behauptet dies in der Überschrift eines Artikels vom 17. Februar – und stellt es somit als Fakt dar, dass Merkel verfassungswidrig handelte. Der Artikel wurde laut dem Analysetool Crowdtangle mehr als 2.400 Mal auf Facebook geteilt.
Die Frage, ob sie gegen das Grundgesetz verstoßen hat, müsste das Bundesverfassungsgericht klären. Mehrere Rechtswissenschaftler sagen uns jedoch, sie seien der Ansicht, es liege kein Verstoß vor, zudem sei Merkel zudem nicht an die Thüringer Verfassung gebunden.
Zum Hintergrund: In Thüringen war der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD im Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Laut Angela Merkel brach dies mit einer Grundüberzeugung der CDU: dass keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollten. Da der Ausgang der Wahl absehbar gewesen sei, sei der Vorgang „unverzeihlich“. Merkel forderte, dass „das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss“. Die CDU dürfe sich nicht an einer Regierung unter Kemmerich beteiligen. Wenig später erklärte Kemmerich seinen Rücktritt.
Verstoß gegen Grundgesetz und Thüringer Verfassung?
Die Aussage, Merkels Forderung sei verfassungswidrig gewesen, ist die Meinung des Staatsrechtlers Karl Albrecht Schachtschneider, die er in einem Interview mit dem Compact-Magazin äußerte. Schachtschneider sitzt im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius Erasmus Stiftung.
Er sagte auf die Frage, ob Angela Merkel eine solche Forderung hätte stellen dürfen: „Diese Aussage verstößt gegen das Grundgesetz und auch gegen die Thüringer Verfassung – nämlich gegen das demokratische Prinzip, gegen das Bundesstaatsprinzip und auch gegen das Rechtsstaatsprinzip.“ Merkel habe Thomas Kemmerich nicht formal absetzen können, „aber ihre Aussage hatte eine politische Wirkung“.
CORRECTIV hat zwei Rechtswissenschaftler um eine Einschätzung gebeten. Sie sind anderer Meinung als Schachtschneider.
Merkel könne nicht gegen Thüringens Verfassung verstoßen, weil sie nicht an sie gebunden ist
Professor Christoph Schönberger von der Universität Konstanz schreibt uns per E-Mail: „Angela Merkel hat mit dieser Aussage weder gegen das Grundgesetz noch gegen die thüringische Verfassung verstoßen. Als Parteipolitikerin der CDU durfte sie diese Äußerung tätigen. Ihre Rolle als Bundeskanzlerin ist nicht für jede ihrer Äußerungen maßgeblich. Das hat das Bundesverfassungsgericht für Mitglieder der Bundesregierung in seiner sogenannten Schwesig-Entscheidung klargestellt.“ An die thüringische Verfassung sei die Kanzlerin zudem nicht gebunden.
Auch Walther Michl von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München sagt uns: Dass Angela Merkel gegen die Thüringer Verfassung verstoße, sei „abwegig“, da sie nicht an sie gebunden sei.
Dürfen Mitglieder der Bundesregierung in den politischen Wettbewerb eingreifen?
Die „Schwesig-Entscheidung“, auf die sich Schönberger bezieht, ist ein Urteil von 2014. Das Bundesverfassungsgericht wies eine Klage der NPD gegen die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) zurück. Sie hatte in einem Interview vor der NPD gewarnt und nach Ansicht der NPD damit gegen das Neutralitätsgebot von staatlichen Organen verstoßen. Das Verfassungsgericht entschied jedoch, Schwesig habe sich in diesem Fall als stellvertretende Vorsitzende der SPD und nicht als Bundesministerin geäußert. „Staatlichen Organen sei es zwar in amtlicher Funktion verwehrt, Parteien zu unterstützen oder diese zu bekämpfen. Handelten sie jedoch nicht in amtlicher Funktion, stehe es ihnen frei, wie jeder andere Bürger aktiv am Wahlkampf mitzuwirken und ihre Meinung frei zu äußern.“
In einem anderen Fall entschied das Verfassungsgericht jedoch anders: Die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) musste 2015 eine Pressemitteilung über die AfD („Rote Karte für die AfD“) von ihrer Homepage entfernen. 2018 urteilte das Gericht, sie habe damit das Recht der AfD auf Chancengleichheit im Wettbewerb politischer Parteien verletzt. Im Urteil heißt es: „Das Recht politischer Parteien, gleichberechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer politischen Partei oder von Wahlbewerbern in den Wahlkampf einwirken. […] Das gilt nicht nur im Wahlkampf, sondern darüber hinaus auch für den politischen Meinungskampf und Wettbewerb im Allgemeinen.“
Es kommt also auf den Einzelfall an. Mitglieder der Bundesregierung dürfen nicht die spezifischen Ressourcen ihres Regierungsamtes für den politischen Meinungskampf einsetzen. Johanna Wanka hatte die Pressemitteilung auf der Webseite ihres Ministeriums veröffentlicht, das war laut Verfassungsgericht nicht zulässig.
Wissenschaftler: Kanzlerin muss nicht völlig neutral sein
Auch Walther Michl sagt, bei der Frage, ob Angela Merkel gegen das Grundgesetz verstoßen habe, sei zu klären, ob sie sich als Parteipolitikerin oder als Bundeskanzlerin äußerte. In ersterem Fall sei ihre Aussage völlig unproblematisch. „Falls sie als Bundeskanzlerin gehandelt hat, ist die Frage, ob sie sich dann neutral gegenüber politischen Vorgängen in den Ländern und der Rolle der Parteien dabei verhalten muss.“
Michl verweist auf einen Artikel von Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin, vom 11. Februar auf dem Verfassungsblog. Er schrieb: „Dennoch bleibt die Vorstellung, die Bundesregierung sei einem Neutralitätsgebot unterworfen, irritierend. Denn als demokratisches Organ kann sie nicht anders, als sich politisch zu äußern – und zwar nicht nur, wenn ihre Angehörigen zugleich ein Parteiamt bekleiden.“
Walther Michl sagt, er halte die Wortwahl „rückgängig gemacht“ für „unglücklich“. Doch er schließe sich Möllers Meinung an: „Wenn aus dem Bundesstaatsprinzip folgen sollte, dass Frau Merkel sich nicht über Wahlen im Thüringer Landtag äußern darf, dann darf umgekehrt auch kein Ministerpräsident sich auf einer Pressekonferenz der Landesregierung über parteipolitisch umstrittene Vorgänge auf Bundesebene äußern. Das ist nach der bisherigen Praxis in der Bundesrepublik eine realitätsfremde Vorstellung.“