Nein, die WHO hat nicht verkündet, dass Covid-19-Infizierte ohne Symptome das Virus nicht übertragen können
In Sozialen Netzwerken kursieren Beiträge, in denen behauptet wird, die WHO habe verkündet, Covid-19-Infizierte ohne Symptome könnten das Virus nicht auf andere übertragen. Das ist falsch. Eine Aussage einer WHO-Epidemiologin sorgte für ein Missverständnis.
Mehrere Beiträge auf Facebook (zum Beispiel hier oder hier) suggerieren Anfang Juli, die Corona-Maßnahmen seien unnötig gewesen. Denn die WHO habe angeblich bekannt gegeben, dass Covid-19-Infizierte ohne Symptome das Virus nicht übertragen würden. In einem der Facebook-Beiträge heißt es zudem, die WHO habe aufgrund dieser Erkenntnis auch das Abstandhalten und das Tragen einer Maske als unsinnig bezeichnet. Auch in den USA kursieren zahlreiche solcher Beiträge, zum Beispiel hier auf Twitter.
Auch in der medialen Berichterstattung wurde die Behauptung, asymptomatische Personen seien nicht infektiös, teilweise verbreitet, beispielsweise von dem US-amerikanischen Nachrichten- und Meinungssender Newsmax.
Diese Behauptung ist jedoch falsch. Die WHO hat zwar am 8. Juni verkündet, dass Covid-19-Infizierte ohne Symptome das Virus laut einer Auswahl von Studien und Daten „sehr selten“ an andere übertragen würden. Allerdings nicht, dass es ausgeschlossen sei. Zudem ist hier die Unterscheidung zwischen Personen, die nie Symptome entwickeln und solchen, die noch keine Symptome zeigen, wichtig.
Behauptung 1: WHO verkündete, Covid-19-Infizierte ohne Symptome könnten das Virus nicht an andere übertragen
Maria Van Kerkhove, Epidemiologin und technische Leiterin für Covid-19 bei der WHO, sagte am 8. Juni in einer Pressekonferenz:
„Uns liegt eine Reihe an Berichten aus Ländern vor, die sehr detailliert Kontaktpersonen ermitteln. Sie verfolgen asymptomatische Fälle, sie verfolgen Kontakte, und sie finden keine Weiterübertragung. Es ist sehr selten, und vieles davon wird in der Literatur nicht veröffentlicht.“
Später betonte sie nochmals, „…nach den uns vorliegenden Daten scheint es noch immer selten zu sein, dass sich (das Virus) von einer asymptomatischen Person auf ein anderes Individuum überträgt.“
Übertragung von SARS-CoV-2 ist möglich, unabhängig davon, ob Infizierte Symptome zeigen oder nicht
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie SARS-CoV-2 von einer Person auf eine andere übertragen werden kann. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) ist der Hauptübertragungsweg „die respiratorische Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen“.
Zudem wird danach unterschieden, ob eine ansteckende Person zum Zeitpunkt der Übertragung auf eine andere Person
- bereits symptomatisch war,
- ob sie noch keine Symptome entwickelt hatte, oder ob sie
- auch später nie symptomatisch wurde („asymptomatische Infektion“).
Laut RKI ist vor allem die Übertragung von infektiösen Personen, die bereits Krankheitssymptome entwickelt haben, bedeutsam. Weiter betont das RKI, dass sich vermutlich auch ein „beträchtlicher Anteil“ an infektiösen Personen anstecke, die erst ein bis zwei Tage nach der Übertragung erste Symptome zeigen.
Nicht ausgeschlossen sei zudem die dritte Variante: „Schließlich gibt es vermutlich auch Ansteckungen von Personen, die zwar infiziert und infektiös waren, aber gar nicht erkrankten (asymptomatische Übertragung). Diese Ansteckungen spielen vermutlich jedoch eine untergeordnete Rolle.“
Auf diese Form der asymptomatischen Übertragung bezieht sich die Aussage Van Kerkhove, die für zahlreiche Diskussionen in Sozialen Netzwerken sorgte. Auch Wissenschaftler äußerten, dass sie die Aussage der Epidemiologin problematisch fänden, wie beispielsweise Ashish Jha, Mediziner und Dekan der Brown University School of Public Health, auf Twitter. Er schrieb, er vermute, die WHO unterscheide zwischen „asymptomatischen“ und „prä-symptomatischen“ Infizierten.
WHO-Expertin Kerkhove erklärt ihre Aussagen zur Coronavirus-Übertragung einen Tag später genauer
Maria Van Kerkhove sagte am 9. Juni in einer öffentlichen Fragerunde der WHO, sie wolle mögliche Missverständnisse aufgrund ihrer Aussagen vom Vortrag ausräumen. Es sei sicher, dass asymptomatische Personen die Krankheit übertragen können. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Übertragung jedoch eine „große Unbekannte“ sei (ab Minute 2:40 im Video).
Sie erläuterte außerdem, dass sie sich lediglich auf einige wenige, teilweise noch nicht veröffentlichte Studien und Daten bezogen hatte, die die WHO von Mitgliedstaaten erhalten habe und die versuchen würden, asymptomatische Fälle zu verfolgen. In diesem Kontext habe sie den Begriff „sehr selten“ verwendet. Es sei missverständlich, zu sagen, dass asymptomatische Übertragungen weltweit „sehr selten“ seien.
„Wir wissen, dass einige Menschen, die asymptomatisch sind, oder einige Menschen, die keine Symptome haben, das Virus weitergeben können“, sagte die Epidemiologin. Deshalb sei es wichtig, besser zu verstehen, wie viele infizierte Menschen in der Bevölkerung nie Symptome zeigen und wie viele dieser Personen das Virus tatsächlich an andere übertragen.
Es gebe bisher nur Schätzungen und eine große Spannbreite zwischen den einzelnen Modellierungen, „aber laut einiger Schätzungen könnten es 40 Prozent der Übertragungen sein, die auf asymptomatische Fälle zurückzuführen sind“ (ab Minute 4:25 im Video).
Wissenschaftlicher Kurzbericht der WHO betont, dass Übertragung durch asymptomatisch Infizierte selten, aber möglich ist
Am 9. Juli veröffentlichte die WHO zudem einen wissenschaftlichen Kurzbericht, in dem der aktuelle Forschungsstand zur Übertragbarkeit von SARS-CoV-2 zusammengefasst wird. Darin betont die WHO, dass es schwierig sei, die Weiterübertragung des Virus durch Infizierte ohne Symptome zu untersuchen.
Es sei jedoch möglich, Erkenntnisse zu gewinnen, indem Kontakte nachverfolgt und Fälle und Kontakte epidemiologisch untersucht werden. Weiter schreibt die WHO:
„Informationen aus den Ermittlungen der Kontaktverfolgung, die der WHO von Mitgliedstaaten gemeldet wurden, verfügbare Übertragungsstudien und eine aktuelle Vorstudie legen nahe, dass Personen ohne Symptome das Virus mit geringerer Wahrscheinlichkeit übertragen als diejenigen, die Symptome entwickeln. Vier Studien aus Brunei, Guangzhou in China, Taiwan und Südkorea ergaben, dass zwischen null und 2,2 Prozent derjenigen mit einer asymptomatischen Infektion andere infiziert haben, verglichen mit 0,8 bis 15,4 Prozent der Personen mit Symptomen.“
Es stimmt folglich nicht, dass die WHO mitgeteilt hat, dass ein Covid-19-Infizierter ohne Symptome das Virus nicht auf andere übertragen könne und das Tragen einer Maske oder das Abstandhalten deshalb sinnlos sei. Die Beiträge in Sozialen Netzwerken führen in die Irre. Infizierte Personen sind bereits ansteckend, bevor sie Symptome zeigen.
Die WHO erläuterte lediglich, dass die Übertragung durch Personen, die nie Symptome entwickeln, bislang recht selten nachgewiesen wurde. Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, empfiehlt die WHO weiterhin unter anderem, Abstand zu halten und eine Maske zu tragen.
Behauptung 2: Merkel umarmte einen Politiker während der Corona-Pandemie ohne Abstand
In einem der Beiträge auf Facebook vom 3. Juli über die WHO-Aussagen, der bisher mehr als 3.300 Mal geteilt wurde, wird zudem behauptet: „Die Regierung wusste das…deshalb halten sie selbst keinen Abstand ein, geschweige denn, dass sie Masken tragen, es sei denn, die Kameras laufen.“ Die Facebook-Nutzerin veröffentlicht zur Stützung ihrer These einen Screenshot von Angela Merkel, auf dem zu sehen ist, wie sie einen Mann umarmt. Das Bild sei „von heute“, schreibt die Nutzerin.
Recherchen von CORRECTIV zeigen: Das Foto entstand vor der Corona-Pandemie. Der Mann, den die deutsche Bundeskanzlerin umarmt, ist der portugiesische Premierminister António Costa. Die Aufnahme zeigt Merkel und Costa am 12. Dezember 2019 bei einem EU-Gipfel in Brüssel.
Bundeskanzlerin Merkel und der portugiesische Premier Costa umarmten sich im Dezember 2019
Die auf den Fotos der DPA von diesem Tag erkennbaren Kleidungsstücke – Merkel trägt einen roten Blazer mit Kragen, darunter ein schwarzes Oberteil, Costa trägt einen dunkelgrauen Anzug, dazu ein weißes Hemd – passen zu dem Screenshot im Facebook-Beitrag.
Durch eine Bilderrückwärtssuche ist CORRECTIV auf die Behauptung einer Nutzerin auf Twitter gestoßen, die Bilder seien vor Kurzem bei RTL ausgestrahlt worden.
Andreas Greuel, ein Pressesprecher von RTL, bestätigte das auf Nachfrage per E-Mail: „Es lief am 1. Juli bei RTL Aktuell und der Inhalt des Beitrags ist die Thematisierung der Ratsherrschaft Deutschlands der EU unter Einbezug auf diverse Archivbilder mit Blick in die vergangenen Jahre und Kanzlerin Merkel. Alles retrospektiv also. So wird es auch in der MAZ getextet.“
Das Material stamme von der Agentur EbS von der Europäischen Kommission und sei vom 12. Dezember 2019, so der RTL-Pressesprecher.
Bundeskanzlerin Merkel und der portugiesische Premier Costa umarmten sich folglich vor dem Beginn der Corona-Pandemie.
Immer wieder kursieren in Sozialen Netzwerken Behauptungen, Politikerinnen und Politiker, allen voran Angela Merkel, hätten trotz der Corona-Pandemie nicht ausreichend Abstand zu anderen gehalten – einige unserer Faktenchecks zeigten, dass als angebliche Belege immer wieder Archivbilder verwendet werden, zum Beispiel hier, hier und hier.