Privater „Demosanitäter“ verbreitet unbelegte Aussagen über Verletzte bei Corona-Protest in Berlin
In einem Video spricht ein Mann, der wie ein Sanitäter gekleidet ist, von 40 Verletzten und sieben Schwerverletzten bei der Demonstration am 18. November in Berlin. Er sagt, er sei von der Polizei weggeschickt worden. Das Video erweckt einen falschen Eindruck: Der Mann war nicht für einen Rettungsdienst im Einsatz. Die Feuerwehr kann seine Angaben nicht bestätigen.
In einem kurzen Video, das auf Youtube und Telegram kursiert, läuft ein Mann eine Straße hinunter, der wie ein Sanitäter oder Mitglied eines Rettungsdienstes gekleidet ist. Die Aufnahme wird im Kontext der Corona-Demonstrationen am 18. November 2020 in Berlin verbreitet.
Im Titel des Videos wird der Mann als „Sanitäter“ bezeichnet. Er behauptet: Es gebe 40 Verletzte, sieben Schwerverletzte und eine Person mit einem Herzinfarkt bei der Demonstration. „Wir haben auch Polizisten geholfen. Und die haben uns dann gedroht, uns zu verhaften, wenn wir weiterhin den Menschen hier helfen.“
Durch die Wir-Form der Erzählung des Mannes entsteht der Eindruck, er sei für einen Rettungsdienst im Einsatz gewesen. Das stimmt nicht. Unsere Recherche ergab: Der Mann ist dafür bekannt, privat zu Demonstrationen zu reisen. Die Feuerwehr kann seine Angaben zu den Verletzten nicht bestätigen.
Das Video entstand auf der Straße des 17. Juni in Berlin
Die Straße, auf der der Mann läuft, ist die Straße des 17. Juni in Berlin, zu erkennen an der Siegessäule in der Ferne. Am Straßenrand parken Einsatzwagen der Polizei. Es ist also plausibel, dass das Video im Kontext der Demonstrationen am 18. November entstand.
Es versammelten sich laut Medienberichten (hier und hier) mehrere tausend Menschen rund um das Brandenburger Tor (Platz des 18. März und Straße des 17. Juni). Sie protestierten gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung und eine Reform des Infektionsschutzgesetzes.
Der Versammlungsleiter habe die Demonstration auf der Straße des 17. Juni kurz nach 12 Uhr für beendet erklärt, teilte die Polizei auf Twitter mit. Die Menschen verließen den Ort jedoch nicht, wie der Tagesspiegel in seinem Liveblog berichtete. Die Polizei setzte wenig später Wasserwerfer ein. Laut RBB löste sich die Versammlung auf dem Platz des 18. März erst gegen 16 Uhr auf.
In dem Video mit dem Mann in Sanitäterbekleidung ist es noch sehr hell, es ist also mutmaßlich früher als 16 Uhr entstanden. Kurz nach 16 Uhr geht derzeit in Berlin die Sonne unter.
Um 20 Uhr teilte die Polizei mit, es seien an dem Tag zehn Beamtinnen und Beamte im Einsatz verletzt worden. Wie der Tagesspiegel in seinem Live-Blog um 22 Uhr berichtete, war bis zum Abend nichts über verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten bekannt.
Sprecher der Feuerwehr: „Sieben Schwerverletzte können wir nicht bestätigen“
Für Rettungseinsätze ist die Berliner Feuerwehr zuständig. Sprecher Thomas Kirstein sagte uns am Telefon, er könne die Zahlen von 40 Verletzten und sieben Schwerverletzten nicht bestätigen. Im gesamten Umkreis der Demonstration am 18. November habe die Feuerwehr zwischen 9 und 15 Uhr keine 40 Personen versorgt.
Es sei nicht auszuschließen, dass Fälle mit leichten Verletzungen nicht erfasst wurden, so Kirstein. Was er jedoch nicht bestätigen könne, seien sieben Schwerverletzte. „Schwer verletzt“ bedeute allgemein, dass mindestens eine Diagnose potenziell lebensbedrohlich sei. Dann komme ein Notarzt zum Einsatz – in dem betreffenden Zeitraum habe es in dem Bereich jedoch nur einen einzigen Notarzteinsatz gegeben. „Zu genauen Diagnosen äußern wir uns nicht“, so Kirstein.
Der Mann im Video ist ein sogenannter „Demosanitäter“
Recherchen zu der Person in dem Video zeigen: Der Mann war nicht für einen Rettungsdienst im Einsatz. Es existiert noch ein anderes Video vom 18. November auf Youtube, in dem derselbe Mann mit der Sanitäterbekleidung direkt vor dem Brandenburger Tor zu sehen ist. Er beantwortet Fragen und sagt, er habe auch schon oft bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich geholfen.
Der Mann heißt Andreas Eggert, er engagiert sich als sogenannter „Demosanitäter“. Solche Menschen helfen privat und ehrenamtlich zum Beispiel bei Veranstaltungen. Es gibt Berichte in Blogs und Videos über Eggert. Demnach reist er zu verschiedenen Demonstrationen, um dort nach eigener Aussage Verletzten zu helfen. Er sammelte dafür im Januar 2019 online Spenden. Im selben Jahr gab Eggert zu seinen Erfahrungen bei den Gelbwesten-Protesten RT Deutsch ein Interview, und der rechtsextreme Blogger Sven Liebich machte in seinem Telegram-Kanal Werbung für einen Online-Vortrag des „Demosanitäters“. Welche Ausbildung Eggert hat, ist unklar.
In dem Video vom 18. November 2020 vor dem Brandenburger Tor sagt Eggert, es werde vermutlich noch „Ärger geben“, denn „die Antifa“ mache mobil (Minute 0:40).
In einem später auf Facebook veröffentlichten Statement betont Eggert, er mache diese ehrenamtliche Arbeit seit Jahren. Er helfen allen und sei weder „links“ noch „rechts“, sondern neutral.
Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes Berlin: Kleidung ist „bunt durchgewürfelt“
CORRECTIV hat Eggerts Kleidung auch mit Uniformen von bekannten Rettungsdiensten verglichen. Sie entspricht nicht der Kleidung der Berliner Feuerwehr, der Johanniter oder des Arbeiter-Samariter-Bundes Berlin.
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) nutzt ähnliche Kleidung, die in einem Onlineshop zu finden ist. Dort kann man sie theoretisch bestellen, es wird aber bei der Kundenregistrierung darauf hingewiesen, dass der Kauf nur mit einem DRK-Nachweis (zum Beispiel einem gültigen Dienstausweis) erlaubt sei. Eine Kopie davon wird bei der Registrierung verlangt.
Auf der Jacke des Mannes sind auf dem Rücken das rote Kreuz des DRK und zwei Schriftzüge zu sehen, die „Deutsches Rotes Kreuz“ und „Rettungsdienst“ bedeuten könnten.
Auf Anfrage bestätigte uns jedoch der Sprecher des DRK Berlin, Hendrik von Quillfeldt, telefonisch, dass die Kleidung von Eggert in dem Video kein offizielles DRK-Outfit sei, sondern „bunt durchgewürfelt“. Es sei relativ einfach, Kleidung des DRK „auf dem freien Markt“ zu erhalten.
„Es waren keine Einsatzkräfte des DRK bei der Demonstration gestern aktiv“, betont Von Quillfeldt. Bei politischen Demonstrationen komme das Rote Kreuz generell nicht zum Einsatz, es gelte ein Neutralitätsgrundsatz. Grundsätzlich seien Sanitäter auch nicht allein, sondern in Gruppen unterwegs und hätten bei Veranstaltungen einen Einsatzbefehl.
Auf Twitter kündigte das DRK am 19. November an, Anzeige zu erstatten, „wegen unbefugten Verwendens des Rotkreuz-Zeichens“.
Fazit: Das Video führt ohne Kontext in die Irre. Es entsteht der falsche Eindruck, die Polizei habe bei der Demonstration am 18. November einen offiziellen Sanitäter bei der Arbeit behindert und ihn bedroht. Der Mann ist jedoch für keinen Rettungsdienst im Einsatz gewesen, sondern engagierte sich privat. Seine Angabe zu 40 Verletzten ist unbelegt, der Zahl von sieben Schwerverletzten widerspricht die Feuerwehr Berlin.
Update, 20. November: Wir haben eine nach Erscheinen dieses Artikels auf Facebook veröffentlichte Stellungnahme Eggerts und eine Ankündigung des DRK auf Twitter ergänzt.
Update, 25. November: Die Polizei Berlin hat auf unsere Presseanfrage geantwortet. Sie bestätigt, dass dem Mann ein Platzverweis erteilt worden sei. „Einsatzkräfte der Polizei Berlin beobachteten, dass der vermeintliche Sanitäter mehrfach Verletzte laienhaft versorgte.“ So habe er zum Beispiel keine Einmalhandschuhe bei der Versorgung blutender Wunden getragen. Seine Kleidung habe einen „unseriösen Eindruck“ gemacht. „Einem Sanitätstrupp der Bereitschaftspolizei Berlin gegenüber gab er an, er wäre ein Kollege aus einem anderen Bundesland.“ Nach Angaben von am Einsatz beteiligten Polizistinnen und Polizisten sei der Mann mehrfach hinter die polizeiliche Absperrung gelaufen. Dies sei ihm dann unter anderem mit dem Hinweis untersagt worden, dass sich ausreichend Einsatzkräfte der Feuerwehr und der Polizei um die medizinische Versorgung kümmern würden. „Dem Mann sowie um ihn stehenden Demonstrierenden wurde schließlich ein Platzverweis erteilt, dem er nach mehrmaligen Aufforderungen und Androhungen von Zwangsmitteln folgte.“ Die Polizei habe bei der Demonstration keine Rettungskräfte bei ihrer Arbeit behindert.
Redigatur: Sarah Thust, Steffen Kutzner