Uğur Şahin hat nicht gesagt, dass Biontech-Mitarbeiter nicht geimpft werden sollen – und das Interview wurde auch nicht gelöscht
Die „Tagesschau“ soll ein Interview mit Biontech-Chef Uğur Şahin gelöscht haben, wird in Sozialen Netzwerken behauptet. Şahin habe darin gesagt, dass er seine Mitarbeiter noch nicht impfen lasse, „damit sie nicht ausfallen“. Beides stimmt nicht. Das Interview ist noch online und Şahin spricht sich darin für eine Impfung aus.
In den Sozialen Netzwerken verbreitet sich seit Mitte Dezember ein Video von Uğur Şahin, dem Vorstandsvorsitzenden des Impfstoffherstellers Biontech. Der Telegram-Kanal „Oliver Janich öffentlich“ teilte das Video mit der Behauptung: „Habt ihr genau zugehört? Er sagt, es ist wichtig, dass da keine Mitarbeiter ausfallen! (Sekunde 41) Deshalb impfen sie noch nicht!“ Der Beitrag wurde allein dort mehr als 190.000 Mal angesehen.
Leser und Leserinnen meldeten uns außerdem ähnliche Beiträge auf Twitter und Facebook. Sie zeigen ein Sharepic von einem gelöschten Video auf der Internetseite der Tagesschau (hier, hier und hier). Auf dem Bild ist am unteren Rand das Datum 21. Dezember 2020 zu erkennen. Darunter steht der Text: „Tagesschau löscht das Interview mit Ugur Sahin“ und „Er sagte in dem Video, dass BioNTec seine Mitarbeiter noch nicht impfen lässt, damit sie nicht ausfallen“.
Es handelt sich bei dem Bild um eine Collage mehrerer Screenshots. Im oberen Teil des Bildes ist auch ein Link zu der Internetseite bei tagesschau.de zu sehen, auf der das angeblich gelöschte Video von Uğur Şahin zu finden war.
Die Behauptungen sind falsch: Das Interview ist nach wie vor auf tagesschau.de verfügbar, nur von der in den Sozialen Netzwerken genannten Unterseite wurde es entfernt. Das bestätigte uns am 19. Januar ein Sprecher des NDR. Şahins Aussagen wurden ins Gegenteil verdreht – er sagte nicht, dass er seine Mitarbeiter nicht impfen lassen wolle, sondern dass er ihren rechtlichen Anspruch auf eine Impfung prüfen müsse.
Aussage aus dem Interview wird falsch interpretiert
Uğur Şahin sagt in dem Interview nicht, dass Biontech seine Mitarbeiter noch nicht impfen lasse, damit sie nicht ausfallen. Im Gegenteil: Er befürchtet, dass sie ausfallen könnten, sollten sie nicht durch eine Impfung geschützt sein.
Konkret sagt er, wie auch in den im Netz geposteten Videos zu sehen ist (ab Minute 03:55): „Ja, also ich möchte mich […] liebend gern auch impfen lassen. Wir müssen einfach nur sehen, dass wir die rechtlichen Grundlagen dabei befolgen. Wir werden in den nächsten zwölf Monaten über 1,3 Milliarden Impfstoffdosen herstellen müssen. Es ist wichtig, dass da keine Mitarbeiter ausfallen und dementsprechend denken wir darüber nach, dass wir eine Möglichkeit finden, die rechtlich uns auch erlaubt unsere Mitarbeiter zu schützen. Aber […] das ist momentan noch in der Abklärung.“
Şahin sagt, der Anspruch seiner Mitarbeiter auf eine Impfung sei noch in der „Abklärung“
Mit den „rechtlichen Grundlagen“ ist hier vermutlich die „Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2“ des Bundesgesundheitsministeriums gemeint. Zuerst musste laut Şahin geprüft werden, ob er und seine Mitarbeiter Anspruch auf eine Impfung haben.
Auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck teilte Biontech mit, dass die Behauptungen auf Facebook falsch seien. „Die Aussagen von Herrn Şahin wurden wissentlich verändert“, schrieb das Unternehmen per E-Mail. Man wolle Ausfälle von Mitarbeitern durch die Krankheit Covid-19 minimieren.
Das Interview ist vom 21. Dezember 2020. Laut Angaben des Unternehmens vom 11. Januar werden die Mitarbeiter von Biontech inzwischen auf freiwilliger Basis geimpft. Dies diene dazu, „die Integrität unserer Lieferkette, einschließlich der Entwicklung, Produktion, Freigabe, Zulieferung und Distribution des Impfstoffes, aufrechtzuerhalten“.
Gemäß der Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums sollen Bund und Länder den vorhandenen Impfstoff so nutzen, dass zuerst Menschen mit höchster Priorität geimpft werden. Dazu zählen zum Beispiel Menschen über 80 Jahren und Pflegepersonal.
Wurde das Video auf Tagesschau.de gelöscht?
In den Social Media-Beiträgen ist eine Internet-Adresse (URL) zu erkennen, die tatsächlich auf eine Fehlerseite führt. Wie uns ein Sprecher des NDR mitteilte, war das Interview mit Şahin zuvor auch auf dieser Seite zu finden.
Warum das Video dort entfernt wurde, steht auf der Fehlerseite: „Leider ist die von Ihnen gewünschte Seite nicht verfügbar. Dies kann mehrere Ursachen haben. Möglicherweise liegen die gesuchten Informationen inzwischen an einem anderen Ort oder die Seite existiert nicht mehr. Zum 01.09.2010 mussten wir viele Inhalte unserer Onlineangebote aus dem Netz nehmen. Grund dafür sind Bestimmungen des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrags.“
Der Rundfunkstaatsvertrag legt für öffentlich-rechtliche Medien fest, dass bestimmte Nachrichten-Sendungen nur bis zu sieben Tage im Internet bleiben dürfen. Danach müssen sie entfernt werden.
Dies war offenbar bei diesem Video der Fall, wie auch die Faktenchecker der AFP berichten. Demnach erklärte der stellvertretende Redaktionsleiter von Tagesschau.de, Ralph Sartor: „Wird ein einzelner Beitrag […] in eine Meldung ‚eingebettet‘, können längere Verweildauern gelten, ebenso bei ganzen Sendungen. Bei tagesschau.de war das Video nur einzeln abrufbar, daher gelten hier sieben Tage. Die Depublizierung geschah dann automatisch; unser Content Management System ist entsprechend eingerichtet.“
Wie eine Google-Suche nach „ARD Extra Ugur Sahin“ am 18. Januar ergab, ist das Video aber immer noch auf der Internetseite Tagesschau.de verfügbar. Das Interview ist dort in voller Länge zu sehen. Ab Minute 03:55 beginnt der Teil, in dem Şahin über die Impfung seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen spricht, der auch in den Sozialen Netzwerken kursiert.
Fazit: Das Interview mit Uğur Şahin ist nach wie vor auf Tagesschau.de zu finden, lediglich an anderer Stelle. Şahin hat außerdem nicht gesagt, was ihm unterstellt wird. Er sagte, das Unternehmen müsse viel Impfstoff herstellen und Mitarbeiter könnten ausfallen, wenn sie nicht geimpft sind. Laut einer Mitteilung des Unternehmens vom 11. Januar können sich Mitarbeiter und Zulieferer von Biontech aber inzwischen freiwillig impfen lassen.
Redigatur: Steffen Kutzner, Alice Echtermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: