Faktencheck

Analyse des RKI zu Covid-19-Impfstoffen wird aus dem Kontext gerissen

In einem Tweet stellt der Autor Paul Schreyer Angaben aus dem Epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts so dar, dass es wirkt, als seien die Covid-19-Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna unwirksam. Den Daten fehlt jedoch wesentlicher Kontext – so entsteht ein falscher Eindruck. 

von Alice Echtermann

Robert Koch-Institut
Werden Fachinformationen – zum Beispiel vom Robert-Koch-Institut – ohne Kontext verbreitet, kann damit ein falscher Eindruck erzeugt werden. (Foto: picture alliance / DPA / David Hutzler)
Behauptung
„Offizielle Zahlen“ des Robert-Koch-Instituts zeigten, dass in der Biontech-Studie nur vier Personen der Placebo-Gruppe schwer an Covid-19 erkrankten, aber genauso viele Menschen schwere Nebenwirkungen der Impfung erlitten. Zudem schätze das RKI die Qualität des Nachweises, dass die Impfstoffe eine schwere Covid-19-Erkrankung verhindern, als „sehr gering“ ein. 
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Die Angaben des Robert-Koch-Instituts werden aus dem Kontext gerissen und können daher falsch verstanden werden. 

In einem Tweet des Autors Paul Schreyer werden drei Behauptungen über die Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna aufgestellt. Unter anderem werden Zahlen genannt, nach denen der Biontech-Impfstoff unter den Teilnehmern der klinischen Studie angeblich genauso viel Schaden angerichtet habe wie die Krankheit Covid-19 selbst. Es seien „offizielle Daten des Robert-Koch-Instituts“, doch Jens Spahn und Lothar Wieler würden dazu „schweigen“, schreibt Schreyer. Einen Tag später wurde derselbe Beitrag von der Facebook-Seite „Querdenken 711“ verbreitet.  

Als Quelle dient das Epidemiologische Bulletin des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 14. Januar 2021. Darin wurde die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) für diese Impfstoffe veröffentlicht. Sie beruht auf einer ausführlichen Analyse der Daten aus den klinischen Studien zu den Impfstoffen von Pfizer/Biontech und Moderna. 

Die drei Behauptungen greifen aus dieser Analyse einige Daten heraus, lassen nach Recherchen von CORRECTIV.Faktencheck jedoch wesentlichen Kontext aus. So soll offenbar der Eindruck entstehen, die Impfung bringe keine Vorteile im Einsatz gegen Covid-19. Eine der Behauptungen in dem Facebook-Beitrag ist zudem teilweise falsch. 

Tweet von Paul Schreyer
Der Tweet von Paul Schreyer (Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Erste Behauptung: Lediglich vier Personen aus der Placebo-Gruppe der Biontech-Studie seien schwer an Covid-19 erkrankt

Als Quelle wird hier Seite 27 des Epidemiologischen Bulletin des RKI angegeben. Dort findet sich eine Tabelle, aus der tatsächlich vier schwere Covid-19-Erkrankungen hervorgehen. Die Aussage „In der Placebo-Gruppe […] erkrankten lediglich vier Personen schwer daran“ ist dennoch nicht korrekt. 

Tabelle aus dem Epidemiologischen Bulletin des RKI
Tabelle aus dem Epidemiologischen Bulletin des RKI vom 14. Januar 2021 (Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

An der Studie zum Impfstoff von Biontech und Pfizer, die am 31. Dezember 2020 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde, nahmen insgesamt 43.548 Menschen teil. Allen wurden mit zeitlichem Abstand zweimal ein Stoff injiziert: 21.720 erhielten dabei den echten Impfstoff, der Rest ein Placebo (Kochsalzlösung). 

Die Zahl (vier) im Epidemiologischen Bulletin bezieht sich nur auf die Anzahl der Personen, die nach der zweiten Placebo-Dosis Covid-19 bekamen, erklärte uns das Robert-Koch-Institut auf Nachfrage per E-Mail. Insgesamt gab es laut der Studie unter allen Probanden zehn schwere Covid-19-Erkrankungen – neun in der Placebo-Gruppe und eine in der Impfgruppe. 

Auszug aus der klinischen Studie des Biontech-Impfstoffes
Auszug aus der klinischen Studie des Biontech-Impfstoffes (Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

In dem Facebook-Beitrag werden außerdem nur die schweren Covid-19-Erkrankungen erwähnt, also fehlt auch hier Kontext. Aus der Studie geht hervor, dass es unter allen Geimpften acht Fälle von Covid-19 gab, die nach der zweiten Impfdosis auftraten. Unter denen, die nur ein Placebo erhielten, waren es jedoch 162 Fälle. 

Zweite Behauptung: Vier Personen aus der Impfgruppe der Biontech-Studie hätten eine „schwere impfstoffbezogene Nebenwirkung“ erlitten, darunter eine Herzrhythmusstörung

Die Studie zum Impfstoff von Biontech und Pfizer enthält Daten zu berichteten „unerwünschten Ereignissen“. Das sind jegliche Art medizinischer Vorfälle, die von Probanden im zeitlichen Verlauf nach der Impfung berichtet werden. Die Zahl vier bezieht sich auf „schwere unerwünschte Ereignisse“ und ist korrekt, doch es fehlt erneut Kontext. 

In der Impfgruppe (mehr als 21.000 Personen) wurden insgesamt vier „schwere unerwünschte Ereignisse“ in Verbindung mit der Impfung berichtet. Dies waren eine Schulterverletzung, eine Veränderung der Lymphknoten in der rechten Achselhöhle, eine Herzrhythmusstörung und eine Parästhesie im rechten Bein (eine Nervenstörung, die ein Kribbeln der Haut verursachen kann). So steht es auch vollständig im Epidemiologischen Bulletin des RKI (Seite 31).

Die Beiträge von Paul Schreyer und „Querdenken 711“ suggerieren, die Impfung habe in der Impfgruppe genauso viel Schaden angerichtet wie die Krankheit Covid-19 in der Placebogruppe. Ein solcher Vergleich wird durch die vorliegenden Daten aber nicht gestützt. 

Covid-19 ist eine Krankheit, die zum Lungenversagen und Tod führen kann. Laut Robert-Koch-Institut sind etwa zwei Prozent aller Personen in Deutschland, bei denen eine bestätigte Infektion gemeldet wurde, im Zusammenhang damit gestorben. 

Von den Probanden der Studie ist niemand an der Impfung oder an Covid-19 gestorben. Vier Teilnehmende der Placebo-Gruppe, die nur Kochsalzlösung gespritzt bekamen, und zwei Menschen aus der Impfgruppe starben. Doch keiner dieser Todesfälle stand laut der Studie in Verbindung zu der Impfung oder dem Placebo. Bei den Geimpften waren die Todesursachen Atherosklerose und Herzstillstand. In der Placebo-Gruppe gab es zwei unbekannte Todesursachen, einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt. 

Dritte Behauptung: Das RKI bezeichne die Qualität des Nachweises, mit den Impfstoffen von Biontech und Moderna eine schwere Covid-19-Erkrankung zu verhindern, als „sehr gering“

Diese Aussage ist richtig, sie findet sich ähnlich formuliert im Epidemiologischen Bulletin auf Seite 33. Statt „Nachweis“ steht dort jedoch der Begriff „Evidenzqualität“. Hier ist es nötig, zu erklären, was diese Einschätzung bedeutet. Dabei geht es nicht um die Wirksamkeit des Impfstoffes, sondern um die Vertrauenswürdigkeit der Evidenz der Impfstudien. 

Wir haben dafür mit Thomas Harder, Teamleiter Forschung und Methoden im Fachgebiet Impfprävention beim Robert-Koch-Institut, telefoniert. Er erklärt, wie die Bewertung einer „sehr geringen“ Evidenzqualität zustande kommt. Seit einigen Jahren werde für jede Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) eine Methodik namens GRADE verwendet („Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation“). Sie kam auch bei der Bewertung der Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna zum Einsatz.

Nach einem standardisierten Schema wird bewertet, wie vertrauenswürdig die Evidenz der vorliegenden Daten zum Impfstoff ist – und zwar einzeln für verschiedene „Endpunkte“. Ein solcher Endpunkt kann eine „schwere Covid-19-Infektion“ sein, oder „Tod durch Covid-19“. Mit der GRADE-Methode werde eingeschätzt, wie belastbar die Studiendaten zur Verhinderung des jeweiligen Endpunktes sind, sagt Harder. Es gebe eine Skala mit vier Stufen: hoch, moderat, gering und sehr gering. „Das ist ein hochgradig technischer Prozess, die Informationen sind für die Fachöffentlichkeit bestimmt.“

Die Bewertung beim Endpunkt „schwere Covid-19-Erkrankung“ kam folgendermaßen zustande: Die Stiko habe vorab definiert, welche Endpunkte für die Entscheidung, die Impfung zu empfehlen, relevant sind. Man entschied sich unter anderem für den Endpunkt „Hospitalisierung“ – doch in den Impfstudien von Biontech/Pfizer und Moderna sei dieser Endpunkt nicht explizit gemessen worden, erklärt Harder. Stattdessen habe man „schwere Covid-19-Erkrankung“ als Äquivalent herangezogen. Dafür sei aber in der GRADE-Skala-Bewertung ein „Punkt“ abgezogen worden. 

Noch weiter nach unten auf der Skala rutschte die Bewertung, weil der Endpunkt „schwere Covid-19-Infektion“ in der Studie nicht sehr häufig vorkam. Ein weiterer Punkt wurde abgezogen, weil die Studie nicht doppel-blind, sondern nur einfach-blind durchgeführt worden sei. Zudem seien nicht die Daten von allen ursprünglich in der Studie eingeschlossenen Teilnehmern in die Auswertung eingegangen, erklärt Harder. So sei man am Ende auf die Bewertung „sehr geringe Evidenzqualität“ für die Verhinderung einer „Hospitalisierung“ gelangt. 

Dennoch habe die Stiko die Impfstoffe empfohlen. „Bei GRADE gibt es keinen Automatismus, der von der Bewertung der Evidenzqualität zur Empfehlung führt“, sagt Harder. Die Stiko führe eine Nutzen-Risiko-Analyse durch, bei der alle Faktoren berücksichtigt werden. „Wir sehen eine ziemlich eindeutige Verhinderung von Infektionen“, so Harder weiter. Gleichzeitig gebe es kein übermäßiges Maß an Nebenwirkungen. Vor diesem Hintergrund habe die Stiko den Einsatz der Impfstoffe empfohlen. Diese Empfehlung findet sich auch im Epidemiologischen Bulletin des RKI auf Seite 2.

Redigatur: Sarah Thust, Tania Röttger

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Epidemiologisches Bulletin des Robert-Koch-Instituts, 14. Januar 2021: Link
  • Studie zum Impfstoff von Biontech und Pfizer, New England Journal of Medicine, 31. Dezember 2020: Link
  • Interpretationshilfe zur GRADE-Methodik der Ständigen Impfkommission (Stiko): Link