Aussagen von Karl Lauterbach zum Astrazeneca-Impfstoff werden verkürzt und aus dem Kontext gerissen
In Sozialen Netzwerken empören sich Menschen über eine angebliche Aussage von Karl Lauterbach in der Talkshow „Hart, aber fair“ vom 15. März: Man müsse Todesfälle durch Impfungen „hinnehmen“ für den „Impferfolg“. Das hat der SPD-Politiker so jedoch nicht gesagt.
In Sozialen Netzwerken wird derzeit ein angebliches Zitat des SPD-Politikers Karl Lauterbach verbreitet. Auf dem Blog Unser Mitteleuropa erschien am 6. April ein Artikel mit dem Titel „Lauterbach nach Tod von 32-Jähriger: Impftote für Impferfolg müsse man hinnehmen“. Er wurde laut dem Analysetool Crowdtangle bereits mehr als 3.600 Mal auf Facebook geteilt.
Der identische Text erschien zudem bei Philosophia Perennis, und auf Facebook kursiert ein Bild, auf dem Lauterbach die Aussage „Menschen, die womöglich durch Impfungen sterben, müsse das Land hinnehmen für den Impferfolg“ zugeschrieben wird. Es wurde unter anderem am 7. April von dem AfD-Bundestagsabgeordneten Jörn König verbreitet.
Karl Lauterbach hat nicht gesagt, man müsse Todesfälle „hinnehmen“
Die Quelle für das angebliche Zitat ist die Talkshow „Hart, aber fair“ vom 15. März 2021. Darin sprach Karl Lauterbach über die vorläufige Aussetzung der Impfungen mit dem Covid-19-Impfstoff von Astrazeneca (Vaxzevria) in Deutschland. Diese war am selben Tag verkündet worden, nachdem mehrere Fälle von Hirnvenenthrombosen (Sinusvenenthrombosen) nach Impfungen aufgetreten waren und das für Impfstoffe zuständige Paul-Ehrlich-Institut empfahl, mögliche Zusammenhänge zu untersuchen.
Lauterbach äußerte in der Sendung die Ansicht, er hätte die Impfungen nicht ausgesetzt. Doch die zitierte Aussage, man müsse Todesfälle „hinnehmen“, hat der SPD-Politiker dabei nicht getroffen. Das Gesagte wird stark verkürzt und sämtlicher Kontext ausgelassen.
Am 15. März wurden die Impfungen mit Astrazeneca in Deutschland vorläufig ausgesetzt
In dem Text von Unser Mitteleuropa wird mit der Überschrift („Lauterbach nach Tod von 32-Jähriger: Impftote für Impferfolg müsse man hinnehmen“) suggeriert, Karl Lauterbach habe mit seiner angeblichen Aussage auf den Fall einer Frau namens Dana O. reagiert. Diese sei mit Astrazeneca geimpft worden und dann an einer Hirnthrombose gestorben, schreibt Unser Mitteleuropa. Der Blog beruft sich auf einen Artikel der Welt vom 6. April über diesen Fall (bezahlpflichtig).
Am 15. März, als Karl Lauterbach in der Talkshow „Hart, aber fair“ auftrat, war über die junge Frau aber noch gar nicht öffentlich berichtet worden.
Die Welt berichtete Anfang April über die 32-jährige Dana O. Im Text steht allerdings, dass diese nicht an einer Hirnvenenthrombose starb, sondern an einer Hirnblutung. Ihre Mutter wolle herausfinden, ob dennoch ein Zusammenhang zur Impfung bestehen könnte.
Im Artikel heißt es: „Die Mutter schaut an diesem Abend [15. März, Anm. d. Red.] die Talkshow ‘Hart, aber fair’. Sie sieht den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, der davon spricht, ein paar wenige Menschen, die womöglich durch Impfungen stürben, müsse das Land hinnehmen für den Impferfolg. ‘Ich saß völlig fassungslos vor dem Fernseher’, sagt O[…].“ Ihre Tochter sei eine Woche zuvor gestorben.
Die angebliche Aussage von Karl Lauterbach, die jetzt in Sozialen Netzwerken kursiert, hatte ihren Ursprung also aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Welt-Bericht. Dafür spricht auch, dass Fotos des Zeitungsartikels aktuell ebenfalls auf Facebook kursieren.
Doch es handelt sich nicht um ein wörtliches oder indirektes Zitat von Karl Lauterbach. Der SPD-Politiker hat nicht gesagt, man müsse Todesfälle „hinnehmen für den Impferfolg“.
Was Lauterbach bei „Hart, aber fair“ am 15. März 2021 wirklich sagte:
Karl Lauterbach bezog sich zu Beginn der Sendung „Hart, aber fair“ auf die Entscheidung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Dieser hatte am 15. März verkündet, die Impfungen mit Astrazeneca auf Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts vorerst auszusetzen. Bekannt waren damals sieben Fälle von Hirnvenenthrombosen in Deutschland.
Lauterbach sagte, er hätte anders entschieden (Video ab Minute 4:30): „Es ist richtig, dass die Komplikation, die wir hier sehen, also dieses Syndrom, was einhergeht mit einem deutlichen Absinken der Thrombozytenzahlen und das dann zu einer Thrombose im Gehirn führt, das ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf den Impfstoff zurückzuführen. Davon sieht man in Deutschland sonst pro Jahr ungefähr 50 Fälle, hier sieht man sieben Fälle bei 1,6 Millionen Geimpften. Somit ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um eine Komplikation des Impfstoffes handelt, überwältigend hoch, das ist einfach so, das muss man einräumen. […] Es ist aber trotzdem so, man muss es ins Verhältnis setzen. Es trifft einen von ungefähr 250.000, 300.000 Betroffenen, und wir sind in einer solchen Notlage, was die Pandemie derzeit angeht, wir haben auch mit so drastischen Folgen der Erkrankung zu rechnen bei den Nicht-Geimpften, dass ich es bevorzugt hätte, zu sagen: Wir lassen dies jetzt untersuchen und wir impfen aber in dieser Zeit weiter. Das wäre möglich gewesen, weil dieser Impfstoff bleibt ja weiter zugelassen durch die europäische Zulassungsbehörde, der ist nicht jetzt ausgesetzt. Und somit kann man das so oder so machen. Ich hätte es anders gemacht, weil der Schaden, der jetzt entsteht – ich hätte ganz ehrlich das kommuniziert, wie wir es wissen: Das sind sieben Fälle, es ist überwältigend wahrscheinlich, dass das von dem Astra-Impfstoff verursacht wurde, es sind auch schwere Fälle, es betrifft Jüngere, die keine Risikofaktoren hatten, aber trotzdem ist der Nutzen im Verhältnis zu dem Schaden wahrscheinlich gut vertretbar, und somit hätte ich mit einer ehrlichen und offenen Kommunikation während der laufenden Untersuchung die Impfung fortgesetzt.“
Lauterbachs Aussage stark verkürzt und aus dem Kontext gerissen
Lauterbach sprach zudem von einer „schrecklichen Komplikation“, die meist sehr schnell nach der Impfung auftrete und behandelbar sei, auch wenn die Behandlung nicht leicht sei. Man könne die Menschen anweisen, auf typische Symptome wie kleine Flecken auf der Haut und starke Kopfschmerzen zu achten und sich sofort zum Spezialisten zu begeben. Bei einer „normalen Impfung“ gegen eine Krankheit, die nicht wirklich tödlich verlaufe, sei es etwas anderes, so Lauterbach, aber wir befänden uns in einer gefährlichen Pandemie: Die Todesfolge – auch durch Thrombosen – von Covid-19-Patienten sei „so viel höher“, dass man das Risiko durch die Impfung „hätte in Kauf nehmen können“ (ab Minute 8:16).
Diese ganzen Erklärungen wurden offenbar zu „man müsse Impftote hinnehmen“ zusammengefasst. Die Aussage wird damit verzerrt; es fehlt sämtlicher Kontext, mit dem der Politiker seine Meinung begründete.
Wir haben auch das Transkript des Videos der Talkshow auf Youtube nach den Worten „hinnehmen“, „Impftote“ oder „Impferfolg“ durchsucht. Wir fanden lediglich einen Treffer für „hinnehmen“, allerdings handelt es sich dabei um einen Fehler in dem automatisch erstellten Transkript. Moderator Frank Plasberg sagte „ihn nehmen“ statt „hinnehmen“ (ab 1:13:00).
Laut EMA überwiegt der Nutzen des Astrazeneca-Impfstoffes gegen Covid-19 die Risiken
Lauterbachs Einschätzung stimmte am 15. März überein mit der der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Die EMA hatte am 11. März und am 15. März kommuniziert, dass der Nutzen der Impfung die Risiken nach derzeitigem Kenntnisstand überwiege – auf diese Mitteilung wurde in der Sendung „Hart, aber fair“ auch hingewiesen.
Am 18. März wiederholte die EMA diese Einschätzung, und am 7. April wies sie nochmal darauf hin: Eine Untersuchung von 62 in Europa gemeldeten Fällen von Sinusvenenthrombosen habe gezeigt, dass es eine mögliche Verbindung zu der Impfung gebe. Dennoch würden die Vorteile der Impfung gegen Covid-19 überwiegen, da die Thrombosefälle sehr selten seien, während Covid-19 mit einem hohem Risiko für schwere Erkrankungen und Todesfälle verbunden sei.
Die Hirnvenenthrombosen traten laut Paul-Ehrlich-Institut vor allem bei Menschen unter 60 Jahren auf. In Deutschland empfiehlt die Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts seit dem 1. April den Impfstoff von Astrazeneca nur noch für Menschen über 60 Jahren.
Redigatur: Uschi Jonas, Steffen Kutzner
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck: