Keine Belege für Anstieg von Fehlgeburten nach Impfungen: Faktencheck aus Israel wird falsch interpretiert
Ein Twitter-Nutzer behauptet, die Zahl der Fehlgeburten in Israel sei um mehr als 400 Prozent gestiegen. Als vermeintliche Quelle verwendet er einen Zeitungsartikel auf Hebräisch. Dabei handelt es sich jedoch um einen Faktencheck, der genau diese Behauptung als irreführend entlarvte.
„483 Prozent mehr Fehlgeburten in Israel seit der Covid ‘Impfkampagne’. Oder sollten wir es noch offen als Sterilisationskampagne bezeichnen?“, schreibt ein Nutzer am 6. Juni auf Twitter. Er teilt ein Foto eines Zeitungsartikels auf Hebräisch, dem er diese Information entnommen haben will – sein Beitrag wurde mehr als 200 Mal geteilt.
Die Faktencheck-Organisation The Whistle in Israel hat uns auf den deutschen Tweet aufmerksam gemacht. Denn der geteilte Zeitungsartikel ist ein Faktencheck von ihnen, in dem sie im April genau diese Behauptung über die Fehlgeburten als irreführend widerlegten. Die Aussage kursierte The Whistle zufolge am 1. April auf einer israelischen Facebook-Seite, bezog sich aber gar nicht auf Israel, sondern einen angeblichen Anstieg von Fehlgeburten in Großbritannien.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass eine Covid-19-Impfung für Schwangere ein Risiko darstellt. In mehreren Ländern – darunter Großbritannien und Österreich – wird die Impfung für diese Gruppe bereits empfohlen.
The Whistle ist wie CORRECTIV Teil des International Fact-Checking Network. Die Redaktion gehört zu der israelischen Zeitung Globes, deren Ausgabe vom 18. April 2021 der Twitter-Nutzer offenbar abfotografiert hat. Dabei hat er den Ausschnitt so gewählt, dass nur die Behauptung zu sehen ist, nicht der Faktencheck-Text unter dem Bild.
„Sie haben das Wort ‚irreführend‘ abgeschnitten und es so aussehen lassen, als sei dies eine Überschrift in der Zeitung“, schrieb uns der leitende Journalist Uria Bar-Meir von The Whistle per E-Mail. Er schickte uns auch eine PDF der vollständigen Zeitungsseite von Globes als Beleg.
Faktenchecks: Behauptungen über Fehlgeburten sind irreführend
Online ist der Faktencheck ebenfalls in voller Länge zu lesen (auf Hebräisch). Darin wird die Behauptung unter die Lupe genommen, Daten der Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) in Großbritannien zeigten einen Anstieg der Fehlgeburten „um 483 Prozent“ nach Erhalt von Covid-19-Impfstoffen seit dem 24. Januar. Eine ähnliche Aussage kursierte bereits zuvor international. Dabei sei von einem Anstieg um 366 Prozent die Rede gewesen, schreibt The Whistle. Diese Zahl sei bereits in mehreren Ländern von Faktencheck-Organisationen überprüft worden.
Der Artikel von The Whistle kommt zu dem Schluss, dass die Behauptung irreführend sei.
Tatsächlich wurde die Aussage, die Fehlgeburten in Großbritannien seien um 366 Prozent gestiegen, im März und April bereits in Faktenchecks überprüft, zum Beispiel von Politifact, Reuters oder USA Today. Sie alle kommen zu demselben Ergebnis: Die Behauptung bezog sich zwar auf offizielle Daten der MHRA zu unerwünschten Ereignissen nach Covid-19-Impfungen aus Großbritannien, doch die Schlussfolgerung, dass die Impfung das Risiko für Fehlgeburten erhöhe, kann daraus nicht gezogen werden.
Unerwünschte Ereignisse können alle Arten von gesundheitlichen Ereignissen sein, die zeitlich nach einer Impfung auftreten. Sie werden dokumentiert, um statistische Auffälligkeiten zu entdecken und somit mögliche Nebenwirkungen zu identifizieren – das wird auch in Deutschland so gemacht. Es handelt sich also um eine reine Informationssammlung, bei der ein Zusammenhang zur Impfung nicht belegt ist.
Die Zahl der geimpften Personen in Großbritannien stieg im selben Zeitraum stark an
Wie Reuters schreibt, wurden in Großbritannien zwischen dem 9. Dezember und dem 24. Januar sechs Fehlgeburten bei Frauen dokumentiert, die zuvor geimpft worden waren. Zwischen dem 24. Januar und dem 7. März erhöhte sich die Zahl auf 28. Aus diesem Anstieg um 22 Fälle errechnet sich der „Anstieg der Fehlgeburten“ um 366,6 Prozent.
Die Angabe von 483 Prozent in dem Facebook-Beitrag, den The Whistle in Israel überprüft hat, stammt wohl aus einem Artikel von der britischen Webseite The Daily Expose, der sich auf dieselben MHRA-Daten bezieht – nur diesmal bis zum 14. März.
Bei der Berechnung der Prozentzahlen besteht jedoch ein grundsätzlicher Denkfehler: Sie lassen den gleichzeitigen Anstieg der Zahl der geimpften Personen außer Acht. Die Behörde MHRA teilte Reuters mit: „Es gibt keine Auffälligkeiten, die auf ein erhöhtes Risiko von Fehlgeburten in Verbindung mit Covid-19-Impfstoffen bei Schwangeren hindeuten. Die Zahl der Menschen, die die erste Dosis eines Covid-19-Impfstoffes erhalten haben, stieg von 1.340.043 auf 4.322.791 im selben Zeitraum [24. Januar bis 7. März, Anm. d. Red.]. Mindestens die Hälfte davon sind Frauen, also erhöhte sich die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter, die geimpft wurden, schätzungsweise von 665.424 auf 2.146.866 im selben Zeitraum.“ Das ist ein Anstieg um rund 222,6 Prozent.
MHRA: Keine statistische Auffälligkeit in Bezug auf Fehlgeburten und Covid-19-Impfungen
Fehlgeburten würden statistisch bei etwa einer von vier Schwangerschaften auftreten, erklärte die MHRA weiter gegenüber Reuters. Eine gewisse Anzahl von zufälligen Fehlgeburten nach Impfungen sei also zu erwarten.
Die Zahlen, die man dazu findet, variieren. Mal ist von zwölf bis 24 Prozent die Rede, eine wissenschaftliche Analyse von 2017 in Israel spricht von 15 Prozent aller Schwangerschaften, die im ersten Trimester mit einer Fehlgeburt enden.
Keine Belege für ein erhöhtes Risiko durch Covid-19-Impfungen während der Schwangerschaft
Hinweise darauf, dass Covid-19-Impfungen dieses Risiko erhöhen, gibt es nicht. Am 30. April teilte die Gesundheitsbehörde in Großbritannien mit, man empfehle die Impfung für Schwangere. Auch in Österreich wird die Impfung für Schwangere seit Ende April empfohlen.
In Deutschland ist das anders; hier wird die Impfung für Schwangere bisher aufgrund der weiterhin dünnen Datenlage von der Ständigen Impfkommission nicht offiziell empfohlen. Schwangeren kann die Impfung aber angeboten werden, insbesondere wenn sie Vorerkrankungen haben.
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat ebenfalls eine Stellungnahme veröffentlicht, in der sie die Impfung für schwangere und stillende Frauen mit mRNA-Impfstoffen empfiehlt. Der Grund: Schwangere Frauen hätten im Vergleich zu nicht-schwangeren Frauen ein erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken.
Redigatur: Steffen Kutzner, Uschi Jonas