Faktencheck

„Reprogrammierung“ des Immunsystems? Clemens Arvay führt mit Video über angebliche Impfstoff-Langzeitfolgen in die Irre

In einem Video auf Youtube heißt es, eine Studie zeige, dass mRNA-Impfstoffe das Immunsystem reprogrammieren und dadurch „bedenkliche Langzeitnebenwirkungen“ entstehen. Das stimmt so nicht; die vorveröffentlichte Studie wird irreführend interpretiert.

von Matthias Bau

Impfung mit Comirnaty mRNA Impfstoff der Fa. Biontech Pfizer.
In einem Video auf Youtube wird vor angeblichen bedenklichen Langzeitfolgen des mRNA-Impfstoffes von Biontech/Pfizer gewarnt (Symbolbild: Pexels / Gustavo Fring)
Behauptung
Eine Studie zeige, dass mRNA-Impfstoffe „bedenkliche Langzeitnebenwirkungen“ haben könnten, weil sie das Immunsystem reprogrammieren.
Bewertung
Teilweise falsch
Über diese Bewertung
Teilweise falsch. Die vorveröffentlichte Studie belegt keine bedenklichen Nebenwirkungen oder Langzeitfolgen. Eine „Reprogrammierung“ des Immunsystems durch Impfstoffe ist nichts Ungewöhnliches und kein Hinweis auf eine Gesundheitsgefahr.

„mRNA-Impfstoffe: Erste Hinweise auf Langzeitfolgen“, lautet der Titel eines Videos, das auf Youtube schon über 800.000 Mal angesehen wurde. Darin behauptet ein Mann namens Clemens Arvay, eine vorveröffentlichte Studie habe Hinweise auf mögliche „bedenkliche“ Langzeitfolgen von mRNA-Impfstoffen geliefert: Diese Impfstoffe könnten das Immunsystem „nachhaltig reprogrammieren“. 

Arvay ist seiner Webseite zufolge Biologe und Autor und promoviert an der Universität Graz zu der Frage, wie sich der Aufenthalt in Zirbelkiefernwäldern auf das Immunsystem und endokrine Drüsen (zum Beispiel Schilddrüsen) auswirkt. Seine Aussagen in dem Video zum Covid-19-Impfstoff wurden zum Beispiel auf dem Blog Reitschuster aufgegriffen.

CORRECTIV.Faktencheck hat das Video Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgelegt. Sie erklären, dass es in der zitierten Studie gar nicht um Langzeitfolgen von Impfungen gehe. Dass sich das Immunsystem durch Impfstoffe verändert, sei zudem ein normaler Prozess, bereits von anderen Impfungen bekannt und stelle keinen Beleg für eine Gesundheitsgefahr dar. Auch ein Autor der Studie selbst widerspricht Arvays Behauptungen und bezeichnet die Interpretation im Video uns gegenüber als „sehr übertrieben“. 

Studie ist eine Vorveröffentlichung und bestätigt, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer sicher ist

Die Studie, um die es im Video von Arvay geht, stammt aus den Niederlanden und ist als Preprint erschienen. Das heißt, sie ist noch nicht durch andere Forschende begutachtet oder in einer Fachzeitschrift abgedruckt worden. Darauf weist auch Arvay in seinem Video hin. 

Die Studie stellt keineswegs die Sicherheit des Impfstoffes von Biontech/Pfizer infrage. Einer der Autoren der Studie, Mihai Netea, der an der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden das Institut für Experimentelle Medizin leitet, bestätigte uns per E-Mail, dass die Studie keine Belege dafür liefere, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer „unsicher“ oder „schädlich“ sei.

Auszug aus der E-Mail von Mihai Netea, Mitautor der zitierten Studie
Auszug aus der E-Mail von Mihai Netea, Mitautor der zitierten Studie (Screenshot und Hervorhebung: CORRECTIV.Faktencheck)

Zudem bestätigen die Forschenden die Wirksamkeit des Impfstoffes. In der Zusammenfassung der Studie schreiben sie: „In dieser Studie bestätigen wir, dass der Impfstoff BNT162b2 [Impfstoff von Biontech/Pfizer, Anm. d. Red.] in gesunden Individuen eine effektive Immunität gegen verschiedene SARS-CoV-2 Varianten hervorbringt.

Studie untersucht keine Langzeitfolgen von mRNA-Impfstoffen

In seinem Video behauptet Arvay, die Studie zeige, „in welche Richtung es also nun mit möglichen bedenklichen Langzeitnebenwirkungen oder Langzeiterscheinungen gehen könnte“. Die Langzeitfolge sei, dass die Impfstoffe das Immunsystem möglicherweise nachhaltig „reprogrammieren“ könnten. 

Damit interpretiert er die Studie auf irreführende Weise. Die Studie untersucht weder Langzeitfolgen des Impfstoffes von Biontech/Pfizer, noch zeigt sie bedenkliche Nebenwirkungen auf. 

Die Verfasser der Studie untersuchten, welchen Effekt der Impfstoff von Biontech/Pfizer auf das angeborene und das erworbene Immunsystem hat. Das angeborene Immunsystem ist unspezifisch und erkennt „Fremdkörper“, während das erworbene Immunsystem die spezifische Antwort des Körpers auf einen bestimmten Erreger ist (zum Beispiel Viren, Bakterien oder Pilze). Solche spezifischen Reaktionen lernt das Immunsystem im Laufe des Lebens, unter anderem durch Impfungen. 

Um die Reaktionen des Immunsystems zu untersuchen, wurde 16 beziehungsweise 15 Teilnehmenden in der Studie zu drei Zeitpunkten Blut abgenommen: vor der ersten Impfung, drei Wochen nach der ersten Impfung und zwei Wochen nach der zweiten Impfung. 

In der Studie geht es also gar nicht um Langzeitfolgen, wie uns Andreas Schlitzer bestätigt, der an der Universität Bonn die Arbeitsgruppe Quantitative Systembiologie leitet. Auch der Mitautor der Studie, Mihai Netea, der bereits mit Schlitzer zusammenarbeitete, schreibt in seiner E-Mail an CORRECTIV.Faktencheck von „Kurzzeitfolgen“ für das Immunsystem. Wenn diese negative Folgen hätten, hätte sich das bereits in den klinischen Studien zu dem Impfstoff gezeigt, so Netea.

Impfungen und Krankheitserreger verändern das Immunsystem, das ist längst bekannt

Tatsächlich schreiben die Forschenden, ihre Ergebnisse zeigten, dass die Impfung das angeborene Immunsystem auf komplexe Art „reprogrammiere“. Eine Umprogrammierung des Immunsystems durch Impfungen ist aber nichts Außergewöhnliches oder gesundheitlich Bedenkliches, erläutern mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegenüber CORRECTIV.Faktencheck.

Die Immunologin Katja Kosch und der Immunologe Arne Sattler von der Berliner Charité erklären uns, was die Studie im Detail untersucht hat und warum die Ergebnisse ihrer Ansicht nach nicht als „bedenklich“ eingestuft werden können. 

Sattler erklärt, dass in der Studie hauptsächlich untersucht worden sei, wie sich weiße Blutkörperchen nach einer Impfung mit dem Impfstoff von Biontech/Pfizer verhielten, wenn man sie mit bestimmten Bestandteilen von viralen, bakteriellen oder pilzlichen Erregern „stimuliere“. Insbesondere sei die Produktion von Entzündungsbotenstoffen untersucht worden, vorwiegend die Produktion von sogenannten Zytokinen. Zytokine sind Proteine des Immunsystems, die die Immunantwort des Körpers steuern. Sie können zum Beispiel dafür sorgen, dass Immunzellen an den Ort einer Verletzung oder Infektion gelangen. 

Diese Entzündungsbotenstoffe produziere der Körper dann, wenn er mit Hilfe von „Gefahrenrezeptoren“ auf den weißen Blutkörperchen bestimmte Bestandteile von Erregern erkenne, erklärt Sattler. Das sind die sogenannten Toll-Like-Rezeptoren, die auch Arvay in seinem Video anspricht. 

Im Ergebnis habe die Studie festgestellt, dass die Menge dieser Entzündungsbotenstoffe, die der Körper produziert, vor und nach der Impfung unterschiedlich hoch war – abhängig davon, mit welchen Erregerbestandteilen die Blutkörperchen stimuliert wurden, so Sattler. Anders ausgedrückt: Das Immunsystem reagierte nach der Impfung gegen SARS-CoV-2 auf manche Bestandteile von bakteriellen und viralen Erregern etwas schwächer und auf manche Bestandteile eines pilzlichen Erregers etwas stärker, als vor der Impfung. 

Sattler und auch die Immunologin Katja Kotsch bewerten diese Unterschiede als gering. Die Befunde der Studie hätten aufgrund der niedrigen Probandenzahl nur begrenzte Aussagekraft und könnten auch durch viele andere Umstände erklärbar sein. Die Schwankungen seien zudem nicht ungewöhnlich und ließen keinerlei Rückschlüsse auf eine Verbesserung oder Verschlechterung von Immunfunktionen zu. Auch Andreas Schlitzer bezeichnet die festgestellte Schwankung als „marginal“.

„Reprogrammierung“ des Immunsystem ist nichts Gefährliches

Auf diesen Unterschied in der Produktion von Entzündungsbotenstoffen bezieht sich Clemens Arvay, wenn er sagt, dass die Impfung das Immunsystem „reprogrammieren“ könne. Das ist nicht falsch, das Wort „reprogrammieren“ steht bereits im Titel der Studie. Dennoch führt diese Aussage ohne weiteren Kontext in die Irre, denn sie klingt dramatischer als sie ist. Auch andere Impfstoffe und Erreger führen zu Veränderungen des Immunsystems.

Andreas Schlitzer von der Universität Bonn erklärt, dass ein solcher Effekt bereits von Impfungen gegen Masern, Mumps, Röteln oder Tuberkulose bekannt sei. Das steht auch genau so in der vorveröffentlichten Studie aus den Niederlanden. 

Auch Mihai Netea, Mitautor der Studie, erklärt in seiner E-Mail an uns, es sei keine Besonderheit der Covid-19-Impfung, dass sich das angeborene Immunsystem verändere. Das Phänomen sei beispielsweise auch von Impfstoffen gegen die Grippe bekannt, aber auch Virusinfektionen könnten das Immunsystem „reprogrammieren“. Das sei jedoch nichts Negatives oder Gefährliches.

Das Immunsystem trainiere jeden Tag, verändere sich dadurch und passe sich an, sagt die Immunologin Katja Kotsch. Genau dieser Prozess werde in der Wissenschaft mit den Begriff „trained immunity“ oder „reprogramming“ bezeichnet. 

„Jede Infektion wird solche Effekte hinterlassen“, erklärt Andreas Schlitzer, sie seien „Teil unseres normalen Immunalltags“. 

Es sei außerdem das Ziel von Impfungen, so Arne Sattler, die Antwort des Immunsystems nachhaltig zu verändern: „Abwehrzellen sollen schneller, effizienter und mit besseren Waffen gegen das Virus eingreifen.“ 

Fazit: Clemens Arvay interpretiert die Studie auf irreführende Weise

Die von Arvay angeführte Studie untersucht weder Langzeitfolgen von mRNA-Impfstoffen, noch zeigt sie, dass diese Impfstoffe bedenkliche Folge für das Immunsystem hätten. Richtig ist, dass sie Hinweise darauf gibt, dass die Impfung das Immunsystem reprogrammieren könne. Laut dem Autor der Studie wurden aber lediglich kurzzeitige Effekte nachgewiesen und zudem keine Hinweise auf eine Gesundheitsgefahr nachgewiesen. Laut Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist die Reprogrammierung des Immunsystems nichts Ungewöhnliches oder Gefährliches.

Redigatur: Uschi Jonas, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Vorveröffentliche Studie „The BNT162b2 mRNA vaccine against SARS-CoV-2 reprograms both adaptive and innate immune responses“: Link
  • Erklärung zum Unterschied zwischen angeborenem und erworbenem Immunsystem: Link