Delta-Variante in Großbritannien: Nein, die Impfung erhöht nicht das Sterberisiko
In mehreren Blogs werden Daten der Gesundheitsbehörden in Großbritannien zur Delta-Variante des Coronavirus zitiert. Es wird behauptet, sie würden belegen, dass das Sterberisiko für geimpfte Menschen viel höher liege als für ungeimpfte. Das stimmt nicht: Der Vergleich lässt das Alter der Betroffenen außer Acht und führt so in die Irre.
In verschiedenen Blogs und auf Telegram wird behauptet, Daten des Gesundheitsministeriums aus Großbritannien zeigten, dass geimpfte Menschen häufiger an der Delta-Variante des Coronavirus sterben als ungeimpfte. Die Behauptungen unterscheiden sich leicht. Teilweise ist von einem doppelt so hohen Sterberisiko die Rede (Corona-Blog), anderswo von einem sechsfachen Risiko (Sciencefiles, Report 24 und Connectiv-Events). Und der Blog Legitim.ch schreibt, dass Geimpfte angeblich dreimal häufiger an der Delta-Variante sterben.
Doppelt, dreifach oder sechsfach – was sagen die Daten aus Großbritannien wirklich? Unsere Recherche zeigt: Die Behauptung, dass sich daraus ein erhöhtes Sterberisiko für Geimpfte ableiten lasse, ist falsch. Die angestellten Vergleiche beziehen das Alter der betroffenen Personen nicht mit ein und führen deshalb zu falschen Schlussfolgerungen.
Korrekte Daten, aber falsche Schlussfolgerung aus dem Bericht zur Delta-Variante
Das Beispiel zeigt, wie durch die irreführende Interpretation von Daten aus einer seriösen Quelle eine Falschinformation entstehen kann. Die Blogs zitieren aus offiziellen Berichten (Technical Briefings) von Public Health England, einer Behörde des britischen Gesundheitsministeriums. Darin geht es um besorgniserregende SARS-CoV-2-Varianten. Die meisten Blogs beziehen sich auf die Version des Berichts vom 18. Juni 2021 und zeigen diese Tabelle (Seite 12):
Die Tabelle zeigt, wie viele Fälle der Delta-Variante vom 1. Februar bis zum 14. Juni 2021 in Großbritannien nachgewiesen wurden. 35.521 der Infektionen traten bei Menschen auf, die noch nicht geimpft waren (58,59 Prozent). 17.642 der Infizierten waren zuvor bereits ein- oder zweimal geimpft (29,1 Prozent).
Der Vergleich zeigt, dass rund 0,21 Prozent der infizierten Geimpften starben und rund 0,1 Prozent der Ungeimpften. Von den Geimpften mit zwei Impfdosen starben 0,64 Prozent.
Aus dieser Rechnung leitet der Blog Sciencefiles die Aussage ab, dass das „relative Sterberisiko“ nach zwei Impfungen sechsmal höher sei als bei Ungeimpften (0,64 zu 0,1 Prozent) und das „absolute Sterberisiko“ doppelt so hoch (0,21 zu 0,1 Prozent). Der Beitrag stellt deshalb infrage, ob eine Impfung die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, wirklich reduziert.
Die Zahlen sind korrekt – die Schlussfolgerung, dass dies ein höheres „Sterberisiko“ zeige, aber nicht.
Der Blog Legitim.ch argumentiert genauso wie Sciencefiles, bezieht sich allerdings auf den Folgebericht der britischen Regierung vom 25. Juni. Dieser zeigt Infektionen mit der Delta-Variante bis zum 21. Juni.
Das Verhältnis von Geimpften und Ungeimpften ist ungefähr gleich geblieben: 29,55 Prozent der Infizierten waren schon ein- oder zweimal geimpft. 58,48 Prozent waren ungeimpft.
Betrachtet man die absoluten Zahlen, sehen die Sterberaten so aus: Rund 0,26 Prozent der Geimpften starben, und 0,08 Prozent der Ungeimpften.
Hier ist es das Verhältnis von 0,08 zu 0,26 Prozent, aus dem Legitim.ch ein angeblich dreifach erhöhtes Sterberisiko ableitet.
Betrachtet man die präsentierten Zahlen, sieht es tatsächlich so aus, als sei das korrekt. Die Vergleiche führen jedoch in die Irre, denn sie beziehen das Alter der betroffenen Personen nicht mit ein.
Vergleich innerhalb der Altersgruppen zeigt niedrigere Sterberate bei älteren geimpften Menschen
Der Bericht vom 25. Juni ist detaillierter als der vom 18. Juni – er schlüsselt die Infizierten auch nach Altersgruppen auf. Es zeigt sich, dass 98,19 Prozent der Ungeimpften, die sich mit der Delta-Variante infizierten, jünger als 50 Jahre waren. Bei den Geimpften waren nur 72,42 Prozent unter 50.
Unter den geimpften Infizierten waren also viel mehr ältere Menschen – und bei diesen ist das Risiko, an Covid-19 zu sterben, bekanntlich höher. Deshalb ergibt ein Vergleich der Zahlen ein verzerrtes Bild.
Stellt man den Vergleich innerhalb der Altersgruppen an, sieht es ganz anders aus: Bei den Unter-50-Jährigen starben sowohl bei Geimpften als auch Ungeimpften rund 0,01 Prozent. Bei den Über-50-Jährigen dagegen starben von den Geimpften rund 0,91 Prozent – bei den Ungeimpften aber rund 3,89 Prozent.
Die Daten aus Großbritannien sind also kein Beleg, dass sich das Sterberisiko an der Delta-Variante durch die Impfung erhöht. Sie zeigen bei älteren Menschen sogar das Gegenteil.
Public Health England bezeichnet die Behauptung als falsch
Auf unsere Presseanfrage hin antwortete ein Sprecher der Gesundheitsbehörde Public Health England, die Behauptung sei falsch und manipuliere die Daten. Aufgrund der hohen Impfquote in Großbritannien sei es zu erwarten, dass ein großer Anteil an Corona-Fällen bei Geimpften auftrete – weil sie den größeren Teil der Bevölkerung ausmachen. Zudem sei die Impfung bei Risikogruppen priorisiert worden, die anfälliger für schwere Krankheitsverläufe seien.
Die Delta-Variante sei nach bisherigen Erkenntnissen deutlich ansteckender, schrieb uns der Pressesprecher weiter. Zum Glück sei der Anstieg der Fälle aber bisher nicht von einem ähnlich starken Anstieg der Hospitalisierungen begleitet. Die Daten würden bisher zeigen, dass die Impfung den Effekt dieser Virusvariante eindämmen könne. In Großbritannien sind rund 50 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.
Covid-19-Impfung ist kein perfekter Schutz
Erst kürzlich veröffentlichten auch der Guardian und der deutsche Wissenschaftsblog Spektrum Berichte, in denen sie die Zahlen aus Großbritannien einordnen. Denn tatsächlich sind unter den Todesfällen in absoluten Zahlen immer mehr geimpfte Menschen.
„Was auf den ersten Blick auf ein Problem mit den Impfungen hinzudeuten scheint, ist aber vermutlich ein statistischer Effekt, der vor allem mit zwei bereits bekannten Faktoren zusammenhängt: mit dem unvollständigen Schutz durch die Impfungen einerseits und den steigenden Impfraten andererseits“, heißt es bei Spektrum. Da die Impfung nicht perfekt sei, würden in den Risikogruppen auch voll Geimpfte sterben, allerdings weniger als ohne Impfung.
Auch der Guardian weist darauf hin, dass die Impfung keinen 100-prozentigen Schutz biete und das Sterberisiko stark vom Alter abhänge. „Das bedeutet, dass jemand im Alter von 80, der voll geimpft ist, etwa dasselbe Risiko hat wie eine ungeimpfte Person um die 50.“ Das Risiko sei sehr viel niedriger, aber es liege auch nicht bei null – und deshalb seien trotz Impfung einige Todesfälle zu erwarten.
Redigatur: Uschi Jonas, Sarah Thust