Interview im Time-Magazin: Nein, Olaf Scholz sagte nicht, er nehme einen Krieg Deutschlands gegen Russland in Kauf
Nach einem Interview von Olaf Scholz mit dem US-amerikanischen Time-Magazin verbreitet sich die Behauptung im Netz, er habe gesagt, er sei für „europäische Lösungen“, selbst wenn sie Deutschland in einen Krieg mit Russland ziehen. So hat sich der Bundeskanzler aber nicht geäußert.
Im Netz kursiert in unterschiedlichen Versionen die Behauptung, Bundeskanzler Olaf Scholz habe in einem Interview mit dem Time-Magazin gesagt: „Europäische Lösungen gehen vor, auch wenn dafür Deutschland gegen Russland in den Krieg zieht. Die Interessen des Volkes dürfe man sowieso nicht allzu ernst nehmen.“
Auf Facebook und Whatsapp wird dazu ein Foto eines Zeitungsausschnittes geteilt. Darin ist der Wortlaut etwas abweichend formuliert: „Das Volk dürfe man sowieso nicht allzu ernst nehmen, so Scholz – und europäische Lösungen gehen für ihn strikt vor, selbst wenn sie Deutschland in einen Krieg mit Russland ziehen“. Auch der österreichische Wochenblick verbreitet die Behauptung, die nahelegt, Scholz wolle einen Krieg mit Russland in Erwägung ziehen.
Wir haben zunächst recherchiert, woher der geteilte Zeitungsausschnitt stammt. Über eine Google-Suche nach dem Originalwortlaut fanden wir heraus, dass es sich bei dem Text um einen Meinungs-Kommentar einer Leserin handelt, der bei der österreichischen Kronen-Zeitung abgedruckt wurde.
Bundeskanzler Scholz zieht im Time-Interview keinen Krieg Deutschlands gegen Russland in Erwägung
Ein Blick in das Interview im Time-Magazin, das am 27. April veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich Olaf Scholz nicht so geäußert hat, wie es in dem Leserinnen-Kommentar dargestellt wird. So sagte der Bundeskanzler im Original: „Wir sollten die Nation sein, die bereit ist, europäische Lösungen zu finden, die für alle gut sind, nicht nur für unser Land.“
Scholz sagte in diesem Zusammenhang nicht, dass Deutschland gegen Russland in den Krieg ziehen solle, oder dass er es zugunsten europäischer Lösungen hinnehme, wenn Deutschland in einen Krieg mit Russland gezogen werde. Stattdessen betonte er Deutschlands historische Verantwortung, Frieden zu sichern: „Wenn man in Deutschland lebt, kann man sich nicht von den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts distanzieren, die von Deutschland verursacht wurden. Sie sind immer Teil unseres politischen Handelns und sind auch in meinem Bewusstsein präsent, weil wir eine historische Verantwortung haben, zur Sicherung des Friedens beizutragen.“
Auch sagte Scholz nicht, man dürfe das Volk nicht ernst nehmen. In Form eines indirekten Zitats wird Scholz’ Ansicht wiedergegeben, dass das deutsche Volk ihn beauftragt habe, die Regierung zu führen, und zwar auf der Grundlage dessen, was er für das Land für richtig halte – und nicht auf der Grundlage von Umfrageergebnissen. Das Magazin zitiert Scholz dann mit den Worten: „Wenn man eine gute Führungspersönlichkeit ist, hört man auf das Volk. Aber man glaubt niemals, dass es wirklich will, dass man genau das tut, was es vorschlägt.“
Es handelt sich bei den Sätzen, die in Sozialen Netzwerken kursieren, also nicht um wörtliche Zitate von Olaf Scholz – sondern um eine überspitzte, irreführende Interpretation seiner Aussagen.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Matthias Bau, Alice Echtermann
Wichtigste, öffentliche Quelle für diesen Faktencheck:
- Artikel über Olaf Scholz inklusive Interview im Time-Magazin vom 27. April 2022: Link (Englisch)