Nein, die niederländische Regierung zwingt Bürger nicht zur Aufnahme von Geflüchteten
Hat das niederländische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das von Bürgern verlangt, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen und sie zu ernähren? Eine Webseite interpretiert einen Beschluss der Regierung falsch. Mit dem Wohnraum von Bürgerinnen hat er nichts zu tun.
„Holländische Regierung zwingt künftig Bürger zu Migrantenaufnahme in den eigenen vier Wänden!“, titelte die für Desinformation bekannte Webseite Unser Mitteleuropa am 14. Juli. Aufgrund eines neu verabschiedeten Gesetzes könne die niederländische Regierung verlangen, dass „Bürger ‘Flüchtlingen’ Zimmer in ihrem eigenen Haus zur Verfügung stellen und sie ernähren müssen“. Wenn nötig, könne die Regierung auch Menschen umsiedeln, um Geflüchtete unterzubringen. Ein Foto der Überschrift des Artikels verbreitete sich anschließend auf Facebook, auch rumänische und ungarische Profile teilten ihn.
Die Behauptungen sind falsch. Die niederländische Regierung hat zwei Artikel eines alten Gesetzes aus Kriegszeiten wieder in Kraft gesetzt. Diese Artikel betreffen Anweisungen an Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, mehr Geflüchtete in den Gemeinden aufzunehmen. Andere Artikel, die etwa Wohnraum oder Essen abdecken würden, sind nicht Teil davon.
Niederlande: Regierung reaktivierte altes Kriegsgesetz
Der Hintergrund: Im Frühling reaktivierte die niederländische Regierung Teile eines Notstandsgesetzes aus dem Jahr 1952. Das sogenannte Wet verplaatsing bevolking (übersetzt: Bevölkerungsumsiedlungsgesetz) sei ursprünglich für Kriegszeiten gedacht gewesen, erklärte uns Ingrid Leijten telefonisch. Sie ist Professorin für Niederländisches und Europäisches Verfassungsrecht an der Universität Tilburg. Ziel des Gesetzes sei, in Notsituationen Menschen innerhalb der Niederlande umzusiedeln.
Laut der niederländischen Regierung ist das Gesetz in der aktuellen Situation anwendbar: Die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten werde als humanitäre Verpflichtung gewertet und das Land könne nicht ausreichend Unterkünfte zur Verfügung stellen.
Die Bestimmungen dieses Notstandrechts gelten unter normalen Umständen nicht, schrieb uns Wim Voermans, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Leiden. „Die Regierung kann den Schalter aber umlegen und es durch ein Regierungsdekret wieder in Kraft treten lassen.“ Das sei in diesem Frühjahr geschehen.
Nur zwei Artikel des alten Gesetzes reaktiviert – sie richten sich an Bürgermeister und verpflichten keine Bürgerinnen und Bürger
Die Regierung reaktivierte mit einem königlichen Erlass vom 31. März zwei Artikel des Gesetzes: Artikel 2c und 4. Wie im Amtsblatt vermerkt, ermöglicht es Artikel 2c, das Bevölkerungsumsiedlungsgesetz in der jetzigen Situation anzuwenden. Artikel 4 verpflichtet Bürgermeister dazu, sich um die Aufnahme, Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten aus der Ukraine zu kümmern. Dabei entstehende Kosten würden von der Regierung vollständig erstattet.
„Bislang konnte die Regierung Gemeinden lediglich um ihre Hilfe bitten“, schrieb uns Wim Voermans. Einige hätten sich geweigert, dies zu tun, weshalb es zu einer „Asylkrise“ gekommen sei, obwohl eigentlich genug Platz zur Verfügung stehe. Die Maßnahmen könnten unwillige Gemeinden dazu bringen, auszuhelfen und freie Asylplätze in ihren Gemeinden zur Verfügung zu stellen.
Aber: „Auf keinen Fall können diese Kommunen auf dieser Grundlage persönliches Eigentum oder Eigenheime beschlagnahmen oder verlangen.“ Artikel 4 ermächtige einen Minister nur, allgemeine Anweisungen zu erteilen, zum Beispiel zum Anteil der unterzubringenden Menschen. Das sieht auch Ingrid Leijten so: „Es stimmt nicht, dass Bürger damit gezwungen werden, ihre Wohnungen zu verlassen oder andere Menschen aufzunehmen.”
Gleiches sagte die niederländische Justizministerin Dilan Yeşilgöz-Zegerius in einer Parlamentsdebatte in der zweiten Kammer. Ein Parteimitglied der nationalkonservativen FVP fragte, ob Bürger künftig dazu verpflichtete werden könnten, Einwanderern einen Platz zur Verfügung zu stellen und für sie zu kochen – genau die Behauptung, die Unser Mitteleuropa später aufgriff. Yeşilgöz-Zegerius betonte daraufhin, dass außer Artikel 2c und 4 keine anderen Regeln geltend gemacht wurden. Solche „weitreichenden Notstandsbefugnisse“ seien derzeit nicht erforderlich und daher nicht verhältnismäßig.
Weitere Artikel stehen nicht zur Debatte und müssten vom Parlament in den Niederlanden bestätigt werden
Ebenfalls zur Sprache kam in diesem Zusammenhang Artikel 7 des Bevölkerungsumsiedlungsgesetz, der aber nicht reaktiviert wurde. Mit diesem Teil des Gesetzes könnten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister tatsächlich die Bereitstellung von Wohnräumen und Essen verlangen. Die Behauptung von Unser Mitteleuropa, dass das Gesetz die Regierung „mit dieser Macht ausstattet“, ist in diesem Zusammenhang irreführend.
Mit der Reaktivierung der zwei Artikel werde es zwar grundsätzlich leichter, auch andere Bestimmungen zu aktivieren, erklärt uns Ingrid Leijten. Doch Artikel 7 und andere Artikel stünden aktuell nicht zur Diskussion. Und: „Es müsste dafür nicht nur erneut einen Regierungsbeschluss geben, sondern auch wieder ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren, um dies zu bestätigen“, erklärt Leijten.
Das geschah aktuell mit den Artikeln 2c und 4. Nach Reaktivierung der zwei Artikel musste die niederländische Regierung der zweiten Kammer einen Gesetzesentwurf vorlegen, der den Fortbestand der in Kraft getretenen Befugnisse regelt. „Für die Fortführung der Notstandsmaßnahmen ist die Zustimmung des Parlaments erforderlich“, so Wim Voermans. Das tat die zweite Kammer am 7. Juli. Nun liegt der Entwurf bei der ersten Kammer, dem Senat. Eine Ausschusssitzung ist am 27. September geplant. Das Parlament könne die Zustimmung jedoch jederzeit rückgängig machen, so Voermans.
Fazit: Es stimmt nicht, dass die aktuell reaktivierten Artikel Bürger zur Aufnahme von Menschen „in den eigenen vier Wänden zwingt“. Artikel 2c ermöglicht die Anwendung des Gesetzes. Artikel 4 soll Bürgermeister dazu verpflichten, Geflüchtete in ihren Gemeinden aufzunehmen.
Redigatur: Sarah Thust, Viktor Marinov