Faktencheck

Nein, das Bundesverfassungsgericht hat das pauschale Verbot der Kinderehe nicht gekippt

Mit einem Video über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Kinderehe erreicht der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Sichert online tausende Menschen. Warum das Bundesverfassungsgericht Sicherts Aussage, es habe das pauschale Verbot von Kinderehen gekippt, widerspricht, erklären wir in diesem Faktencheck.

von Kimberly Nicolaus

kinderehe-pauschales-verbot-deutschland-beschluss-bundesverfassungsgericht
Beiträge im Netz ziehen zum Teil falsche Folgerungen aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Kinderehe (Symbolbild: Geoff Kirby / Picture Alliance / Empics)
Behauptung
Das Bundesverfassungsgericht beanstande das pauschale Verbot von Kinderehen, beziehungsweise habe es gekippt, und sagt, es verstoße gegen das Grundgesetz. Damit stelle sich das Bundesverfassungsgericht hinter Kinderehen.
Bewertung
Teilweise falsch
Über diese Bewertung
Teilweise falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat am 1. Februar 2023 das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen als verfassungswidrig erklärt. Ein Sprecher des Gerichts und eine Rechtsexpertin erklären, es stelle sich damit nicht hinter Kinderehen und habe das Verbot auch nicht gekippt. Denn Kinderehen dürfen weiterhin pauschal als unwirksam erklärt werden. Das Gesetz muss jedoch nachgebessert werden, um unter anderem Regelungen für die Folgen einer Unwirksamkeit zum Schutz von Minderjährigen zu schaffen.

„Ich bin völlig entsetzt“, so beginnt Martin Sichert, AfD-Bundestagsabgeordneter, sein Video über ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Kinderehe. Am 29. März veröffentlichte er es auf Facebook und Tiktok und sagt darin: „Das Bundesverfassungsgericht beanstandet das pauschale Verbot von Kinderehen und sagt, das wäre ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Damit stellt sich das Bundesverfassungsgericht hinter Kinderehen.“ In dem zum Video veröffentlichten Text schreibt der Politiker, das Bundesverfassungsgericht habe das pauschale Verbot von Ehen unter 16 Jahren „gekippt“. Seine Videos erzielen über 265.000 Aufrufe und in mehr als 4.000 Kommentaren diskutieren Nutzerinnen und Nutzer über deren Inhalt. 

Sicherts Video verbreitet sich auch unabhängig von seinem eigenen Kanal auf Tiktok. Neben dem AfD-Politiker widmen auch der AfD-nahe Deutschland-Kurier und der österreichische Privatsender ServusTV dem Urteil ein Video (aktuell nicht mehr abrufbar). Auch dort heißt es, das Bundesverfassungsgericht habe das pauschale Verbot der Kinderehe gekippt beziehungsweise aufgehoben. 

Unsere Recherche zeigt: Das stimmt nicht. Im Gegenteil: Das Gericht kam zu dem Beschluss, dass Ehen, die im Ausland geschlossen wurden und bei denen eine der beteiligten Personen unter 16 Jahre alt war, in Deutschland weiterhin pauschal für unwirksam erklärt werden dürfen. Peter Roß, stellvertretender Pressesprecher des Bundesverfassungsgerichts, schreibt uns: „Das Bundesverfassungsgericht stellt sich in keiner Weise ‘hinter die Kinderehe’.“ Das bestätigt auch Rechtsprofessorin Nadjma Yassari vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Sie war Teil eines Teams aus Fachleuten, die für das Bundesverfassungsgericht eine rechtsvergleichende Stellungnahme verfassten, in der es um die Frühehe geht. 

Richtig ist aber, dass laut Bundesverfassungsgericht die geltende Gesetzgebung verfassungswidrig ist und nachgebessert werden muss. Denn: Aktuell sind laut Beschluss die Folgen einer unwirksamen Kinderehe nicht geregelt und es fehlt die Möglichkeit, eine im Ausland geschlossene Kinderehe mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres in Deutschland wirksam zu machen.

AfD-Bundestagsabgeordneter Martin Sichert sagt in einem Video auf Tiktok, das Bundesverfassungsgericht stelle sich hinter die Kinderehe. Dem widerspricht das Gericht. (Quelle: Tiktok; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Erlaubnis zum Heiraten in Deutschland ab 18 Jahren

Als Kinderehe – auch Frühehe genannt – gelte eine Ehe, bei der mindestens eine der beteiligten Personen bei der Eheschließung unter 18 Jahre alt ist, schreibt uns Peter Roß vom Bundesverfassungsgericht. Das im Sommer 2017 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen verschärfte hierzu die Regeln. War es vorher noch möglich, eine in Deutschland geschlossene Ehe zwischen einer volljährigen Person und einer mindestens 16-jährigen Person vom Familiengericht absegnen zu lassen, ist dies nun nicht mehr erlaubt. Es gilt ausnahmslos: Unter 18 Jahren darf man in Deutschland keine Ehe schließen. Ist eine der beteiligten Personen unter 16 Jahre alt, sei die Ehe unwirksam; wenn eine der Personen volljährig ist und die andere 16 oder 17 Jahre alt, dann werde die Ehe in der Regel gerichtlich aufgehoben, wie die Rechtsanwältinnen Mechtild Düsing und Antje Wittmann im Fachmagazin Anwaltsblatt erklären.

Doch was gilt, wenn eine Ehe im Ausland geschlossen wurde? 

„Der deutsche Gesetzgeber hält sich raus, wenn es um im Ausland geschlossene Ehen geht und erkennt diese grundsätzlich an, wenn sie in den jeweiligen Ländern wirksam geschlossen wurden“, so Rechtsprofessorin Yassari. Schließlich sollen auch in Deutschland geschlossene Ehen im Ausland gelten. Doch es gibt Ausnahmen bei Frühehen, die mit den oben genannten Regelungen für in Deutschland geschlossene Ehen übereinstimmen: Wenn eine der beteiligten Personen bei der Eheschließung unter 16 Jahre war, sei die im Ausland geschlossene Ehe in Deutschland automatisch, ohne Prüfung des Einzelfalls, unwirksam, erklärt Yassari. Wenn eine der beteiligten Personen 16 oder 17 Jahre alt war, sei die im Ausland geschlossene Ehe in Deutschland aufhebbar.

Ein Fall aus dem Jahr 2015 führte zu neuen Diskussionen über die Regelung der Frühehe in Deutschland: Ein syrisches Ehepaar, er damals 21 Jahre alt, sie 14, flüchtete vor dem Bürgerkrieg nach Bayern. Das zuständige Jugendamt nahm die 14-Jährige in Obhut, das Paar wurde getrennt. Daraufhin wandte sich der Ehemann an das Familiengericht. Der Fall ging bis vor den zuständigen Bundesgerichtshof, der das Verfahren aussetzte und dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorlegte. Dessen Beschluss lag am 1. Februar 2023 vor.

Was bemängelte das Bundesverfassungsgericht am Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen?

Demnach muss der Gesetzgeber bei den aktuellen Regelungen nachbessern. Konkret bemängelte das Bundesverfassungsgericht, dass die aktuelle Gesetzgebung gegen die in Artikel 6 Absatz 1 im Grundgesetz gewährleistete Eheschließungsfreiheit verstößt und damit verfassungswidrig sei, wie auch Martin Sichert in seinem Video richtig sagt. Die Gründe dafür: Aktuell sind die Folgen einer unwirksamen Kinderehe nicht geregelt. Es fehlt auch die Möglichkeit, eine im Ausland geschlossene Kinderehe mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres nach deutschem Recht wirksam zu machen – aktuell müssen Betroffene nochmal neu heiraten, wenn sie die Ehe als Erwachsene weiterführen wollen. 

Zu Letzterem äußerte sich AfD-Bundestagsabgeordneter Martin Sichert uns gegenüber schriftlich. Wir baten ihn um Auskunft, wie er seine auf Facebook und Tiktok veröffentlichte Aussage, das Bundesverfassungsgericht habe das pauschale Verbot von Kinderehen gekippt, begründet. Sichert schrieb, das Bundesverfassungsgericht vertrete die Ansicht, dass es „Fortführungsmöglichkeiten“ einer Kinderehe in Deutschland geben müsse, wenn beide Eheleute volljährig sind. Das sei „das exakte Gegenteil eines pauschalen Verbots“. 

Die Erklärungen von Pressesprecher Roß und Rechtsprofessorin Yassari widersprechen dieser Auffassung. Das Bundesverfassungsgericht habe „vielmehr gerade klargestellt“, dass Kinderehen weiterhin ohne Einzelprüfung als unwirksam erklärt werden dürfen, so Roß. Das betont auch Yassari und schreibt: „Das Bundesverfassungsgericht stellt sich keinesfalls hinter Kinderehen“, sondern bestätige vielmehr, dass es dem Gesetzgeber frei stehe die Ehe pauschal für unwirksam zu erklären, wenn eine der Beteiligten bei Eheschließung unter 16 Jahre alt war. Das pauschale Verbot ist also weiter rechtens, auch wenn es durch Neuregelungen ab Juni 2024 potenziell „Fortführungsmöglichkeiten“ einer Frühehe in Deutschland geben könnte. 

Und Sichert lässt in seinem Video einen wichtigen Aspekt aus. Denn es geht bei der Neuregelung auch um einen besseren Schutz für Minderjährige.

Schutz und Rechte für Minderjährige können durch Unwirksamkeit einer Ehe verloren gehen

Dass im Ausland geschlossene Kinderehen in Deutschland als unwirksam gelten führe nämlich dazu, „dass die betroffenen Personen so behandelt werden, als wären sie nie verheiratet gewesen“, erklärt Rechtsprofessorin Yassari und weiter: „Eine wirksam im Ausland geschlossene Ehe, auch wenn sie eine im Ausland geschlossene Kinderehe ist, kann in Einzelfällen eine Schutzwirkung für die betroffene Frauen und Mädchen entfalten und (Unterhalts-)Ansprüche begründen, die bei einer automatischen Unwirksamkeit jedoch verloren gehen.“ 

Auch Sprecher Roß schreibt, die aktuelle Regelung zur Kinderehe stehe dem eigentlich „bezweckten Minderjährigenschutz“ zuwider. Entsprechend entschieden die Richterinnen und Richter in Karlsruhe, dass die Politik die Vorschrift zur Frühehe bis Juni 2024 neu regeln muss. Bis dahin gelte das aktuelle Gesetz. Um die möglichen wirtschaftlichen Nachteile der Minderjährigen zu deren Gunsten bereits jetzt zu mildern, sei das Scheidungsrecht anwendbar, so Roß. Dadurch kann die minderjährige Person in einer unwirksamen Ehe zum Beispiel Anspruch auf Unterhaltszahlungen haben. 

Deutsche Regelung zur Kinderehe vergleichsweise streng

In seiner rechtsvergleichenden Stellungnahme kam das wissenschaftliche Team um Nadjma Yassari und Ralf Michaels, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, zu dem Schluss, dass die jetzige deutsche Regelung zur im Ausland geschlossenen Frühehe im internationalen Vergleich „sehr streng“ sei. Yassari erklärt diese Bewertung in ihrer Mail an uns damit, dass in der deutschen Gesetzgebung drei Aspekte zusammenkämen: Erstens, dass die im Ausland geschlossenen Kinderehen pauschal unwirksam seien. Zweitens, dass die Ehen mit dem Erreichen der Volljährigkeit nicht legalisiert werden könnten und drittens, das Fehlen einer Grundlage für weitere Verfahren, um zum Beispiel Unterhaltsansprüche geltend zu machen. Das finde man so in keiner anderen Rechtsordnung. 

Redigatur: Matthias Bau, Sophie Timmermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, 1. Februar 2023: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts, 29. März 2023: Link (archiviert)
  • Rechtsvergleichende Stellungnahme „Die Frühehe im Recht“, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht: Link