Faktencheck

Nein, das RKI zählt nicht alle Menschen als Hitzetote, die bei mehr als 20 Grad Celsius sterben

Seit Juni 2023 veröffentlicht das Robert-Koch-Institut (RKI) wöchentlich die Übersterblichkeit durch Hitze in Deutschland. Auf Tiktok wird nun behauptet, das RKI zähle als Hitzetote alle Menschen, die bei mehr als 20 Grad Celsius sterben. Das stimmt nicht, eine Grafik wird falsch interpretiert.

von Paulina Thom

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Seit Juni 2023 gibt das Robert-Koch-Institut wöchentlich Schätzungen zu Hitzetoten heraus. Im Netz sorgen die Zahlen für Verwirrung. (Symbolbild: Sachelle Babbar / Zumapress / Picture Alliance)
Behauptung
Das Robert-Koch-Institut zähle als Hitzetote alle Menschen, die bei mehr als 20 Grad Celsius sterben. Belegen soll dies eine Grafik.
Bewertung
Falsch. Die Grafik wird falsch interpretiert. Bei den 20 Grad Celsius handelt es sich um einen Durchschnittswert der Tages- und Nachttemperatur einer Woche. Das sind meistens Wochen mit einem oder mehreren Tagen über 30 Grad Celsius. Das Robert-Koch-Institut zählt zudem nicht alle Menschen, die in einer solchen Woche sterben, als Hitzetote. Entscheidend für die Schätzungen ist die Differenz zu erwarteten Sterbefällen in Wochen ohne Hitze.

Rund 4.500 Menschen sind 2022 laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) hitzebedingt gestorben. Im Juni 2023 kündigte Gesundheitsminister Karl Lauterbach einen nationalen Hitzeschutzplan an. Als Teil dessen veröffentlicht das RKI wöchentlich seine Schätzungen zu Hitzetoten zwischen Juni und September.

Anfang August behauptete ein Nutzer auf Tiktok, das Institut zähle als Hitzetote alle Menschen, die bei mehr als 20 Grad Celsius sterben. Belegen soll dies eine Grafik des RKI. Der Verbreiter schreibt dazu: „Schon mal jemand bei 20 Grad an Hitze gestorben? Eher nicht!“

Doch er interpretiert die Grafik aus dem Wochenbericht des RKI falsch. Bei den 20 Grad Celsius handelt es sich nicht um die höchste Temperatur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern um einen Durchschnittswert für eine ganze Woche. Zudem zählt das RKI als Hitzetote nicht alle Menschen, die in einer solchen Woche sterben. Sterbefälle, die nicht im Zusammenhang mit Hitze stehen, werden aus den Schätzungen herausgerechnet. 

Screenshot eines Beitrags auf Tiktok
In diesem Tiktok-Beitrag wird eine Grafik des Robert-Koch-Instituts falsch interpretiert. Das Institut zählt nicht alle Menschen, die bei mehr als 20 Grad Celsius sterben, als Hitzetote. (Quelle: Tiktok; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Grafik stammt aus einem Wochenbericht zu hitzebedingten Sterbefällen des Robert-Koch-Instituts

Eine genaue Quelle für die Behauptung nennt der Tiktok-Beitrag nicht, im Video steht lediglich „Quelle RKI 1. August 2023“. Im Archiv des RKI finden wir über die Suchfunktion den Wochenbericht (PDF), der auf Tiktok offenbar gemeint ist. Er wurde am 27. Juli veröffentlicht und bezieht sich auf die Woche vom 10. bis 16. Juli. Die Grafik, die auf Tiktok zu sehen ist, steht auf Seite 3 des Berichts.

Auf der horizontalen Achse zeigt die Grafik Kalenderwochen der Jahre 2022 (links unten) und 2023 (rechts unten). Auf der vertikalen Achse ist die Anzahl der Sterbefälle angegeben. Zwei Linien zeigen die geschätzten Sterbefälle in Zusammenhang mit (rot) und ohne Hitze (blau) an; die dritte Linie (schwarz) die tatsächlich beobachteten Sterbefälle. Einige Kalenderwochen sind gelb eingefärbt, laut der Legende der Grafik markiert dies eine „Woche über 20 Grad Celsius“.

Grafik zu Hitzetoten des RKI
In dieser Grafik des RKI sind Schätzungen von Sterbefällen mit und ohne Hitze sowie die tatsächlich beobachteten Sterbefälle angegeben. In den gelb gefärbten Kalenderwochen lag die Temperatur gemittelt über 20 Grad Celsius. (Quelle: RKI-Wochenbericht zur hitzebedingten Mortalität; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

20 Grad Celsius bezieht sich auf den Durchschnitt der Temperaturen einer Woche, auch die der Nächte

Wie das RKI im Bericht (PDF, Seite 2) erläutert, handelt es sich bei den 20 Grad Celsius um einen Durchschnittswert für eine Woche, die sogenannte Wochenmitteltemperatur. Dieser Wert schließt Tages- und Nachttemperaturen für ganz Deutschland ein. Das heißt, innerhalb der Woche kann es zu einzelnen Uhrzeiten und an einzelnen Orten sowohl deutlich heißer als auch kälter gewesen sein. 

Zu der Wochenmitteltemperatur erklärte uns RKI-Pressesprecherin Susanne Glasmacher: „Das sind meistens Wochen mit einem oder mehreren heißen Tagen, die also Spitzenwerte von über 30 Grad Celsius haben.“ Für die körperliche Belastung durch Hitze sei jedoch nicht der einzelne Spitzenwert, sondern „die Dauerbelastung des Organismus unter den durchgehend hohen Temperaturen“ entscheidend. 

Durch eine anhaltend hohe Lufttemperatur könne das körpereigene Kühlsystem überlastet werden, schreibt das Umweltbundesamt auf seiner Webseite. Folgen können Regulationsstörungen und Kreislaufprobleme sein, besonders betroffen seien ältere Menschen und Personen mit chronischen Vorerkrankungen. Während extremer Hitze würden vermehrt Rettungseinsätze registriert.

Anders als der Tiktok-Beitrag suggeriert, ist eine Woche mit einer Durchschnittstemperatur von mehr als 20 Grad Celsius vergleichsweise warm: In der Periode von 1961 bis 1990 etwa lag die bundesweite durchschnittliche Temperatur im gesamten Juli bei 16,9 Grad Celsius, in der Zeit danach bis 2020 bei 18,7 Grad Celsius

Bei der Wochenmitteltemperatur von 20 Grad Celsius handelt es sich zudem nicht um einen beliebigen Wert. Das RKI nutzt die 20 Grad Celsius als Schwellenwert, Wochen mit solchen Durchschnittstemperaturen bezeichnet das Institut als „Hitzewoche“ (PDF). In solchen Wochen versterben laut Glasmacher „deutlich mehr Menschen, die Anzahl an Sterbefällen steigt dann deutlich, an einzelnen, heißen Tagen bisweilen massiv an.“ 

Anzahl der Hitzetoten ergibt sich aus der Differenz von Sterbefällen mit und ohne Hitze 

Anders als auf Tiktok behauptet, stimme es auch nicht, dass das RKI in seiner Statistik alle Menschen, die „bei mehr als 20 Grad sterben“, als Hitzetote zählt, schrieb uns Glasmacher. Ohne die Methoden des RKI zu kennen, geht das jedoch aus der Grafik nicht hervor. Wie das Institut vorgeht, erklärt es ausführlich in einem Bericht von 2022 (PDF). 

In einem ersten Schritt schätzt das RKI den Verlauf aller Sterbefälle (rote Linie). Das Modell kombiniere dafür die Sterbestatistik des Statistischen Bundesamtes und Temperaturdaten des Deutschen Wetterdienstes, schrieb uns Glasmacher. Sommerwochen verschiedener Jahre würden miteinander verglichen und der Zusammenhang zwischen Mitteltemperaturen und Sterbefällen analysiert.

Die blaue Linie dagegen wird im Bericht des RKI als „Hintergrundmortalität“ bezeichnet, sie zeigt den erwarteten Verlauf der Sterblichkeit bei Temperaturen unterhalb der Wochenmitteltemperatur von 20 Grad Celsius an. Oder anders ausgedrückt: Die blaue Linie ist eine Schätzung, wie viele Menschen ohne Hitze gestorben wären. 

Die Übersterblichkeit aufgrund von Hitze ergibt sich laut RKI aus der Differenz zwischen diesen zwei Schätzungen. Ein Beispiel: In der Woche vom 10. bis zum 16. Juli 2023 – also in jener Woche mit einer Durchschnittstemperatur von mehr als 20 Grad Celsius – sind in Deutschland laut vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamts rund 17.500 Menschen gestorben. 670 Todesfälle führte das RKI auf Hitze zurück, also bei weitem nicht alle Verstorbenen der Woche.

Warum schätzt das RKI die Zahl der Hitzetoten lediglich?

Wieso muss das RKI die Anzahl der Hitzetote überhaupt mit einem Modell schätzen? Darüber gibt der Wochenbericht Auskunft (Seite 2): „In einigen Fällen, zum Beispiel beim Hitzeschlag, führt die Hitzeeinwirkung unmittelbar zum Tod, während in den meisten Fällen die Kombination aus Hitzeexposition und bereits bestehenden Vorerkrankungen zum Tod führt.“ Daher werde Hitze auf dem Totenschein normalerweise nicht als Todesursache angegeben. 

Laut Statistischen Bundesamt (Destatis) wird Hitze als direkte Todesursache durchschnittlich in 19 Fällen pro Jahr angegeben. Dazu schreibt das Destatis: „Sehr hohe Temperaturen lassen die Sterblichkeit jedoch insgesamt steigen, da in vielen Fällen die Kombination aus Hitze und Vorerkrankungen das Sterberisiko erhöht.“ 

Das zeigen neben der Auswertung des RKI auch andere Studien: Im Juli etwa kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass 2022 in Europa mehr als 60.000 Menschen im Zusammenhang mit Hitze gestorben sind. Weltweit sind laut einer weiteren Studie die hitzebedingten Todesfälle zwischen 2000 bis 2004 und 2017 bis 2021 bei Menschen über 65 Jahren um 68 Prozent angestiegen.

Redigatur: Viktor Marinov, Matthias Bau

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • RKI-Wochenbericht zur hitzebedingten Mortalität, 27. Juli 2023: Link (PDF, archiviert)
  • RKI-Epidemiologisches Bulletin, Hitzebedingte Mortalität in Deutschland, 20. Oktober 2022: Link (PDF)
  • Heat-related mortality in Europe during the summer of 2022, Nature, 10. Juli 2023: Link
  • The 2022 report of the Lancet Countdown on health and climate change, The Lancet, 25. Oktober 2022: Link
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