Taliban-Bildungsverbot: Mädchen in Afghanistan dürfen offiziell nur bis zur 7. Klasse in die Schule
Auf Tiktok behauptet der selbsternannte islamische Gelehrte Ibrahim El-Azzazi, dass es „Quatsch“ sei, dass afghanische Mädchen nur bis zur 7. Klasse zur Schule gehen dürften. Expertinnen widersprechen ihm, seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Bildungssituation für Mädchen und Frauen massiv verschlechtert.
Wie sollen aus Mädchen Ärztinnen werden, wenn sie in einigen muslimischen Ländern nicht zur Schule gehen dürften, fragt eine Nutzerin Anfang November 2023 Ibrahim El-Azzazi auf Tiktok. Der selbsternannte islamische Gelehrte beantwortet in Sozialen Netzwerken seit Jahren Fragen aus dem Alltag und rund um den Islam – aus einer ultrakonservativen, salafistischen Perspektive.
Er kenne kein muslimisches Land, in dem Frauen nicht zur Schule gehen dürften, antwortet El-Azzazi – der sich auch „Sheikh Ibrahim” nennt – in dem Tiktok-Video. Auf das konkrete Beispiel Afghanistan angesprochen, sagt er, es sei „Quatsch“, dass Frauen dort nur bis zur 7. Klasse die Schule besuchen dürften.
Expertinnen widersprechen. Im August 2021 hatten die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen. Zu Beginn des Schuljahres im September wurde klar, dass die Taliban Mädchen von weiterführender Schulbildung ausschlossen, wie Medien berichteten. Lediglich Grundschulen, die in Afghanistan bis einschließlich zur 6. Klasse gehen, durften Mädchen von dort an besuchen.
Taliban verbieten Mädchen in Afghanistan höhere Bildung nach der Grundschule
Die Taliban hatten zunächst zugesagt, Mädchen den Zugang zu weiterführender Bildung wieder zu ermöglichen, wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet. Am 23. März 2022 wollten Schülerinnen an weiterführende Schulen zurückkehren, doch die Taliban erließen stattdessen an diesem Tag ein Schulverbot für Mädchen ab der 7. Klasse.
Darüber berichteten mehrere Medien und Hilfsorganisationen. Der Tagesschau zufolge kündigten die Taliban damals an, dass Mädchen höhere Schulen so lange nicht besuchen dürften, „bis ein im Einklang mit dem islamischen Recht erarbeiteter Plan ausgearbeitet sei“. Es sei ein alter Trick der Taliban, sich auf die Scharia und die afghanische Kultur zu stützen, um Frauen und Mädchen ihre Rechte zu verweigern, sagte Yamini Mishra, Regionaldirektorin für Südasien bei Amnesty International.
Antonia Toll vom Afghanischen Frauenverein in Deutschland berichtet uns, dass die Taliban in den vergangenen zwei Jahren die Rechte von Mädchen und Frauen mit mehr als 30 Erlassen eingeschränkt hätten: „Das Einschneidendste dabei: Mädchen ab Klasse 7 dürfen nicht mehr zur Schule gehen. Junge Frauen dürfen nicht mehr studieren. In zahlreichen Berufen wurden für Frauen Arbeitsverbote verhängt.“ Ihr Frauenverein betreibt mehrere Gymnasien in Afghanistan – für die Schülerinnen sei das Schulverbot ein „großer Schock“ gewesen.
Hilfsorganisationen bestätigen prekäre Lage für Mädchen und Frauen in Afghanistan
Und wie ist die Situation heute? Ellinor Zeino, Leiterin das Regionalprogramms Südwestasien der Konrad-Adenauer-Stiftung, schreibt uns: „Offizielle Linie der Taliban ist, dass man nicht generell gegen Schulbildung für Mädchen ist, sondern dass erst die ‚Rahmenbedingungen‘ (zum Beispiel die Geschlechtertrennung, Kleiderordnung, Curricula) geschaffen werden müssen.“ Bislang sei nicht konkret kommuniziert worden, wann diese Rahmenbedingungen erreicht seien. Das Schulverbot haben die Taliban bislang nicht aufgehoben. Es betrifft laut den Vereinten Nationen etwa 2,5 Millionen Mädchen.
Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, schreibt uns, die Ankündigungen der Taliban, Schulen für Mädchen wieder zu öffnen, seien bislang „nichts als leere Versprechungen“ gewesen. Ein Schulverbot wie in Afghanistan gebe es in keinem anderen Land der Welt, sagt Bergmann.
Roza Isakovna Otunbayeva, UN-Sonderbeauftragte und Leiterin der UN-Unterstützungsmission in Afghanistan bezeichnete das Land im März 2023 im Hinblick auf Frauenrechte als „das repressivste Land der Welt.“
Mädchen in Afghanistan dürfen religiöse und – in seltenen Fällen – private Schulen besuchen
Das Schulverbot sei auch unter den Taliban umstritten, schreibt uns Ellinor Zeino von der Konrad-Adenauer-Stiftung. „Viele Taliban in der Regierung sprechen sich auch recht offen gegen das Bildungsverbot aus. Die Entscheidung [für ein Schulverbot] kommt jedoch vom Emir aus Kandahar und hat politisches Gewicht.“
Ausgenommen von dem Schulverbot für Mädchen seien religiöse Schulen, schreibt uns Antonia Toll vom Afghanischen Frauenverein. Die sogenannten Madrasas seien zwar keine offiziellen Schulen, Mädchen könnten dort aber den Religionsunterricht besuchen, auch andere Fächer wie zum Beispiel Englisch würden dort unterrichtet, so Toll. Aber um Ärztin, Anwältin oder Ingenieurin zu werden, ist der Besuch einer offiziellen Schule notwendig.
Neben den Madrasas seien teilweise Privatschulen für Mädchen nach der 6. Klasse offen, sagte Zobair Akhi von der Hilfsorganisation Grünhelme im Interview mit dem NDR im August. Privatschulen unterlägen nicht dem Einfluss des Bildungsministeriums, schreibt uns Toll. Ob Schulen schließen müssten, hänge auch vom Einsatz der Bewohnerinnen und Bewohner für die Bildung von Frauen vor Ort ab. Es werde allerdings immer schwieriger, eine Schließung zu verhindern.
Das Bildungsverbot für Mädchen werde vielfach umgangen, schreibt uns Zeino. „Es gibt informelle Schulen (mit stillschweigender Akzeptanz der Taliban).“ Über solche Schulen, die Mädchen im Geheimen unterrichten, berichteten mehrere Medien. Lehrerinnen und Schülerinnen dort lebten in ständiger Angst, von den Taliban entdeckt zu werden, berichtete zum Beispiel die Tagesschau.
Ibrahim El-Azzazi ist laut Verfassungsschutz-Ämtern einer der bekanntesten salafistischen Akteure in Deutschland
Ibrahim El-Azzazi reagierte nicht auf eine Anfrage von uns auf Tiktok. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg (PDF) bezeichnete ihn 2022 als einen „der einflussreichsten Akteure der salafistischen Szene“. Im selben Jahr sperrte Tiktok seinen Kanal, weil er Hass schürte und gegen Richtlinien verstoß.
Doch El-Azzazi ist damit nicht von der Plattform verschwunden. Über mehrere andere Accounts erreicht er weiterhin hunderttausende Nutzerinnen und Nutzer. So auch über den Tiktok-Account „Islamcontent5778“, der das aktuelle Video verbreitet und laut Verfassungsschutz Bayern (PDF) der „Missionierung“ dient.
Aus Sicht von Antonia Toll vom Afghanischen Frauenverein kehrt El-Azzazi mit seiner Behauptung „die tagtäglichen, teilweise lebensbedrohlichen Hürden, mit denen Mädchen und Frauen in Afghanistan zu kämpfen haben, unter den Tisch“.
Redigatur: Max Bernhard, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Pressemitteilung von Amnesty International, 11. August 2023: Link (archiviert)
- Bericht über den Stand der Bildung in Afghanistan, Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans, Oktober 2023: Link (PDF, Englisch, archiviert)
- Verfassungsschutzbericht Bayern, 1. Halbjahr 2022: Link (archiviert, PDF)