Klage Nicaraguas gegen Deutschland: Dieses Video zeigt kein Urteil des Internationalen Gerichtshofs
Vor dem Internationalen Gerichtshof wirft Nicaragua Deutschland Beihilfe zum Völkermord in Gaza vor. In Sozialen Netzwerken kursiert ein Video, in dem ein Richter Deutschland angeblich auffordert, die Unterstützung Israels auszusetzen. Doch weder ist die Person im Video ein Richter, noch ist der Prozess beendet.
Anfang März reichte Nicaragua Klage gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) ein. Der Vorwurf: Deutschland leiste Beihilfe zu einem Völkermord im Gazastreifen, indem es Israel politisch, finanziell und militärisch unterstütze und Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gestrichen habe. Daraufhin begannen am 8. und 9. April in Den Haag die öffentlichen Anhörungen beider Seiten. Deutschland wies die Vorwürfe Nicaraguas zurück.
Auf Instagram, X und Telegram kursiert seitdem ein Video aus dem Gerichtssaal, zu dem es heißt, es zeige einen Richter des IGH, der Deutschland auffordere, „unverzüglich“ seine Hilfen für Israel auszusetzen. Bei Instagram heißt es dazu, Deutschland sei „verurteilt“ worden. Etwa 30.000 Aufrufe erzielte das Video allein bei Telegram, bei Instagram erhielt es mehr als 4.000 „Gefällt mir“-Angaben.
Was ist der Internationale Gerichtshof?
Der Internationale Gerichtshof wurde 1946 in den Haag gegründet und „ist das ‚Hauptrechtsprechungsorgan‘ der Vereinten Nationen“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Der Gerichtshof verhandelt Streitfälle zwischen Staaten und erarbeitet Rechtsgutachten für die Vereinten Nationen.
Klage vor dem Gerichtshof dürfen nur Staaten erheben, die entweder den Vereinten Nationen angehören oder die seine Rechtsprechung anerkennen. Deutschland erkannte die Rechtsprechung des Gerichts im Jahr 2008 als verbindlich an, Nicaragua im Jahr 1946.
In dem Video spricht kein Richter, sondern der Kanzler des Internationalen Gerichtshofs
Zunächst fällt auf: Der angebliche Richter in dem Video scheint Deutsch zu sprechen. Das ist ungewöhnlich, denn die Amtssprachen am IGH sind Französisch und Englisch. Gegen Ende des Videos weist der Sprecher im Video darauf hin, dass es sich um eine Übersetzung handele, die Fehler enthalten könne.
Offenbar stammt das Video, wie eine Einblendung oben rechts zeigt, von „Free People Germany e.V.“. Auf einem Youtube-Kanal mit diesem Namen ist das Video in der deutschen Übersetzung am 8. April veröffentlicht worden – allerdings ohne die Behauptung, es zeige einen Richter oder dass Deutschland verurteilt werde.
Dass die deutsche Übersetzung größtenteils richtig ist, zeigt ein Abgleich mit dem Originalvideo (ab Minute 9:53) und dem Protokoll (PDF, ab Seite 10) der Anhörung vom 8. April auf der Webseite des IGH. Nur an einer Stelle wird das Hilfswerk UNRWA in der deutschen Übersetzung fälschlich als „Ana“ bezeichnet.
Aus dem Originalvideo und dem Protokoll des IGH geht hervor, dass Nutzerinnen und Nutzer das Video in Sozialen Netzwerken in einen falschen Kontext setzen: In dem Video spricht kein Richter, sondern der Registrar (auf Deutsch: Kanzler) des IGH, Philippe Gautier. Der Richter in dem Verfahren heißt dagegen Awn Shawkat Al-Khasawneh, er ist Jurist und ehemaliger Ministerpräsident Jordaniens.
Der Kanzler stellt keine Forderungen an Deutschland, sondern verliest den Antrag Nicaraguas
Anders als online behauptet, stellen weder der Richter noch der Kanzler die Forderung an Deutschland, die militärische Unterstützung Israels auszusetzen. Wie das Originalvideo und das Protokoll zeigen, verliest der Kanzler lediglich den von Nicaragua gestellten Antrag.
Der Präsident des IGH, Nawaf Salam, sagt bei Minute 9:37: „Der Kanzler wird nun die Passage aus dem Antrag verlesen, in der die vorläufigen Maßnahmen genannt werden, um die die Regierung von Nicaragua den Gerichtshof ersucht. Sie haben das Wort, Herr Kanzler.“ Gautier sagt anschließend: „Ich danke Ihnen, Herr Präsident. Ich zitiere“, bevor er den Antrag Nicaraguas verliest. Dieser Teil fehlt in dem Video, das sich aktuell in Sozialen Netzwerken verbreitet.
Dass ein Richter des IGH zu diesem Zeitpunkt eine Forderung an Deutschland ausspricht, ist auch deshalb unlogisch, weil es bislang kein Urteil in dem Fall gibt. Am 9. April gab der IGH in einer Pressemitteilung bekannt, seine Beratungen aufzunehmen. Der Termin, bei dem die Entscheidung des Gerichts öffentlich gemacht werde, werde zu gegebener Zeit bekannt gegeben, heißt es darin.
Alle Faktenchecks zu Falschmeldungen und Gerüchten zum Krieg im Nahen Osten finden Sie hier.
Redigatur: Matthias Bau, Steffen Kutzner
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Video der Anhörung im IGH, 8. April 2024: Link (Englisch)
- Anhörungsprotokoll des IGH, 8. April 2024: Link (PDF, Englisch, Französisch)
- Pressemitteilung des IGH, 9. April 2024: Link (PDF, Englisch)
Korrektur, 23. September 2024: Wir haben korrigiert, dass der Richter, Awn Shawkat Al-Khasawneh, ehemaliger Ministerpräsident – nicht Staatspräsident – Jordaniens war.