Nach Angriff in Solingen: Video einer muslimischen Gedenkveranstaltung wird irreführend verbreitet
Nur wenige Stunden nach dem Messerangriff in Solingen am 23. August taucht ein Video auf, das angeblich eine Demo des Islamischen Staats vor der Nürnberger Lorenzkirche zeigt. Das Video ist echt, aber es zeigt etwas Anderes.
Am späten Freitagabend, dem 23. August 2024, attackierte mutmaßlich ein Syrer mehrere Menschen auf einem Stadtfest in Solingen, drei von ihnen starben. Der Islamische Staat (IS), eine islamistische Terrororganisation, hat den Anschlag für sich reklamiert.
Nur wenige Stunden danach, am Samstagmorgen, soll vor der Nürnberger Lorenzkirche eine IS-Demonstration stattgefunden haben. Teilweise ist auch von „Islamisten“ die Rede. Das zumindest suggerieren einige Beiträge in Sozialen Netzwerken und „Nius“. Die Behauptung verbreitete sich bis nach Italien. „Feiern die den Anschlag?“, fragt etwa ein Beitrag auf Instagram.
Tatsächlich handelte es sich um eine Trauerveranstaltung, die weder etwas mit Solingen zu tun hatte, noch mit dem IS, noch war es eine Demonstration.
Olaf Kuch, ein Sprecher der Stadt Nürnberg, schrieb uns, dass die Veranstaltung bereits öfter durchgeführt und schon am 14. August angemeldet worden war. „Die Versammlung wurde von einem islamischen Kulturzentrum/Verein für die Zeit von 09:30 – 11:00 Uhr am Samstag vor der Lorenzkirche bereits am 14.08.2024 angemeldet. Anlass war der ‚Gedenktag Imam Hussein‘. […] Es waren rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort.“ Weder in den letzten Jahren noch in diesem Jahr habe es laut Kuch Probleme mit der Veranstaltung gegeben. Auch die zuständige Polizei schrieb uns, dass es am Samstag zu keinerlei Zwischenfällen gekommen sei.
Da die Veranstaltung bereits lange vor dem Anschlag angemeldet worden war und auch in den letzten Jahren mehrfach stattgefunden hat, ist klar, dass es sich nicht um eine Reaktion oder Folge auf den Vorfall in Solingen handeln kann.
Veranstaltung war nicht vom IS und hatte nichts mit Solingen zu tun
Wie uns der Verein, der die Veranstaltung durchgeführt hat, mitteilte, findet diese jedes Jahr immer am gleichen Tag statt. Er diene „der Darstellung eines gerechten, moderaten sowie toleranten Islam, der konträr dem gegenübersteht, was schrecklicherweise im Namen des Islams in Solingen passiert ist“.
Der Verein spricht auf Facebook (archiviert) von einer „Hetzkampagne“ und dementierte die Behauptungen. Darin heißt es, dass es sich um eine Trauerveranstaltung zum 40. Todestag von Imam Hussein handelte – der Imam ist als Enkel von Prophet Mohammed unter Muslimen weltweit bekannt. Die Veranstalter distanzieren sich in dem Beitrag ausdrücklich von jeglicher Verbindung zum Islamischen Staat und zum Attentat in Solingen. „Den Opfern des Attentats gilt unser höchstes Mitgefühl, Bestürzung und Trauer. Wir als Schiiten und unsere Gotteshäuser sind selbst Opfer des IS-Terrors!“
Schiitische Gedenkveranstaltungen für Imam Hussein im Irak wurden von IS mehrfach angegriffen. IS-Kämpfer im Irak geben vor, sich für die sunnitische Minderheit einzusetzen, weil diese sich von der schiitischen Mehrheit unterdrückt fühle.
Im Islam gibt es, wie im Christentum, unterschiedliche Strömungen. Die zwei wichtigsten sind das Sunniten- und Schiitentum; zwischen ihnen bestehen alte religiöse Konflikte, die für politische Zwecke immer wieder angefacht werden. Dabei glauben beide Gruppen an denselben Gott und dieselben Propheten – und teilen auch die Anerkennung für Imam Hussein.
Redigatur: Max Bernhard, Sarah Thust