Faktencheck

Trotz verschleppter Wahlrechtsreformen: Alle Bundestagswahlen sind gültig

Sogenannte Reichsbürger bezweifeln immer wieder die Legitimität des deutschen Staates. Nun nutzen sie Argumente aus der ZDF-Satiresendung „Neues aus der Anstalt“, um zu behaupten, dass alle Wahlen in Deutschland ungültig seien. Das ist falsch – aber es gab tatsächlich eine Kontroverse um das Wahlrecht.

von Matthias Bau

neues-aus-der-anstalt-wahlen-ungültig
Der Bundestag im August 2024 (Quelle: Metodi Popow / Picture Alliance)
Behauptung
Alle Wahlen in Deutschland seien ungültig. Wer wählen gehe, mache sich daher strafbar.
Bewertung
Falsch. Als Grundlage für die Argumentation wird ein Ausschnitt aus der ZDF-Satiresendung „Neues aus der Anstalt“ verbreitet. Darin geht es darum, dass 2011 die damals regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP eine dreijährige Frist des Bundesverfassungsgerichts verstreichen ließ und keine Reform des Bundeswahlgesetzes vorlegte. Eine Reform erfolgte aber vor der nächsten Bundestagswahl im Jahr 2013. Eine Bundestagswahl mit verfassungswidrigem Wahlrecht gab es nicht.

„Alle Wahlen sind und waren ungültig.“ Mit dieser Behauptung versucht ein Account auf Telegram rund um die Landtagswahlen am 1. September 2024 in Sachsen und Thüringen Aufmerksamkeit zu erregen. Die Behauptung stammt aus der Reichsbürger-Szene, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise deren rechtliche Legitimität leugnet. 

Der nun präsentierte Beweis für die Behauptung ist ausgerechnet ein Ausschnitt aus der Satiresendung „Neues aus der Anstalt“ des ZDF aus dem Jahr 2011. Er zeigt einen Dialog zwischen dem Kabarettisten Frank-Markus Barwasser (in seiner Kunstfigur Erwin Pelzig) und dem Kabarettisten Max Uthoff, der die Rolle eines Juristen einnimmt. Pelzig fragt Uthoff: „Wir haben doch gar kein gültiges Wahlrecht, richtig?“ Darauf antwortet Uthoff: „Richtig, das Bundesverfassungsgericht hat vor drei Jahren festgestellt: Das Wahlrecht ist verfassungswidrig, weil die Überhangmandate das Ergebnis der Verhältnisstimmen verzerren.“ Die Frist, das zu verändern, sei im Juli abgelaufen.

Auf Telegram verbreitet sich parallel zur Landtagswahl in Thüringen und Sachsen die Behauptung, alle Wahlen in Deutschland seien ungültig
Auf Telegram verbreitet sich parallel zur Landtagswahl in Thüringen und Sachsen die Behauptung, alle Wahlen in Deutschland seien ungültig (Quelle: Telegram; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Das Bundesverfassungsgericht forderte den Gesetzgeber 2008 auf, das Wahlgesetz zu ändern

Der Dialog bezieht sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008. Darin forderte das Gericht den Gesetzgeber auf, bis zum 30. Juni 2011 eine Neuregelung des Bundeswahlgesetzes vorzulegen. Denn durch die damalige Rechtslage konnte „ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen“, schrieb das Gericht. Das Phänomen nannte es „negatives Stimmgewicht“.

Bei der Bundestagswahl 2009 wurde noch nach dem alten Wahlrecht gewählt. Das hatte das Verfassungsgericht in seinem Urteil explizit erlaubt. Eine Reform bis zum April 2009 berge die Gefahr, „dass die Alternativen nicht in der notwendigen Weise bedacht und erörtert werden können“, so das Gericht. Deswegen könne „ausnahmsweise hingenommen werden“, dass noch nach dem alten Wahlrecht gewählt werde.

Verzerrung durch Überhangmandate verfassungswidrig

Grund für den Regelungsbedarf waren die sogenannten Überhangmandate. Die erklärt der Bundestag auf seiner Homepage so: „Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten in den Bundestag entsenden kann, als ihr gemäß der Anzahl der Zweitstimmen in einem Bundesland zustehen.“ 

Mit der Erststimme können Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl einen Direktkandidaten oder eine -kandidatin aus ihrem Wahlkreis wählen. Mit der Zweitstimme wählen sie eine Partei, beziehungsweise deren festgelegte Landesliste. Nach den prozentualen Anteilen der Zweitstimmen werden die Sitze im Bundestag vergeben (Verhältniswahl). Grundsätzlich sind fünf Prozent der Zweitstimmen nötig, um in den Bundestag einzuziehen.

Gewann eine Partei zu viele Direktmandate, durfte sie noch mehr Abgeordnete in den Bundestag entsenden – das waren die Überhangmandate. Sie konnten das Kräfteverhältnis der Parteien im Bundestag verzerren. Es konnte zudem zu der paradoxen Situation kommen, dass weniger Zweitstimmen zu mehr Sitzen im Bundestag führten und umgekehrt. Dieses „negative Stimmgewicht“ war nicht verfassungsgemäß.

CDU/CSU und FDP ließen Frist des Verfassungsgerichts verstreichen

Die Frist des Bundesverfassungsgerichts für eine Reform des Wahlrechts im Juni 2011 hielten FDP und CDU/CSU nicht ein. Daher fragt Pelzig im Ausschnitt der ZDF-Sendung als nächstes: „Wenn jetzt gewählt werden müsste, was wäre denn dann?“ Uthoff antwortet: „Dann wäre die Wahl ungültig“. Und weiter: „Dann könnte auch die Wahl 2013, wie der ehemalige Verfassungsrichter Grimm betont, verfassungswidrig und damit ungültig sein.“

Das bezieht sich offenbar auf eine Aussage von Dieter Grimm, Verfassungsrichter von 1987 bis 1999, der am 16. Juni 2011 im Deutschlandfunk sagte: „Wenn es bis rechtzeitig vor der nächsten Wahl nicht zu einem geänderten Gesetz gekommen ist, dann riskiert der Gesetzgeber allerdings, dass die nächste Wahl annulliert wird.“

Die Koalition aus CDU/CSU und FDP legte dann im September 2011 ein Gesetz zur Reform des Wahlrechts vor und beschloss es gegen die Stimmen der Opposition. SPD, Linke und Bündnis90/Die Grünen kündigten an, gegen die Reform zu klagen. 

Die Reform erklärte das Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 für ungültig, das Problem sei nicht beseitigt worden. So würden die „Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien“ verletzt.

Überhangmandate erst 2024 durch SPD, Grüne und FDP abgeschafft

Die nächste Bundestagswahl fand am 22. September 2013 statt. Rund ein halbes Jahr vorher beschlossen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eine weitere Reform des Wahlrechts. Damit wurden die sogenannten „Ausgleichsmandate“ eingeführt, die die Überhangmandate ausgleichen sollten. Das bedeutet, wenn eine Partei ein oder mehrere Überhangmandate erhielt, bekamen alle anderen Parteien zum Ausgleich so viele Mandate zum Ausgleich, dass das Zweitstimmen-Ergebnis nicht verzerrt wurde. Die Folge: Der Bundestag wuchs. 

Es gab also seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2008 in keinem Bundestagswahljahr ein ungültiges Wahlrecht. Da das Gericht eine Frist von drei Jahren eingeräumt hatte, war das Wahlrecht bei der Bundestagswahl 2009 formal gültig. Davon, dass das Gericht die vergangene Wahl als ungültig erklärt habe, ist in keinem der Urteile etwas zu lesen. Auch in der ZDF-Sendung wird das nicht behauptet.

Die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen hatte sich nach der Bundestagswahl 2021 in ihrem Koalitionsvertrag auf eine weitere Reform des Wahlrechts geeinigt, um „nachhaltig das Anwachsen des Bundestages zu verhindern“. Klar war dabei, dass die Koalition die Überhangmandate abschaffen wollte.

Dieses Vorhaben setzte sie im März 2023 um. Der Bundestag beschloss eine Abschaffung der Ausgleichs- und Überhangmandate und eine Begrenzung des Bundestages auf 630 Sitze. Gleichzeitig sollte auch die sogenannte Grundmandatsklausel abgeschafft werden, die es Parteien ermöglichte, auch dann im Bundestag vertreten zu sein, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhielten. Nämlich dann, wenn sie mindestens drei Direktmandate bekamen. Diesen Teil der Reform kippte das Bundesverfassungsgericht im Juli 2024, den Wegfall der Ausgleichs- und Überhangmandate beanstandete das Gericht in seinem Urteil hingegen nicht.

Da Wahlen in Deutschland also nicht ungültig sind, erübrigt sich die Frage, ob Wählen strafbar ist.

Alle Faktenchecks rund um die Landtagswahlen 2024 finden Sie hier.

Redigatur: Alice Echtermann, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2008: Link
  • Wahlrechtsreform der CDU/CSU und FDP aus dem Jahr 2011: Link
  • Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012: Link
  • Reform des Wahlrechts durch CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Jahr 2013: Link
  • Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestags im Jahr 2023: Link
  • Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2024: Link
  • Artikel des Bundestages zum Thema „Überhangmandate“: Link