Softwarefehler bei der Landtagswahl in Sachsen: Was hinter der Korrektur der Sitzverteilung steckt
Nach einer Korrektur der Sitzberechnung im Sächsischen Landtag hat die AfD einen Sitz weniger – und damit keine Sperrminorität mehr. Der Landeswahlleiter spricht von einem Softwarefehler, rechte Kreise wittern darin einen Beleg für Wahlbetrug. Wurde die Berechnungsmethode zu Lasten der AfD verändert? Ein Faktencheck.
Die AfD, ihre Anhänger und Gesinnungsgenossen wittern Betrug: Am Morgen nach der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2024 korrigierte der Landeswahlleiter die Sitzverteilung. Dadurch verloren CDU und AfD jeweils einen Sitz im Landtag. Bei der ersten Meldung der vorläufigen Ergebnisse um 0:54 Uhr in der Nacht auf Montag wurden für die CDU 42 Sitze angegeben, die AfD 41. Nach der Korrektur um 8:40 Uhr waren es 41 für die CDU und 40 für die AfD. Dafür bekamen die Grünen und die SPD jeweils einen Sitz mehr. Die Landeswahlleitung teilte mit, es habe sich um einen Softwarefehler gehandelt, eine Software habe also die Sitzverteilung falsch berechnet.
Der Verlust von einem Sitz hat für die AfD Konsequenzen. Mit 41 Stimmen hätte die Partei mehr als ein Drittel der Sitze und damit eine Sperrminorität gehabt. Die AfD hätte damit, auch wenn sie nur in der Opposition bleiben sollte, Entscheidungen verhindern können, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erfordern. Bei 40 Stimmen ist das aber nicht mehr der Fall. In Thüringen hat die AfD bei der Landtagswahl eine Sperrminorität erreicht.
Die rechte Szene ist über die Korrektur empört. Die bayerische AfD spricht auf Instagram von einem „weggenommenen Sitz“ und „nachgebesserten“ Ergebnissen, „um bestimmten Parteien die Regierung zu sichern“. Der rechtsextreme Aktivist Martin Sellner schreibt auf X von „Demokratiesimulanten“, viele Nutzerinnen und Nutzer spekulieren über einen Betrug bei den Wahlergebnissen. Andere vermuten, dass eine alte, 2023 abgeschaffte Berechnungsmethode zum Einsatz kam und die Software nicht aktualisiert wurde. Das sei menschliches Versagen.
Alle Behauptungen stellen infrage, dass es sich wirklich um einen Softwarefehler handelte. Wir haben geprüft, was dahinter steckt.
Wie werden die Sitze für den sächsischen Landtag berechnet?
Wählerinnen und Wähler haben bei Landtagswahlen zwei Stimmen: eine Direktstimme für die Wahl eines Abgeordneten aus dem eigenen Wahlkreis und eine Listenstimme für eine Partei. Die Listenstimmen, auch Zweitstimmen genannt, entscheiden darüber, wie viele Politikerinnen und Politiker der jeweiligen Partei im Landtag sitzen.
Es gibt mehrere mögliche Verfahren, um das Wahlergebnis in die Sitzverteilung im Landtag umzurechnen. Das sogenannte D’Hondt-Verfahren wurde in Sachsen bei Landtagswahlen bis 2023 genutzt. Die Umstellung auf das Sainte-Laguë-Berechnungsverfahren wurde im Juli 2023 vom Sächsischen Landtag beschlossen. Es kam also bei dieser Landtagswahl zum ersten Mal zum Einsatz. Mittels Sainte-Laguë wird auch die Verteilung der Sitze für die Bundestagswahl, die Europawahl und andere Landtagswahlen wie etwa in Bremen (seit 2003), Hamburg (seit 2008) und Nordrhein-Westfalen (seit 2010) berechnet.
Altes D’Hondt-Verfahren benachteiligte kleine Parteien – AfD Sachsen stimmte 2023 für Änderung
Die zwei Verfahren können zu unterschiedlichen Sitzverteilungen führen. In den Diskussionen zum Gesetzentwurf in Sachsen 2023 wurde Sainte-Laguë als die „gerechtere“ Methode bezeichnet. Auch etwa im bayerischen Landtag, wo Sainte-Laguë 2022 eingeführt wurde, waren Experten der Meinung, dass diese Methode den Wählerwillen „bestmöglich“ abbilde.
Warum das so ist, erklärte uns der Mathematiker Friedrich Pukelsheim in einer E-Mail. Er hat für die Schweiz ein Wahlverfahren entwickelt und berät den Bundestag zum Thema Wahlrecht: „Sainte-Laguë ist unverzerrt, die Größe der Partei spielt keine Rolle.“ Das D’Hondt-Verfahren hingegen verzerre zu Gunsten der großen Parteien und auf Kosten der kleinen.
Dem stimmt auch Matthias Cantow, Wahlexperte und Betreiber der Seite Wahlrecht.de, zu. Auf seiner Webseite war die Sitzverteilung nach den Landtagswahlen in Sachsen schon vor der Korrektur richtig berechnet. „Die Gleichheit aller Stimmen wird bei Sainte-Laguë besonders gut gewährleistet“, schrieb er uns. Sainte-Laguë entspreche dem kaufmännischen Rechnungsverfahren, das man in der Schule lernt. „Zahlenbruchteile bis 0,49 werden abgerundet, ab 0,5 wird zur nächsten ganzen Zahl aufgerundet.“ Nach D’Hondt hingegen werde immer ab- und nie aufgerundet, erklärt uns Pukelsheim.
Gegen die Veränderung des Berechnungsverfahrens gab es in Sachsen von der AfD keine Einwände, das zeigen das Protokoll des Ausschusses für Inneres, der über den Gesetzentwurf beraten hatte, sowie das Plenarprotokoll des Landtags. Roland Ulbrich von der AfD sagte damals: „Im Sinne eines kleineren Landtags ist der Wechsel des Sitzzuteilungsverfahrens von D’Hondt zum ausgewogeneren Höchstzahlverfahren nach Sainte-Laguë bereits im Koalitionsentwurf vorgesehen.“ Die sächsische AfD-Fraktion stimmte 2023 also auch für das neue Wahlgesetz.
Wurde die Software vergessen zu aktualisieren?
Für die These, dass die Software nicht aktualisiert wurde, spricht, dass das Ergebnis, das die Landeswahlleitung zunächst mitteilte, dem D’Hondt-Verfahren entspricht.
Wir haben Friedrich Pukelsheim gebeten, für uns die Sitzverteilung für den sächsischen Landtag nach beiden Methoden zu berechnen. Nach dem alten D’Hondt-Verfahren kommt man auf folgende Sitzverteilung (rechte Spalte):
Wäre mit dem alten Verfahren gerechnet worden, hätten also CDU und AfD jeweils einen Sitz mehr im Landtag bekommen und SPD und Grüne jeweils einen Sitz weniger – genau so, wie es vor der Korrektur kommuniziert wurde. Mit dem Sainte-Laguë-Verfahren sieht die Sitzverteilung so aus:
Wo lag der Softwarefehler bei der Berechnung der Sitze?
Laut dem sächsischen Landeswahlleiter wurde bei der Berechnung aber nicht das falsche statistische Verfahren angewandt. Der Fehler lag seiner Aussage nach in der Software. Das erklärte der Landeswahlleiter mit der Herausgabe der Korrektur am Morgen nach der Wahl am 2. September.
Auf Anfrage schrieb uns das Büro des Landeswahlleiters, man habe schon bei der ersten Auszählung „das gesetzlich vorgegebene Verfahren nach Sainte-Laguë eingesetzt“. Der Fehler sei trotz mehrerer Tests im Vorlauf der Wahl aufgetreten.
Am 4. September hieß es in einer weiteren Pressemitteilung des Landeswahlleiters, dass der Fehler durch einen IT-Dienstleister „inzwischen identifiziert und behoben“ worden sei. Er stellte klar, dass es aufgrund des Rechenfehlers zunächst zur falschen Sitzberechnung gekommen sei. Der Fehler habe sich darin geäußert, dass „ab der Zuteilung des 117. Sitzes die Sitze nicht mehr an den mathematisch höchsten Teiler zugewiesen wurden“. Dass sich die Anzahl der Sitze dabei so darstellte, als wäre das alte D’Hondt-Verfahren zum Einsatz gekommen, war folglich Zufall.
So oder so: Laut Wahlrecht stehen der AfD 40 Sitze im Sächsischen Landtag zu, nicht 41. Die Spekulationen über Wahlbetrug sind haltlos. Warum im Netz ohne Belege immer wieder über Wahlbetrug spekuliert wird, lesen Sie hier.
Die Sitzverteilung im Landtag wird final vom Landeswahlausschuss beschlossen. Die öffentliche Sitzung dafür findet voraussichtlich am 13. September statt.
Alle Faktenchecks rund um die Landtagswahlen 2024 finden Sie hier.
Redigatur: Steffen Kutzner, Uschi Jonas
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Vorläufiges Ergebnis der Landtagswahl 2024 in Sachsen, Landeswahlleiter, Stand: 2. September 00:51 Uhr: Link
- Vorläufiges Ergebnis der Landtagswahl 2024 in Sachsen – Korrektur Sitzverteilung, Landeswahlleiter, Stand: 2. September 08:44 Uhr: Link