Internationaler Gerichtshof erklärte Besatzungs- und Siedlungspolitik für illegal – nicht den Staat Israel
In Sozialen Netzwerken kursiert die Behauptung, der Internationale Gerichtshof habe Israel zu einem illegalen Staat erklärt. Doch das Gutachten aus dem Juli 2024 betrifft Israels Besatzung- und Siedlungspolitik in palästinensischen Gebieten.
„Der Internationale Gerichtshof hat Israel zu einem illegalen Staat erklärt“, heißt es seit Anfang September in Beiträgen auf X, Telegram, Instagram und Facebook zu einem Video des türkischen Nachrichtensenders TRT World. Die Behauptung kursiert in verschiedenen Sprachen – allein ein englischer X-Beitrag erreichte vier Millionen Aufrufe.
Doch weder das Video von TRT World noch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von Juli 2024 lassen diesen Schluss zu. Der IGH – das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen – schrieb in seinem Gutachten am 19. Juli 2024, dass sowohl Israels Besatzung palästinensischer Gebiete als auch die dortige Siedlungspolitik unrechtmäßig seien. Das bedeutet aber nicht, dass das Gericht den Staat Israel für illegal erklärte.
Was erklärte der Internationale Gerichtshof im Juli 2024 zu Israel?
Im Dezember 2022 ersuchte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Gerichtshof um ein Gutachten. Darin sollte es um die rechtlichen Konsequenzen aus der Politik und den Praktiken Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten gehen. Das Ergebnis dieses Gutachtens wurde am 19. Juli 2024 verkündet. Das TRT World–Video zeigt, wie Riyad Al Maliki, der Außenminister der palästinensischen Autonomiebehörde, das Gutachten zusammenfasst.
In einer Pressemitteilung des IGH heißt es dazu unter anderem: Die fortgesetzte Präsenz des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten sei unrechtmäßig und Israel sei dazu verpflichtet, diese unrechtmäßige Präsenz schnellstmöglich zu beenden. Die Siedlungspolitik Israels in der Westbank und in Ost-Jerusalem verstoße gegen internationales Recht und Israel sei dazu verpflichtet, alle Siedler aus den besetzten Gebieten zu evakuieren. Alle Staaten seien verpflichtet, die Situation, die sich aus der unrechtmäßigen Anwesenheit des Staates Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten ergebe, nicht als rechtmäßig anzuerkennen.
Diese Entscheidungen des IGH nennt auch Al Maliki im TRT World-Video. Weiter sagt er, die illegale israelische Besatzung untergrabe das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung in seinem eigenen Land, einschließlich des Rechts auf einen eigenen Staat. Auch diese Erklärung findet sich im IGH-Gutachten.
Dass der IGH den Staat Israel für illegal erklärte – wie es die Beiträge in Sozialen Netzwerken auffassen –, sagt weder Al Maliki in dem Video, noch findet sich eine solche Erklärung in dem Gutachten des IGH vom 19. Juli 2024. Auf Nachfrage schrieb uns Monique Legerman, Leiterin der Abteilung Information des IGH, dass das Gutachten weder den Staat Israel für illegal erklärte, noch so interpretiert werden könnte. Auch deutsche und internationale Medienberichte über das Gutachten bestätigen das.
Gutachten des IGH erhöht politischen Druck auf Israel, ist aber rechtlich nicht bindend
Das Gutachten des IGH ist rechtlich nicht bindend, doch laut mehreren Medienberichten erhöht es den politischen Druck auf Israel. Bereits 2004 hatte der IGH in einem Gutachten die Rechtswidrigkeit der Siedlungspolitik Israels festgestellt. Damals ging es um eine völkerrechtswidrige Sperranlage im Westjordanland. Israel hielt sich aber nicht daran. Neu an dem aktuellen Gutachten sei laut Experten, dass der IGH die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete insgesamt für illegal erklärte und andere Staaten dazu auffordert, diese nicht anzuerkennen.
Israel hatte im Sechstagekrieg im Jahr 1967 das Westjordanland, den Gazastreifen, Ostjerusalem, die Golanhöhen und die Sinaihalbinsel besetzt – rund 350.000 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden vertrieben. 1982 gab Israel die Sinaihalbinsel nach langen Verhandlungen an Ägypten zurück, die Siedlungen im Gazastreifen räumte Israel bis Ende 2005 – kontrolliert aber weiter die dortigen Grenzen. In den besetzten Gebieten leben aktuell etwa 650.000 israelische Siedlerinnen und Siedler. Trotz internationaler Kritik treibt Israel den Siedlungsausbau in den besetzten Gebieten weiter voran.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat das Gutachten des IGH vom 19. Juli auf X als „absurd“ zurückgewiesen und erklärt, es sei das Recht der Israelis „in ihrer eigenen Gemeinde in unserer angestammten Heimat zu leben“.
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Redigatur: Viktor Marinov, Matthias Bau
Update, 9. Oktober 2024: Wir haben eine Antwort des Internationalen Gerichtshofs ergänzt.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, 19. Juli 2024: Link (Englisch)
- Pressemitteilung des Internationalen Gerichtshofs zum Gutachten, 19. Juli 2024: Link (Englisch)