Nein, der Birchgletscher stürzte nicht auf Blatten, weil er zu schwer war
Im Netz heißt es, der Gletscher, der Ende Mai 2025 auf das Schweizer Dorf Blatten stürzte, sei seinem eigenen Wachstum zum Opfer gefallen. Doch das ist falsch. Der Gletscher schrumpft seit Jahren. Forscher vermuten, dass ein Felssturz dafür verantwortlich war, dass der Gletscher schließlich ins Tal stürzte. Ein Zusammenhang mit dem Klimawandel gilt als wahrscheinlich.

„Klimahysteriker müssen jetzt stark sein“, heißt es in Sozialen Netzwerken zu dem Gletscherabbruch in der Schweiz, der Ende Mai 2025 das Dorf Blatten weitgehend zerstörte. Laut den Beiträgen habe der Gletscher zuvor an Dicke zugenommen und sei ins Tal gestürzt, da er für den instabilen Berg zu schwer gewesen sei. Screenshots des ursprünglichen Beitrags auf X wurden in anderen sozialen Netzwerken verbreitet, auch der AfD-Politiker Maximilian Krah teilte ihn auf X.
In den Kommentarspalten unter den Beiträgen behaupten mehrere Nutzerinnen und Nutzer, dass der menschengemachte Klimawandel nichts mit dem Ereignis zu tun haben könne, oder komplett erfunden sei. Als Beleg dienen einige Zitate aus einem Interview mit dem Gletscherforscher Matthias Huss von der Eidgenössischen Technische Hochschule (ETH) Zürich im Schweizer Tagblatt. Wir haben mit Huss darüber gesprochen, wie er die Behauptungen auf X und den Einfluss des Klimawandels auf Fels- und Gletscherabbrüche bewertet.

Wie funktioniert ein Gebirgsgletscher?
Gebirgsgletscher wie der Birchgletscher oberhalb von Blatten sind fortlaufend in Bewegung. Das liegt daran, dass sie stetig wachsen und schmelzen. In höheren Lagen fallen große Mengen Schnee, die sich auf dem Gletscher ansammeln und mit der Zeit zu immer dichterem Eis zusammengepresst werden. Das Eis des Gletschers verformt sich so irgendwann unter seinem eigenen Gewicht oder rutscht über den Berghang. Auf diese Weise bewegen sich die Gletscher im Schnitt einige Zentimeter am Tag in Richtung des Tals.
Je weiter das Eis vom Gipfel des Berges entfernt liegt, desto mehr Wärme ist es ausgesetzt. Dadurch schmilzt insbesondere das untere Ende des Gletschers – die sogenannte Gletscherzunge – in den Sommermonaten stark. So befindet sich ein Gletscher in einem Gleichgewicht aus Zuwachs im oberen und saisonaler Schmelze im unteren Teil.

Dieses Gleichgewicht besteht jedoch seit Jahrzehnten für keinen der Gletscher in der Schweiz mehr, wie eine Studie von Huss und seinem Kollegen Mauro Fischer von der Universität Bern zeigt: Der Niederschlag in den kalten Monaten kann die stärkere Schmelze in den Sommermonaten nicht länger ausgleichen. Zwischen 1980 und 2010 verloren alle Gletscher des Landes an Volumen, Gewicht und Fläche.
Gletscherzunge des Birchgletschers wurde trotz Schmelze dicker
Auch der Birchgletscher oberhalb von Blatten ist dabei keine Ausnahme: Fischer schreibt uns, dass dieser zwischen 1973 und 2023 flächenmäßig um knapp ein Drittel geschrumpft war, bevor ein großer Teil des verbliebenen Eises am 28. Mai ins Tal stürzte. Wie kann es dann sein, dass der Gletscher dennoch an Dicke zunahm?
Huss erklärt uns, dass der Gletscher in den Jahren vor dem Abbruch einen „Surge“ durchmachte, auch Gletscherwoge genannt. Eine Gletscherwoge beschreibt eine Phase von mehreren Monaten bis Jahren, in der ein Gletscher um ein Vielfaches schneller fließt als gewöhnlich. Das führt laut Huss dazu, dass der Gletscher oben an Masse verliert, während sich im unteren Teil Eis anhäuft.
Auch mehrere kleinere Felsabbrüche oberhalb des Gletschers könnten diesen Effekt verstärkt haben. Fischer schreibt uns, dass die Ablagerungen von Geröll auf dem Gletscher das Eis gegen die warmen Außentemperaturen isolierten und dadurch den unteren Teil langsamer schmelzen ließen. Trotz des scheinbaren Wachstums am unteren Ende schmolz der Gletscher jedoch so stark, dass er insgesamt vor dem Abbruch an Masse verlor.
Die Behauptung, der Gletscher sei zu „groß und zu schwer für den bröckelnden Berg“ gewesen, ist falsch: Der Birchgletscher war bereits vor dem Abbruch auffällig und stand wegen seiner Instabilität seit Jahren unter Beobachtung. Vor dem Gletscherabbruch stürzten mehrere Millionen Kubikmeter Geröll von einem Bergsturz am Gipfel des kleinen Nesthorns auf den Gletscher.

Huss und Fischer gehen davon aus, dass der ohnehin destabilisierte Gletscher sich durch das zusätzliche Gewicht vom Hang löste und zusammen mit dem abgelagerten Geröll ins Tal stürzte. „Die Überlast der Felsen vom Zusammenbrechen des Gipfels war zu viel und das Eis löste sich schließlich vom Untergrund“, so Huss.
Das steht auch im Artikel vom Tagblatt. Das zitierte Huss mit der Aussage: „Durch den Druck schmolz Eis unter dem Gletscher, und darauf begann der Gletscher abzugleiten. Als das Gewicht zu gross wurde, rutschte er mit einem Schlag weg“. Dieser Kontext wird in den Sozialen Netzwerken allerdings weggelassen.
Wie der Klimawandel Gletscherabbrüche beeinflusst
Die Frage, ob der Gletscherabbruch in Blatten durch den menschengemachten Klimawandel verursacht wurde, lässt sich laut den Fachleuten nicht mit Sicherheit beantworten. Bergstürze wie dieser treten sehr selten auf und hängen von vielen Faktoren ab. Dazu gehören auch lokale geologische Gegebenheiten, auf die Menschen keinen Einfluss haben. Huss und Fischer sind jedoch der Ansicht, dass die Häufigkeit dieser Art von Bergstürzen durch den Klimawandel begünstigt wird.
Unstrittig ist zum Beispiel, dass der globale Rückgang der Gletscher nicht ohne den menschengemachten Klimawandel erklärbar ist. Verliert ein Gletscher an Masse, verringert sich dadurch auch der Druck auf den Berghang, was zu einer Destabilisierung des Gesteins führen kann. Fischer erklärt uns, dass eine solche Druckentlastung im Falle des Birchgletschers den Nordhang des kleinen Nesthorns betraf, der später instabil wurde und teilweise auf den Gletscher stürzte.
Auch der Fels selbst kann durch den Klimawandel beeinflusst werden: Die Gipfel der Alpen liegen so hoch, dass die Temperaturen im Gestein stellenweise das ganze Jahr über tief unter dem Gefrierpunkt liegen. Diese sogenannten Permafrost-Regionen sind jedoch seit Jahren auf dem Rückzug, wodurch das Gestein zunehmend einem saisonalen Zyklus aus Frost und Schmelze ausgesetzt ist, was Abbrüche von Hängen ebenfalls begünstigt. Auch der abgebrochene Fels am kleinen Nesthorn lag laut Forschern der ETH Zürich in einer Zone, in der sich der Permafrost vor dem Abbruch erwärmte.
Redigatur: Matthias Bau, Sarah Thust
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Birchgletscher Fact Sheet, ETH Zürich, 05. Juni 2025: Link (Englisch, archiviert)