Trotz Lebensmittelverkauf hungern die Menschen in Gaza
Wegen eines Videos, das Gemüse und Obst an einem Marktstand in Gaza Stadt zeigt, zweifeln Personen daran, dass Menschen dort Hunger leiden. Warum das ein fataler Trugschluss ist.

Eine große Platte gefüllt mit grünen Paprikaschoten, daneben Limetten, Zitronen, Tomaten und Trauben – das gibt es an einem Stand auf dem Al-Sahaba Markt in Gaza Stadt zu kaufen, wie ein Video vom 28. Juli 2025 in Sozialen Netzwerken zeigen soll.
Dazu heißt es auf Tiktok: „This is what hunger looks like in Gaza“ (Deutsch: So sieht Hunger in Gaza aus). Auf X schreibt jemand: „Die Medien lügen. Hier ist ein Video aus Gaza! […] Es gibt keine Hungersnot im Gazastreifen.“ Ähnlich beschreibt ein israelischer Tech-Unternehmer das Video: „So much for starvation. The average Gazan eats better than you!“ (Deutsch: „Von wegen Hunger. Der durchschnittliche Bewohner Gazas isst besser als du.“) Andere nehmen das Video zum Anlass, die Hungerskrise zumindest in Frage zu stellen. Die Beiträge erreichten teils Millionen Aufrufe.

CORRECTIV.Faktencheck hat zu den Hintergründen des Videos recherchiert. Dass die Mehrheit der Zivilbevölkerung im Krieg in Gaza hungert, ist laut mehr als hundert Hilfsorganisationen und der IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) unumstritten. Die Initiative wird von den Vereinten Nationen unterstützt und stuft Ernährungsunsicherheiten weltweit ein.
Der Anteil der Bevölkerung Gazas, der von einer Notfall-Lage oder Hungersnot betroffen ist, kann laut IPC-Prognose bis Ende September von etwa 56 Prozent auf rund 76 Prozent steigen – das sind etwa 1,6 Millionen Menschen.

Urheber bestätigt: Video zeigt Al-Sahaba-Markt in Gaza Stadt am 28. Juli 2025
Erste Hinweise auf den Ursprung des Markt-Videos liefern die Social-Media-Beiträge selbst. Dort werden als Quelle für das Video der Fotograf Majdi Fathi und die israelische Nachrichtenagentur Tazpit Press Service(TPS) genannt. Eine Suche auf deren Webseite bestätigt, dass das Video dort abrufbar ist. Laut der Bildunterschrift ist darin „eine Fülle von Waren und viele Käufer auf dem Al-Sahaba-Markt in Gaza Stadt am 28. Juli 2025“ zu sehen. Das Aufnahmedatum sowie der Name des Fotografen stimmen mit der Behauptung überein.
Dass das Video authentisch ist, bestätigte auch Fotograf Majdi Fathi gegenüber der Deutschen Welle. Wie in dem Artikel vom 31. Juli 2025 nachzulesen ist, lieferte Fathi zu dem Video weiteren Kontext. Er beschreibt das Gemüse und Obst auf dem Markt als „sehr teuer“, die Mehrheit der Menschen in Gaza könne es sich nicht leisten. Es fehle an Fleisch, Milch, Reis und Eiern – eine Information, die in den Social-Media-Beiträgen zu dem Video nicht genannt wird.
Lebensmittelpreise auf Märkten in Gaza „für viele Palästinenser unerschwinglich“
Was Fathi berichtet, schreibt auch die israelische Nachrichtenagentur TPS zu einem anderen Foto, das am 30 Juli auf dem Al-Sahaba-Markt aufgenommen wurde: „International gespendete Lebensmittel werden oft zu überhöhten Preisen verkauft, die für viele Palästinenser unerschwinglich sind.“
Das Video des Al-Sahaba-Marktes ist also kein Beleg gegen eine Hungerkrise in Gaza. Das bestätigen weitere Berichte von Personen vor Ort:
Reporterin Malak Tantesh war am 30. Juli 2025 in Gaza Stadt unterwegs. Sie gehört zu den wenigen Journalistinnen und Journalisten, die noch von dort berichten können. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel wurden fast 200 Reporter in Gaza von der israelischen Armee getötet. Medienhäuser wie Al Jazeera, BBC und die Nachrichtenagentur AFP berichteten, dass Journalisten vor Ort, mit denen sie zusammenarbeiten, wegen Hunger nicht mehr richtig arbeiten können.
Für die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) sprach Tantesh mit Personen auf dem Al-Wahda-Markt in Gaza Stadt. Ein ehemaliger Umweltingenieur berichtete ihr, er habe heute eine einzige Tomate für 10 Schekel gekauft – umgerechnet etwa 2,50 Euro. Eine Mutter von sieben Kindern berichtete, sie müsse umgerechnet rund 62 Dollar (etwa 53 Euro) bezahlen, um ein einfaches Reis-Linsen-Gericht für ihre Familie zu kochen. Der Umweltingenieur beschreibt die Lage gegenüber Tantesh so: „Wir befinden uns mitten in einer Hungersnot. Und mit Hungersnot meine ich nicht, dass es keine Lebensmittel gibt. Es ist nur so, dass sich das niemand leisten kann.“

Ähnlich berichtete Fotograf Majdi Fathi Anfang August in seiner Instagram-Story: Für 50 Dollar (etwa 43 Euro) könne man insgesamt 0,5 Kilogramm Zucker, 6 Kilogramm Mehl, 1 Kilogramm Tomaten, 1 Kilogramm Gurken, 2 Kilogramm Zwiebeln und 0,5 Kilogramm Kaffee kaufen.
„Diese Preise sind so hoch, dass sich die am stärksten benachteiligten Familien, die meisten Familien hier im Gazastreifen, einschließlich der Kinder hinter mir, das nicht leisten können“, so lautete die Einschätzung von Jonathan Crickx, Leiter der Kommunikationsabteilung von UNICEF Palästina, als Teams des UNICEF-Kinderhilfswerks am 12. Mai mehrere Märkte in der Stadt Chan Yunis besuchten.
Laut WFP: Bis zu 15.000 Prozent Preissteigerung für Lebensmittel in Gaza
Wie stark die Lebensmittelpreise in Gaza seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gestiegen sind, zeigen Daten der Industrie- und Handelskammer in Gaza, die mithilfe von Umfragen auf Märkten erhoben worden sein sollen, sowie Daten des Welternährungsprogramms (WFP). Das WFP gibt an, Mitarbeitende vor Ort zu haben, die die Preise in unterschiedlichen Gebieten in Gaza überprüfen würden. So werde wöchentlich eine Übersicht der Preise erstellt. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig prüfen.
Beispielhaft zeigt die nachfolgende Grafik die Entwicklung der Lebensmittelpreise im Bezirk Deir Al-Balah auf Grundlage der WFP-Daten. Demnach lagen die Preise Ende Juli 2025 um 114 bis 15.000 Prozent höher als im September 2023. So kostet zum Beispiel ein 25 Kilogramm Sack Mehl inzwischen 1.125 Schekel. Vor Kriegsbeginn lag der Preis bei 47,5 Schekel.
Wie sich die Preise anderer Lebensmittel im Einzelnen entwickelt haben, ist per Mausklick auf das jeweilige Produkt sichtbar:
Berichten zufolge werden auf den Märkten in Gaza Lebensmittel von geplünderten Hilfslieferungen verkauft
Essen, das auf Märkten wie dem Al-Sahaba-Markt in Gaza Stadt zum Verkauf angeboten wird, stamme von Personen, die Hilfslieferungen plünderten, erzählte der ehemalige Umweltingenieur auf dem Al-Wahda-Markt der Lokalreporterin Tantesh, wie es im NZZ-Artikel heißt. Dann werde es für „viel zu viel Geld“ weiterverkauft.
Seine Angaben decken sich mit dem, was Jean Guy Vataux gegenüber dem französischen Sender France24 berichtet. Vataux arbeitet als Notfallkoordinator für Ärzte ohne Grenzen in Gaza. Er sagt: „Wir leben in einem ultra-kapitalistischen System, in dem Händler und korrupte Banden Kinder zu Verteilungsstellen und Plünderungen schicken, dabei riskieren sie Leib und Leben.“ Die erbeuteten Lebensmittel würden dann auf den Märkten in Gaza Stadt an „diejenigen weiterverkauft, die es sich noch leisten können“.
Tatsächlich wurde den Vereinten Nationen zufolge seit Mitte Mai 2025 die Mehrheit der UN-Hilfsgüter in Gaza „abgefangen“. Israel hatte zuvor 80 Tage lang völkerrechtswidrig Hilfslieferungen nach Gaza vollständig blockiert. Das Büro für Projektdienste der Vereinten Nationen (UNOPS) gibt an, anhand von QR-Codes die genehmigten Hilfslieferungen zu verfolgen.

Hungernde Zivilisten und bewaffnete Gruppen plündern UN-Hilfslieferungen
Deren Daten zeigen, dass vom 19. Mai bis zum 15. August 2025 etwa 74 Prozent der UN-Hilfslieferungen abgefangen wurden. Mit Blick auf die Lebensmittellieferungen allein sind rund 78 Prozent davon betroffen. Sie wurden laut UNOPS „entweder friedlich von hungernden Menschen oder gewaltsam von bewaffneten Akteuren während des Transports in Gaza“ abgefangen. Etwa 15 Prozent der Hilfslieferungen blieben an den Grenzübergängen Kerem Shalom oder Erez West/Zikim zurück und nur etwa 11 Prozent kamen an ihrem Zielort in Gaza an.
Laut Einschätzung von Olga Cherevko, Sprecherin des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), werden die meisten Plünderungen von hungernden Zivilisten verübt. Das teilte sie Anfang August der Times of Israel mit.
Die UN-Angaben zeichnen kein vollständiges Bild der Hilfslieferungen in Gaza, da sie zum Beispiel nicht die Lieferungen der Gaza Humanitarian Foundation (GHF), eine von Israel und den USA unterstützten Stiftung, enthalten und auch nicht kommerzielle Lieferungen oder Luftabwürfe von Hilfsgütern. Die UN-Angaben lassen sich auch nicht unabhängig prüfen.
Israelische COGAT-Behörde erlaubt Einfuhr kommerzielle Produkte
Anfang August verkündete die für humanitäre Hilfe zuständige israelische COGAT-Behörde, die Einfuhr von Gütern über den privaten Sektor wieder zu genehmigen. Diese Hilfslieferungen einer „begrenzten Anzahl lokaler Händler“ solle „die Abhängigkeit durch die UN und internationale Organisationen verringern“.
Das passt zu den Schilderungen, die uns Hani Almadhoun, Mitgründer der lokalen Initiative Gaza Soup Kitchen, am 13. August schickte: Lastwagen seien meistens mit kommerziellen Hilfsgütern ausgestattet und nicht mit kostenlosen Hilfsgütern. Seiner Einschätzung nach fördere das zwar die lokale Wirtschaft, bedeute aber: „Wer kein Geld hat, hat nichts zu essen.“
Mitte August schreibt COGAT, die Lebensmittelpreise in Gaza seien „stark gesunken“. OCHA berichtet zumindest von einem „Preisrückgang einiger Lebensmittel auf den lokalen Märkten“. Doch im Gegenzug sind laut OCHA nun die Energiepreise „in die Höhe geschossen“, immer mehr Menschen in Gaza würden Abfälle als alternative Brennstoffe zum Kochen nutzen.
Hilfsorganisationen und lokale Initiativen in Gaza bieten kostenloses Essen an
Weiter verhindern auch Vorfälle und Einschränkungen bei den kostenlosen Essensausgaben die ausreichende Versorgung der Zivilbevölkerung. Wie das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) im Juli berichtete, endete der Versuch zu Lebensmittelausgabestellen zu gelangen für hunderte Palästinenser tödlich. Die meisten von ihnen wurden in der Nähe von Ausgabestellen der GHF getötet. Die tödlichen Schüsse seien von israelischen Streitkräften abgefeuert worden, schrieb die linksliberale israelische Tageszeitung Haartez. Wegen des Vorwurfs hat Israel laut Eigenangaben Ermittlungen eingeleitet.
Neben internationalen Hilfsorganisationen versuchen auch lokale Initiativen in Gaza Menschen mit Essen zu versorgen. Dutzende Gemeinschaftsküchen mussten zum Beispiel aber im Mai 2025 wegen der schlechten Versorgungslage schließen.

Über hundert Nichtregierungsorganisationen (NGO) zufolge lehnen israelische Behörden Anfragen zu Hilfslieferungen dutzender NGOs weiterhin ab, mit der Begründung, sie seien „nicht befugt“, Hilfsgüter zu liefern (Stand: 14. August 2025).
Almadhoun schreibt uns: „Zum ersten Mal seit drei Monaten konnten wir wieder mit Reis kochen. Unsere Auswahl ist noch begrenzt, aber wir sind entschlossen, so viele Menschen wie möglich so lange wie möglich zu ernähren.“
Alle Faktenchecks zu Falschmeldungen und Gerüchten zum Krieg im Nahen Osten finden Sie hier.
Redigatur: Matthias Bau, Paulina Thom