Faktencheck

Afghaninnen verpassten Rettungsflug wegen fehlendem Rollstuhl, nicht beim Shoppen

Die Bild berichtet fälschlich, zwei Afghaninnen hätten einen Rettungsflug verpasst, weil sie shoppen waren, und korrigiert sich erst Tage später. Doch damit ist die Falschbehauptung nicht aus der Welt.

von Sara Pichireddu

Ankunft eines Charterfluges mit afghanischen Ortskräften in Hannover
Am 1. September wurden 47 Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage nach Deutschland gebracht. Zwei von ihnen verpassten zunächst einen Anschlussflug in Istanbul. (Foto: Wehnert / M. Gränzdörfer / Picture Alliance / Geisler-Fotopress)
Behauptung
Zwei Menschen aus Afghanistan hätten am 1. September 2025 einen Rettungsflug nach Deutschland verpasst, weil sie beim Transfer in Istanbul shoppen waren.
Bewertung
Falsch. Die zwei Personen verpassten ihren Anschlussflug in Istanbul laut deutschen Behörden wegen einer fehlenden Gehhilfe. Die Bild-Zeitung, von der die Falschbehauptung stammt, korrigierte ihre Berichterstattung später.

Wenn Menschen einen Flug verpassen, landen sie damit selten in den Schlagzeilen. Anders bei zwei Menschen aus Afghanistan, die angeblich Anfang September ihren Anschluss für einen Rettungsflug in Istanbul verpassten, weil sie shoppen waren. Ein Bericht der Bild-Zeitung verbreitete sich viral – und das, obwohl die Behauptung eigentlich falsch und inzwischen korrigiert ist.

Die beiden Personen verpassten den Flieger nicht, weil sie in den Läden des Flughafens shoppen waren, sondern weil ein zuvor angemeldeter Rollstuhl fehlte. Die Bild-Zeitung korrigierte sich erst zehn Tage später. In der Zwischenzeit wurden der Beitrag und Screenshots der Überschrift tausendfach in sozialen Netzwerken geteilt. Wir haben nachgezeichnet, wie sich die Falschbehauptung so viral weiterverbreiten konnte.

Screenshot eines X-Beitrags, in dem eine Bild-Schlagzeile zu sehen ist.
Screenshots dieser Bild-Schlagzeile wurden tausendfach in den sozialen Medien geteilt (Quelle: X, Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Afghaninnen verpassten Flug, weil Rollstuhl für 70-Jährige fehlte

Korrekt ist, dass am 1. September ein Flieger mit Afghaninnen und Afghanen, die eine Aufnahmezusage wegen besonderer Schutzbedürftigkeit haben, in Deutschland landete. Eine Sprecherin des Bundesministeriums des Innern (BMI) bestätigte uns auch, wie viele Personen in Pakistan in den Flieger stiegen: 47. Ebenfalls korrekt ist laut Ministerium die Aussage, dass zwei der Passagiere den Anschlussflug in Istanbul verpassten, aber noch am Abend desselben Tages nachkamen: Eine „70-jährige afghanische Staatsbürgerin und ihre Begleiterin kamen verspätet am 01.09. in Deutschland an“ so das BMI.

Sowohl das Auswärtige Amt, als auch das BMI widersprechen jedoch der Aussage, die Frauen hätten in den Geschäften „die Uhr aus dem Blick verloren“, wie Bild im ursprünglichen Artikel behauptet hatte. „Die Darstellung, dass ein Weiterflug aufgrund von Einkäufen verpasst wurde, ist nicht korrekt“, stellt das Auswärtige Amt klar. Das BMI ergänzt: Die 70-Jährige sei auf einen Rollstuhl angewiesen. Bei der verspäteten Ankunft in Istanbul stand am Flughafen aber keiner zur Verfügung. Weder die Fluggesellschaft noch der Flughafen Istanbul reagierten bis zur Veröffentlichung auf Nachfragen dazu.

Vom Podcast zu Social Media: So verbreitete sich die Desinformation in wenigen Tagen

Bild veröffentlichte am 1. September um 17 Uhr auf Youtube eine Folge ihres Video-Podcast-Formats „Bild Talk“, in der Peter Tiede, Chef-Autor Politik, über folgendes sprach: Von 47 Afghaninnen und Afghanen, die zu ihrem Schutz nach Deutschland gebracht werden sollten, seien nur 45 angekommen. Bei einem Zwischenstopp am Flughafen in Istanbul – die Menschen waren aus Islamabad, in Pakistan gestartet und mussten auf dem Weg nach Hannover umsteigen – sei ein Ehepaar zurückgeblieben, das „an der Kasse hängen geblieben“ sei. Tiede berief sich dabei auf Informationen von Reporter Nikolaus Harbusch.

Rund eine Stunde später erschien auf Bild.de Harbuschs Artikel mit dem Titel „Rettungsflieger gelandet, aber …: Afghanen verpassen Flug, weil sie shoppen waren“. Fast zeitgleich veröffentlichte auch der ehemalige Bild-Chefredakteur und jetzt Nius-Chef, Julian Reichelt, einen X-Beitrag dazu: „Ein afghanisches Paar verpasste den Flug nach Deutschland, weil sie noch im Duty Free in Istanbul shoppen waren“.

Knapp zwei Stunden später verbreitete Alice Weidel einen Screenshot der Bild-Zeile auf Facebook und X, der seitdem tausendfach geteilt wurde. Ein Instagram-Beitrag der rechtspopulistischen Influencerin Anabel Schunke erschien ebenfalls noch am 1. September und wurde tausendfach geliked. Das für Desinformation bekannte Medienportal Apollo News übernahm die Geschichte auch.

Am 2. September, Screenshots der Bild-Schlagzeile kursieren inzwischen auf vielen Social-Media-Plattformen, wird der Vorgang in einer Nius-Morgenshow besprochen und auf Youtube ausgestrahlt. Es folgen Veröffentlichungen bei anderen Portalen, die im Zusammenhang mit Desinformation bekannt sind: Exxpress, Journalistenwatch, Junge Freiheit. Letztere schrieben noch am selben Tag eine Korrektur, in der sie darauf hinweisen, dass das Auswärtige Amt der Erzählung eines Shopping-Trips widerspricht. Der ursprüngliche Artikel ist aber nach wie vor online.

Reichelts Post auf X ist inzwischen gelöscht und auch die Bild hat sowohl den Artikel, als auch den Video-Podcast korrigiert.

Am 10. September veröffentlichte der ursprüngliche Bild-Autor, Nikolaus Harbusch, den Text neu, sodass die alte URL als Weiterleitung zur Richtigstellung funktioniert. Wer jetzt auf den Link klickt, sieht die korrigierte Version des Artikels – auch von Social Media Posts, die vor der Aktualisierung erstellt wurden. Allerdings: In unserer Recherche fanden wir viele Beiträge, die den Bild-Artikel nicht mit einem Link verbreiteten, sondern mit einem Screenshot der Überschrift. Unter den Schlagworten „Afghanen“ und „Shoppen“ finden sich inzwischen hunderte Beiträge in den Sozialen Netzwerken mit teils großen Reichweiten.

Bild beruft sich bei Korrektur auf falsche Information der Behörden

In der Korrektur schreibt Autor Harbusch, man habe ursprünglich „bei beteiligten Behörden nachgefragt, was die Gründe für das Verpassen des Fliegers gewesen seien“. Danach habe es geheißen, dass die beiden Personen sich in den Läden des Flughafens aufgehalten hätten.

Bild beruft sich darauf, dass die zuständigen Behörden am Tag des Fluges noch nichts von einem fehlenden Rollstuhl gewusst hätten. „An dem Tag hatten wir zunächst gar keine Informationen darüber, wieso die beiden Personen ihren Flug verpasst hatten“, bestätigte uns ein Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Anfrage. „In erster Linie war auch zunächst wichtiger, dass die Menschen wohlbehalten ankommen“, so der Sprecher weiter. Inzwischen seien alle 47 Afghaninnen und Afghanen, die am 1. September nach Deutschland reisten, wohlbehalten untergebracht.

Bundesregierung will weiter besonders schutzbedürftige Menschen aus Afghanistan nach Deutschland holen

Links und Screenshots der verschiedenen Artikel, die alle die Geschichte der „shoppenden Afghanen“ reproduzieren, werden in den Tagen nach der ursprünglichen Bild-Veröffentlichung vor allem auf Facebook, Instagram und X verbreitet. Die Erzählung wird häufig zum Anlass genommen, um die Entscheidung der Bundesregierung zu kritisieren, überhaupt noch Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland zu holen.

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 hatte die damalige Regierung einigen, unter dem neuen Regime besonders gefährdeten Personen in Deutschland Schutz zugesagt. Unter diesen Menschen sind Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet hatten, Menschenrechtsaktivisten und dem Regime unliebsame Journalisten. Viele von ihnen warten in Pakistan auf die Ausreise nach Deutschland.

Medienberichten zufolge hatte Pakistan im August 2025 damit begonnen, die afghanischen Geflüchteten festzunehmen und in Abschiebelager zu bringen. Eine Juraprofessorin hatte geklagt, dass Deutschland denjenigen, die Aufnahmezusagen der alten Regierung bekommen hatten, auch Visa erteilen müsse. Ein Urteil, das das bestätigt, wurde Mitte August rechtskräftig.

Redigatur: Steffen Kutzner, Max Bernhard

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • FAQ Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan, Bundesinnenministerium: Link (archiviert)
  • Humanitäre Aufnahmeprogramme von Bund und Ländern, Bundesinnenministerium: Link (archiviert)
  • Afghanistan: Dramatische Lage nach 3 Jahren Taliban-Herrschaft, Human Rights Watch, 12.08.2024: Link (archiviert)
  • „Flieger nach Deutschland verpasst: Afghanen waren doch nicht shoppen“, Bild-Zeitung, 10.09.2025: Link (archiviert)