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Zitat zum Teil erfunden: Was Ulrich Siegmund zum Holocaust sagte und was nicht

Der AfD-Politiker Ulrich Siegmund wollte sich in einem Interview nicht festlegen, ob der Holocaust das schlimmste Menschheitsverbrechen war. Daraufhin mischte ein in Teilen erfundenes Zitat erst die AfD auf, dann räumt ein Brandenburger BSWler seinen Posten. Was ist passiert?

von Steffen Kutzner

Ulrich Siegmund wollte sich nicht festlegen, ob der Holocaust das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte war. Später erfand jemand einen Vergleich mit Mao und Stalin dazu. (Foto: ABBFoto / Picture Alliance)
Behauptung
AfD-Politiker Ulrich Siegmund habe gesagt: „Ob der Holocaust das schlimmste Menschheitsverbrechen war, das mag ich mir nicht anmaßen zu bewerten. Es gab so viele grauenhafte Verbrechen in der Geschichte – denken Sie an den Stalinismus, den Maoismus oder den Völkermord an den Armeniern. Ich verurteile den Holocaust uneingeschränkt, aber eine Rangliste unter Gräueln zu erstellen, steht mir nicht zu.“
Bewertung
Teilweise falsch
Über diese Bewertung
Teilweise falsch. Den ersten der drei Sätze äußerte Siegmund in einem Interview so ähnlich, die anderen beiden sind erfunden.

Am Anfang steht ein Interview im Podcast Politico mit Ulrich Siegmund, dem AfD-Spitzenkandidaten für den Posten des Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt. Laut einer Vorabmeldung der Welt sagte Siegmund auf die Frage, ob der Holocaust das größte Menschheitsverbrechen gewesen sei: „Das maße ich mir nicht an zu bewerten, weil ich die gesamte Menschheit nicht aufarbeiten kann.“ 

Das Netz empört sich – der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus und der Holocaustverharmlosung steht im Raum. Plötzlich aber heißt es, das sei nicht die vollständige Antwort Siegmunds gewesen. Der AfD-Politiker habe weiter gesagt: „Es gab so viele grauenhafte Verbrechen in der Geschichte, denken Sie an den Stalinismus, den Maoismus oder den Völkermord an den Armeniern. Ich verurteile den Holocaust uneingeschränkt, aber eine Rangliste unter Gräueln zu erstellen, steht mir nicht zu.“ 

Das Netz empört sich wieder: Siegmund habe nichts Falsches oder Strafbares gesagt, heißt es nun von einigen. Der Welt wird eine falsche und verkürzte Berichterstattung vorgeworfen. Auch bekannte AfD-Politikerinnen und -Politiker sowie der Vize-Fraktions-Chef des BSW Brandenburg, Christian Dorst, greifen diese angebliche Version des Zitats auf. Dorst wird später zurücktreten.

Tatsächlich hat Siegmund diese weiteren Sätze im Interview nie gesagt. Was genau war passiert? Wir haben nach dem Ursprung des Fake-Zitats gesucht und uns auch angesehen, was die KI Grok damit zu tun hat. 

Künstliche Intelligenz Grok lieferte teils erfundenes Zitat offenbar als Antwort 

Beginnen wir von vorn. Schon am Abend des 20. Novembers, mehrere Stunden bevor der Politico-Podcast mit dem vollständigen Interview erschien, war das teils erfundene Zitat auf X im Umlauf. 

Die konkreten Worte fanden wir als erstes am Abend des 20. November, um 19.09 Uhr – allerdings nicht als Zitat von Siegmund, sondern offenbar eher als Empfehlung, wie eine Antwort des AfD-Politikers hätte lauten können. Der X-Nutzer schrieb unter das Zitat „So Herr Siegmund“. Kontaktieren konnten wir den Nutzer zu seiner Absicht nicht.

Der Beitrag, der mutmaßlich der Ursprung des falschen Zitats ist. Er wirkt wie eine Empfehlung an Siegmund. (Quelle: X; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Eine Minute nach diesem Beitrag, um 19.10 Uhr, ist der Wortlaut bereits weiterverbreitet. Und in diesen paar Sekunden, am 20. November zwischen 19.09 Uhr und 19.10 Uhr, hat sich die Art der Aussage gewandelt: Sie erscheint nicht mehr wie eine Antwort-Empfehlung. Sie sieht nun aus, wie ein wörtliches Zitat von Siegmund:

In diesem Beitrag auf X sieht es so aus, als sei das falsche Zitat von Siegmund (Quelle: X; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Wir haben diesen zweiten Account auf X kontaktiert. Trotz mehrmaliger Nachfrage nannte uns die Person keine Quelle, sie behauptete lediglich, sie sei nicht die erste gewesen, die das angebliche Zitat verbreitet habe.

Einen möglichen Hinweis auf den Ursprung liefert ein Youtuber. Er erklärt in einem Video, dass er das Interview selbst nicht gefunden habe, aber Grok, die KI von X, dazu befragt und das teils erfundene Zitat als Antwort erhalten habe. Ob Grok von Anfang an das falsche Zitat lieferte oder ob zuerst das erfundene Zitat auf X verbreitet wurde und Grok dieses später mit in seine Antwort aufnahm, lässt sich nicht abschließend rekonstruieren. Wir haben Grok ebenfalls befragt. Die KI liefert zumindest aktuell das erfundene Zitat als Antwort.

Die beiden X-Accounts, die die Aussage am Donnerstagabend kurz nach 19 Uhr zuerst verbreiteten, haben keine besonders hohe Reichweite, doch der Funke sprang über. Binnen einer Stunde verbreitete der thüringische Landtagsabgeordnete Ringo Mühlmann das falsche Zitat auf X – inzwischen hat er den Beitrag kommentarlos gelöscht. Eine Antwort erhielten wir von ihm bislang nicht.

All das passierte, bevor das gesamte Interview überhaupt veröffentlicht worden war. 

Was Siegmund im Interview mit der Welt sagte  

Der Titel des Welt-Artikels, der einige Stunden vor dem Podcast erschien, fasste die Frage des Welt-Journalisten Gordon Repinski, der das Interview geführt hatte, und Siegmunds Antwort so zusammen: „Holocaust schlimmstes Menschheitsverbrechen? ‚Maße ich mir nicht an zu bewerten‘, sagt Siegmund“. Manche warfen der Welt eine unzulässige Verkürzung und Clickbait vor. 

In dem 45-minütigen Gespräch, das später auf Youtube veröffentlicht wurde, geht Repinski mit dem Politiker durch Magdeburg, spricht mit ihm über die Russland-Nähe der AfD, über Sprache und die Verantwortung der Politik im Umgang mit Geschichte.  

Der fragliche Abschnitt kommt bei Minute 28:42

Repinski: Können Sie mir mal eine Einordnung dessen geben, wenn Sie zurückblicken auf die Jahre [1933 bis 1945], was das für Sie bedeutet, wenn Sie das zusammenfassen wollen, können Sie das mal für mich machen?

Siegmund: Das ist, denke ich mal, bekannt, dass das über die ganze AfD hinweg gleichsam als Tiefpunkt unserer Geschichte natürlich betrachtet werden muss, der auch in dem historischen Kontext so gelehrt werden muss. 

Repinski: Würden Sie auch sagen, das war das schlimmste Menschheitsverbrechen?

Siegmund: Das maße ich mir nicht an zu bewerten, weil ich die gesamte Menschheit nicht aufarbeiten kann und aus allen Verbrechen dieser Menschheit natürlich lernen muss, genauso wie aus dieser, wie aus vielen anderen auch. Und gerade in aktueller politischer Lage wäre es gut, wenn wir daraus lernen würden, und das auch mal umsetzen und nicht immer nur erzählen würden.

Kritik am Vorgehen der Welt wies Repinski in einem Beitrag vom 25. November zurück. „Diese Aussagen haben wir – wie vollkommen üblich – vorab am vergangenen Donnerstag an Nachrichtenagenturen verschickt. Und, ebenfalls absolut üblich, dies auch als Artikel veröffentlicht, noch bevor der Podcast am Freitagmorgen vollständig abrufbar war.“ 

Dass die beiden Sätze zu Stalinismus und dem angeblichen Ranking in dem Interview nie gefallen sind, kann jeder prüfen, der sich das Interview anhört. Es erschien Freitagfrüh, am 21. November um 5 Uhr morgens. Aus Repinskis Sicht begann danach „ein Wochenende von Umdeutung und Desinformation“. 

Obwohl der Podcast veröffentlicht ist: AfD-Politikerinnen und -Politiker verbreiten Fake-Zitat weiter

Dass die Sätze darin nicht vorkommen, störte offenbar viele nicht. Das Fake-Zitat verbreiten auch nach Erscheinen des Podcasts hochrangige Politikerinnen und Politiker.

So etwa der EU-Abgeordnete Thomasz Froelich (AfD):  

Der EU-Abgeordnete Froelich (AfD) verbreitete das falsche Zitat ebenfalls, Repinski selbst korrigierte ihn. Der X-Beitrag wurde später gelöscht. (Quelle: X; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Der X-Beitrag von Froelich wurde gelöscht, Archive zeigen jedoch: Er hatte eine große Reichweite, mehrere tausend Likes und wurde von mehreren AfD-Landespolitikern geteilt. Zudem veröffentlichte Froelich kurze Zeit später, ebenfalls noch am Freitagmorgen, einen inhaltlich sehr ähnlichen Beitrag, in dem die fraglichen Teile nicht mehr als vermeintliches Zitat gekennzeichnet sind. Wir haben ihn gefragt, weshalb er die beiden Sätze weiterverbreitet hat. Er antwortete uns nicht.

Am Freitagnachmittag verbreitete die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst ebenfalls einen X-Beitrag, samt teils erfundenem Zitat. Der Beitrag ist noch immer online und hat mehr als 1.200 Retweets (Stand: 27.11.2025). Höchst ergänzte jedoch einen Kommentar unter ihrem eigenen Beitrag, der per Screenshot darauf hinweist, dass das Zitat nicht richtig ist. Auf unsere Anfrage antwortete sie nicht. Auch die Blogs Journalistenwatch und Reitschuster haben nach wie vor Artikel mit dem angeblichen Zitat online. 

Wegen Verständnis für Siegmund: Co-Fraktionsvize des BSW Brandenburg räumt Posten 

Und dann ist da noch Christian Dorst: Er ist am Freitagnachmittag noch Vize-Fraktionsvorsitzender des BSW in Brandenburg. Er verbreitete das Zitat ebenfalls. Dazu schrieb er: „Man kann das jetzt so bewerten wie es massenmedial gerade praktiziert wird, quasi als Vorstufe zur Leugnung des Holocaust. Man kann das allerdings auch völlig anders bewerten.“ Dorst sprach zudem von einer „medialen Kampagne“, die „nach hinten los gehen“ würde. 

Am Samstagabend wiederholte Dorst das teilweise falsche Zitat nochmal als Antwort auf die Kritik von Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden. Schuster hatte über Siegmunds tatsächliche Äußerung gesagt, aus ihr schwinge eine „deutliche Sympathie für die Zeit des Nationalsozialismus“ mit. Dorst nannte dieses Statement „wahrhaft perfide“. 

Am Sonntag trat Dorst zurück

Am Montag korrigierte er sich auf X: „Ein ‚handwerklicher‘ Fehler ist mir bei diesem Post unterlaufen. Ich habe bei einer Sekundärquelle ein offensichtlich falsches Zitat als Grundlage genommen. (…) Mea culpa.“ 

Siegmund selbst sieht sich in einem Video als Opfer von falscher Berichterstattung. Dass ihm seine Parteikolleginnen und -kollegen ein falsches Zitat unterstellten, erwähnt er dabei nicht. Inzwischen hat ein Pressesprecher Welt gegenüber erklärt, der Holocaust sei das schlimmste Menschheitsverbrechen.

Redigatur: Paulina Thom, Gabriele Scherndl