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Polizeigewalt bei Gießen? Was hinter diesem Video steckt

Bei den Protesten gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation in Gießen Ende November 2025 gab es etliche Verletzte. Ein Video in Sozialen Netzwerken soll „Polizeigewalt“ zeigen – anders als manche Nutzerinnen und Nutzer vermuten, ist es echt.

von Sarah Thust

Polizeieinsatz bei Demonstration bei Gießen
Ein Video in Sozialen Netzwerken zeigt Polizisten, die einen Protestzug gegen die neue AfD-Jugendorganisation „Generation Deutschland“ im Umkreis von Gießen stürmen (Quelle: Arthur May / Perspektive Online; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)
Behauptung
Ein Video zeige Polizeikräfte, die auf einen Protestmarsch in Gießen (Hessen) zustürmen. Der Protest habe sich gegen die neue AfD-Jugendorganisation „Generation Deutschland“ gerichtet.
Bewertung
Richtig. Das Video ist echt – es zeigt, wie die Polizei am 29. November 2025 gegen einen Demonstrationszug auf der B49 bei Gießen vorgeht und Schlagstöcke gegen Teilnehmende einsetzt. Der Urheber des Videos, ein Journalist und mehrere Teilnehmende bestätigen dies. Zudem gibt es weitere Aufnahmen der entsprechenden Szene aus anderen Perspektiven.

Hinweis: In diesem Beitrag sind Aufnahmen von Gewalt zu sehen. 

Laut Polizei Mittelhessen haben in Gießen rund 25.000 Menschen weitgehend friedlich gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation „Generation Deutschland“ demonstriert. Vereinzelt kam es am 29. November zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und einem Journalisten. Das Aktionsbündnis Widersetzen, das die Demonstrationen organisierte, spricht in einer Pressemitteilung aber auch von „Polizeigewalt“.

Ein Video auf Instagram soll zeigen, wie Polizisten auf einen Demo-Zug bei Gießen zustürmen. Die Teilnehmenden tragen gelbe Westen, laufen singend langsam über eine breite Straße und bleiben stehen. Dann schwenkt die Kamera in die andere Richtung, aus der Polizisten mit Schlagstöcken und Schutzschilden gerannt kommen. Lautes Brüllen ist zu hören – dann schlagen einige Beamte auf Teilnehmende ein. 

Die Szene soll am 29. November 2025 in Gießen bei Protesten gegen die Neugründung der AfD-Jugendorganisation „Generation Deutschland“ entstanden sein. Beiträge mit dem Video auf Instagram erhielten insgesamt mehr als 138.000 Likes.

Bei unserer Redaktion wurde das Video mehrfach mit der Bitte um Prüfung eingereicht. Dass einige unsicher sind, ob es echt ist, zeigen die Kommentare dazu auf Instagram: „Sieht aus wie ein Filmabschnitt. Zu krass um wahr zu sein“, schreibt eine Nutzerin – andere fragen, ob es mittels KI erstellt worden sei. 

Instagram-Beitrag mit dem Video der Demo bei Gießen – daneben ein Kommentar, in dem nach der Echtheit gefragt wird
Ein Video von den Protesten in Gießen am 29. November 2025 sorgt in Sozialen Netzwerken für Diskussionen, weil einige an dessen Echtheit zweifeln (Quelle: Instagram; Video: Arthur May / Perspektive Online; Screenshot und Unkenntlichmachungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Der aktuelle Fall zeigt: In Sozialen Netzwerken sorgen KI-generierte Inhalte für Verunsicherung, da solche Aufnahmen zum Teil schwer erkennbar sind, auch weil sie häufig ohne entsprechende KI-Hinweise geteilt werden. So geraten auch echte Inhalte in den Verdacht, künstlich erstellt worden zu sein. Das ist auch bei dem Video aus Gießen der Fall. Unsere Recherche zeigt: Es ist authentisch. 

So erkennen Sie, dass das Video aus Gießen echt ist – und wo es aufgenommen wurde

Ein Bildschirmfoto aus dem Video liefert mithilfe einer Bilder-Rückwärtssuche mehrere Berichte, zum Beispiel der Hessenschau und des WDR. Demnach wurde das Video von dem politisch linken Nachrichtenportal Perspektive Online veröffentlicht. In dessen Telegram-Kanal hieß es, das Video zeige „massive Polizeigewalt“ gegen den „Goldenen Finger“ auf der B49. Als „Goldenen Finger“ bezeichnete der Demo-Veranstalter „Aktionsbündnis Widersetzen“ eine von mehreren Gruppen, die sich am 29. November 2025 in Gießen und Umgebung verteilt hatten.

Der Ort der Szene lässt sich mithilfe von öffentlichen Quellen verifizieren: Dass Teile der B49 in und um Gießen blockiert wurden, steht in einer Pressemitteilung und im Telegram-Kanal des Demo-Veranstalters. Der veröffentlichte eine Karte, auf der eine Brücke an der B49 am Ortsausgang von Dutenhofen in Richtung Gießen markiert ist – dort habe sich „ein kleiner Teil von Gold“ zu einer Blockade zusammengefunden.

An demselben Ort findet sich auf Google Maps ein Foto von Juli 2022, das die Brücke zeigt. Es ist dieselbe Brücke, die im Video im Hintergrund zu sehen ist. Erkennbar an den Graffiti, unter anderem die Buchstaben „NG“, „HMR“ und ein lila Insekt. 

Links Auszug aus einem Bild von Google Maps. das Graffiti auf einer Brücke an der B49 zeigt, rechts ein Screenshot aus dem Video
Auf Google Maps findet sich ein Foto aus dem Jahr 2022 (siehe Ausschnitt links), das dieselben Graffiti zeigt, die in dem Video auf Instagram (rechts) zu sehen sind (Quellen: Google Maps, Perspektive Online / Arthur May; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Echtheit des Videos bestätigten gegenüber CORRECTIV.Faktencheck eine Teilnehmerin, die vor Ort war, und der Fotograf Arthur May, von dem das Video stammt. Unserer Redaktion liegen zudem weitere Videos vor, die die Szene aus verschiedenen Perspektiven zeigen: 

Bildvergleich der beiden Videos
Links die Aufnahme aus Sozialen Netzwerken, rechts eine Aufnahme aus einer anderen Perspektive, die unserer Redaktion vorliegt. Man erkennt unter anderem dieselben Demo-Flaggen. (Quellen: Arthur May / Perspektive Online, Sina Reisch; Screenshots und grüne Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Laut Polizei sei der Einsatz „notwendig“ gewesen, doch die Staatsanwaltschaft prüft mehrere Strafanzeigen

Das Video ist also echt. Offen bleibt, warum die Polizisten gewaltsam gegen die Demo-Teilnehmenden vorging. 

Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) sagte nach einer ersten Auswertung des Videos von der B49 laut Hessenschau, dass „gemäß Einsatzbericht“ eine Androhung von Zwangsmitteln erfolgt sei und die Polizei so vorgegangen sei, weil der Aufforderung nicht gefolgt worden sei. Rechtswidriges Handeln seitens der Polizei sei nicht zu erkennen. Die Räumung der Bundesstraße sei geboten gewesen, um das von der Verfassung garantierte Recht auf Versammlungsfreiheit für die AfD-Jugendorganisation zu gewährleisten. Auch extremen, aber nicht verbotenen Parteien stehe dieses Recht zu, was auch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts stützen würden.

Inzwischen prüft die Gießener Staatsanwaltschaft laut der Hessenschau mehrere Strafanzeigen wegen der Anti-AfD-Proteste, darunter zwei gegen Polizisten, unter anderem wegen des Vorwurfs der Körperverletzung im Amt. Auf unsere Fragen dazu antwortete die Staatsanwaltschaft Gießen: „Die Situation auf der B49 wird auch Gegenstand der Prüfung sein, da hier ein Anzeige vorliegt, die im Allgemeinen den Vorwurf der ‘Polizeigewalt’ beinhaltet.“

Auf Nachfragen bei der Polizei Mittelhessen erhielten wir eine Antwort von Polizeihauptkommissar Guido Rehr, der ebenfalls auf den Einsatzbericht verweist: „Die Polizeikräfte stellten sich in einem Abstand von rund 50 Metern in einer sogenannten Polizeikette auf, um den Demonstrierenden den weiteren Weg zu versperren. Gemäß Einsatzbericht der Polizeikräfte erfolgte eine Androhung von Zwangsmitteln. Dennoch setzten die Demonstrierenden ihren Marsch in Richtung der Polizeikräfte fort.“ Aktuell könne „nicht abschließend beurteilt werden“, ob die Aufforderungen der Polizei aufgrund der Geräuschkulisse von einzelnen Personen nicht wahrgenommen wurde. Die Aufforderung sei „ohne technische Unterstützung“ erfolgt, ergänzte Rehr später auf Nachfrage. Kommunikation mit den Teilnehmenden sei „während der gesamten Einsatzmaßnahmen“ erfolgt.

Doch stimmt es, dass die Polizei vor Ort vorab Zwangsmittel androhte? In keinem der Videos, die CORRECTIV.Faktencheck vorliegen, ist eine Durchsage zu hören, dass die Straße geräumt werden soll. Belege für eine entsprechende Durchsage lieferte die Polizei auf Nachfrage nicht. Was sagen Augenzeugen?

Journalist berichtet: „Ohne Ankündigung, Forderung oder Durchsagen wurde mit dem Sturm begonnen“

Der Fotograf von Perspektive Online und eine Demo-Teilnehmerin widersprechen der Aussage der Polizei, es habe eine „Androhung von Zwangsmitteln“ gegeben, und stellten uns Videos zur Verfügung, die den Demo-Zug zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Zudem verweisen sie auf weitere Zeugenaussagen, die Gewaltanwendung der Einsatzkräfte kritisierten.

Der Fotograf Arthur May, von dem das Video in den Instagram-Beiträgen ursprünglich stammt, beschrieb die Situation am Telefon so: Die Demonstrierenden hätten sich ruhig auf der Fahrbahn der B49 in Richtung Gießen bewegt. Es sei nur ein Polizeiauto vor Ort gewesen – nach etwa fünf Minuten seien weitere Autos mit Polizeikräften gekommen. „Diese stiegen aus, stellten sich in einer Kette auf und hielten die Knüppel als Drohung hoch. Ohne Ankündigung, Forderung oder Durchsagen wurde dann wenige Sekunden später mit dem Sturm begonnen.“ Eine Eskalation sei vorher nicht von der Demonstrierenden-Gruppe ausgegangen. 

Links ist zu sehen, wie ein Polizist einen Aktivisten zu Boden drückt, rechts ein Polizist bei einem Tritt
Die Videos zeigen das gewaltsame Vorgehen der Polizei (Quellen: Arthur May / Perspektive Online, Sina Reisch; Screenshots: CORRECTIV.Faktencheck)

Mehrere Augenzeugen sprechen von Polizeigewalt

Auch Sina Reisch sagte in einem Instagram-Video, dass sie auf der Demonstration gewesen sei – sie befand sich laut eigener Angabe im vorderen Teil der Demonstration und schickte uns mehrere Videos zu. Sie schildert uns, dass mehrere Polizeiautos angefahren seien, als der Demozug auf Höhe der Brücke war – der Demozug sei langsamer geworden und habe begonnen, „beruhigend“ zu singen. Sie sei dann an den Straßenrand gegangen und habe angefangen zu filmen. Danach sei die Polizei losgestürmt. Eines ihrer Videos zeigt die Szene aus einer anderen Perspektive, eine Durchsage der Polizei ist darin nicht zu hören. 

Auf unsere Anfragen hin konnten weitere Anwesende bestätigen, dass es keinerlei Vorwarnung oder Ansagen seitens der Polizei gab, darunter ein weiterer Pressefotograf und der Verdi-Gewerkschaftssekretär Christian Keil. CORRECTIV.Faktencheck kontaktierte Keil telefonisch. Den weiteren Verlauf schilderte er wie folgt: Nach der Szene hätten Personen aus dem Demozug heraus das Gespräch mit der Polizei gesucht. Etwas später seien die Einsatzkräfte dann nach und nach in die Autos gestiegen und weggefahren. Der Protestzug habe sich dann nach einer Weile weiter in Richtung Gießen bewegt. Dass die Polizei sich zurückgezogen hat, bestätigen auch der Fotograf May und Videos von Reisch.

Wann darf die Polizei Gewalt anwenden? 

Insgesamt gab es an jenem Wochenende zeitweise 19 Blockaden, großteils im Umland von Gießen, um „den Weg für die AfD-Delegierten dichtzumachen“, so das Aktionsbündnis Widersetzen. Das Aktionsbündnis spricht in einer Pressemitteilung von „Aktionen zivilen Ungehorsams“. Dass Blockaden mit einem solchen Zweck nicht zulässig sind, lässt sich aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts annehmen. Laut Paragraf 21 Bundesversammlungsgesetz ist es verboten, erlaubte Versammlungen grob zu stören.

Das „Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ definiert, was „unmittelbarer Zwang“ ist und wann die Polizei in dem Bundesland zu diesem Mittel greifen darf. In Paragraf 55 Absatz 1 des Gesetzes heißt es: „Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, durch ihre Hilfsmittel und durch Waffen.“ Körperliche Gewalt wird näher definiert als „unmittelbare körperliche Einwirkung auf Personen oder Sachen“. Als Waffe, die bei der Ausübung von unmittelbarem Zwang eingesetzt werden darf, nennt das Gesetz unter anderem den Schlagstock. 

In Paragraf 58 ist darüber hinaus festgelegt, dass unmittelbarer Zwang vor seiner Ausübung immer angedroht werden muss, wenn die Umstände das zulassen. Wörtlich steht im Gesetz: „Unmittelbarer Zwang ist vor seiner Anwendung anzudrohen. Von der Androhung kann abgesehen werden, wenn die Umstände dies nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer Gefahr notwendig ist.“ Für Menschenmengen sieht das Gesetz zudem vor, dass der unmittelbare Zwang so weit im Voraus angekündigt werden muss, dass sich Unbeteiligte noch entfernen können.

Zur Ausübung von körperlicher Gewalt darf die Polizei laut dem Gesetz nur dann greifen, wenn „andere Zwangsmittel nicht in Betracht kommen oder keinen Erfolg versprechen oder unzweckmäßig sind“. Wie unsere Recherche zeigt, ist es fragwürdig, ob sich die Polizei an diese Vorgaben gehalten hat.

Expertin von Amnesty International: Art und Weise der Räumung war unverhältnismäßig

Das Instagram-Video legten wir auch Paula Zimmermann vor, sie ist Expertin für Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei Amnesty International in Deutschland. Sie antwortete, die Gewalt gehe in der Szene „klar von der Polizei aus“. „Der flächendeckende Schlagstockeinsatz, das Nachtreten, teils sogar von hinten und insgesamt das Auftreten der Polizei sind höchst kritisch zu sehen.“ Die Polizei müsse „immer das mildeste Mittel einsetzen und darf keinen unverhältnismäßigen Schaden bewirken“. 

„Selbst wenn die Polizei die Versammlung vorab per Lautsprecher aufgelöst und die Versammlungsteilnehmer*innen dazu aufgefordert hätte, die Fahrbahn zu verlassen, würde das nichts an der Unverhältnismäßigkeit des polizeilichen Vorgehens ändern. Die Art und Weise der Räumung ist in jedem Fall unverhältnismäßig und aus menschenrechtlicher Perspektive entschieden zu kritisieren.“

Korrektur, 13. Dezember 2025: An einer Stelle im Text stand zuvor Aktionsbündnis Widerstand, der korrekte Name ist Aktionsbündnis Widersetzen. 

Update, 15. Dezember 2025: Wir haben ein Statement der Polizei Mittelhessen ergänzt, sie schrieb uns, dass die Aufforderung zur Räumung ohne technische Hilfsmittel erfolgt sei. 

Update, 16. Dezember 2025: Wir haben eine Antwort der Staatsanwaltschaft Gießen ergänzt.

Redigatur: Matthias Bau, Paulina Thom

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, zuletzt abgerufen am 11. Dezember 2025: Link
  • Telegram-Beitrag mit dem Video, Perspektive Online, 29. November 2025: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung „Bündnis schockiert von heftiger Polizeigewalt“, Bündnis Widersetzen, 29. November 2025: Link (archiviert) 
  • Pressemitteilung „Stadt Gießen blickt auf 29. November zurück“, Stadt Gießen, 30. November 2025: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung „Poseck zieht Bilanz zu Gewalt bei Protesten“, Hessisches Ministeriums des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz, 1. Dezember 2025: Link (archiviert)
  • Pressemitteilung „Innenminister dankt Einsatzkräften und ruft zu friedlichem Einsatz für Demokratie auf“, Hessisches Ministeriums des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz, 11. Dezember 2025: Link (archiviert)
  • Bericht der Augenzeugin Sina Reisch, Instagram, 6. Dezember 2025: Link (archiviert)
  • Bericht des Augenzeugen Christian Keil, Instagram, 10. Dezember 2025: Link (archiviert)
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