Bürgergeld: Grafik zu Bezügen von Geflüchteten ist irreführend
Mehrere Grafiken zum Bürgergeld, die online kursieren, zeichnen ein verzerrtes Bild. Sie erwecken den Eindruck, Ausländerinnen und Ausländer würden übermäßig davon profitieren. Wir haben die Zahlen eingeordnet und mit Fachleuten über die Jobsituation von Geflüchteten gesprochen.
Am 31. Juli veröffentlichte die Bild-Zeitung den Artikel: „Wer bekommt wie viel vom Staat: Das steckt hinter dem neuen Bürgergeld“. Darin ist zu lesen, dass 5,3 Prozent der Deutschen, 65,6 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer und 55,1 Prozent der Syrerinnen und Syrer Bürgergeld bekommen (Stand: März 2023). Im Netz: Große Aufregung.
Anabel Schunke, Redakteurin beim Medienprojekt Nius von Ex-Bild-Chef Julian Reichelt und Medienberichten zufolge neurechte Influencerin in Deutschland, nutzt den Artikel, um online gegen Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten zu hetzen: „Wir sind Zahl- und Arbeitssklaven im eigenen Land […] Überall müssen einheimische Bürger hinten anstehen, damit es anderen gut geht“, schreibt sie auf X, ehemals Twitter.
Die ehemalige AfD-Politikerin Joana Cotar schreibt auf Facebook: „Nur fünf Prozent aller Deutschen bekommen Bürgergeld. Der Rest geht arbeiten, während andere Nationen das jeweils bis zu 65 Prozent nicht tun. Dieser Wahnsinn muss sofort aufhören.“ Auch auf Tiktok verbreiten sich die Zahlen aus dem Bild-Artikel, wo sie mit Wortmeldungen wie „Weltsozialamt und wir blechen“ kommentiert werden.
Über Whatsapp fragten uns Nutzerinnen und Nutzer, ob die Zahlen korrekt sind. In dem Messenger kursiert neben der Darstellung der Bild-Zeitung vor allem eine weitere Grafik: Sie geht auf Hans-Jürgen Goßner zurück, AfD-Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg.
Unsere Recherche zeigt: Die Zahlen sind korrekt, können anhand der Grafik aber irreführend aufgefasst werden. Laut Fachleuten ist es nicht schlüssig, in ihnen einen politischen Skandal oder ein Scheitern der Integration zu sehen.
Zahlen zu Bürgergeldquoten stammen aus der Bild und sind korrekt
Vorweg: Das Bürgergeld soll ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ sichern und steht Menschen zu, die ein zu geringes Einkommen haben. Laut der Bundesagentur für Arbeit kann jede Person das Bürgergeld beantragen, die mindestens 15 Jahre alt und noch nicht im Rentenalter ist, in Deutschland wohnt, mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten kann oder hilfsbedürftig ist, weil sie zu wenig verdient. Auch wer in einer Bedarfsgemeinschaft mit einer hilfsbedürftigen Person lebt, kann Bürgergeld beantragen.
Zum 1. Januar 2024 würden die Regelsätze des Bürgergelds erhöht, verkündete Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) in einer Pressekonferenz. Alleinstehende sollen 563 Euro statt wie bislang 502 Euro pro Monat bekommen. Asylbewerberinnen und Asylbewerber bekommen hingegen kein Bürgergeld, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Bild veröffentlicht Zahlen aus dem Migrationsmonitor und stellt den Anteil der Deutschen nicht dar
Nun zu der Grafik der Bild. In dem Artikel vom 31. Juli heißt es: „Während 5,3 Prozent der Deutschen im März 2023 Bürgergeld erhielten, waren es 65,6 Prozent der Ukrainer in Deutschland, 55,1 Prozent der Syrer, 47,1 Prozent der Afghanen, 41,7 Prozent der Iraker und 16,2 Prozent der Türken.“
Weiter schreibt die Bild, etwa 2,9 Millionen der Menschen, die Bürgergeld bekommen, seien deutsche Staatsbürger, die restlichen knapp 2,6 Millionen seien Ausländerinnen und Ausländer. Die bei der Bild verwendete Grafik basiert auf Zahlen des sogenannten Migrationsmonitors der Bundesagentur für Arbeit mit Stand Juni 2023.
Diese Zahlen stehen auch auf der Webseite der Arbeitsagentur im Bericht für Juni 2023 in der Tabelle 4.1 „Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Staatsangehörigkeit, Geschlecht und Alter“.
Die Zahlen, die die Bild teilt, sind also korrekt. Allerdings ändert der Balken, der zeigen würde, wie viele Deutsche Bürgergeld beziehen, die Grafik erheblich. Wir haben diesen eingefügt, um das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern zu verdeutlichen.
Darstellung zum Bürgergeld von AfD-Politiker Goßner ist irreführend
Nun zur Grafik Goßners. Er bestätigt auf Anfrage, dass er sie erstellt hat und schreibt: „Für Fehlinterpretationen der Betrachter bin ich nicht verantwortlich, kann aber nicht ausschließen, dass solche stattfinden.“
Die Grafik ist irreführend, weil sie suggeriert, Deutsche bezögen nur 5,3 Prozent der 43,8 Milliarden Euro Bürgergeld, Ukrainerinnen und Ukrainer hingegen rund 66 Prozent. Das stimmt aber nicht. Das wird allein schon dadurch klar, dass die Prozentangaben in Summe über 100 Prozent kommen. Richtig ist: 65,6 Prozent der in Deutschland lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer bekommen Bürgergeld, ebenso wie 5,3 Prozent der Deutschen.
Beim Anteil, den sie vom gesamten Bürgergeld erhalten, ist es genau andersherum: Deutsche beziehen den höchsten Anteil der Sozialleistung. Von insgesamt rund 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld bekommen, sind etwa 2,9 Millionen Deutsche. Entsprechend liegt deren Anteil am Bürgergeld bei knapp 53 Prozent.
Im Folgenden zeigen wir die Grafik Goßners in einer Version, die die Informationen so abbildet, dass ein Blick auf die Grafik allein ausreicht, um ein umfassendes Bild zu bekommen.
Dazu kommt: Man kann aus diesen Zahlen nicht schließen, aus welchen Gründen jemand nicht arbeitet. Christian Ludwig, Sprecher der Bundesagentur für Arbeit, sagte uns, von den rund 5,5 Millionen Menschen, die Bürgergeld bekommen, seien im Juli rund 1,6 Millionen nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte gewesen – also Menschen, die unter 15 Jahre alt sind oder aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation nicht in der Lage sind, mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten. Kontext, der sich weder bei der Bild-Zeitung noch bei Goßner findet.
Aus diesen Ausgaben setzen sich die 43,8 Milliarden Bürgergeld zusammen
In der Darstellung Goßners fehlt weiterer Kontext. Die 43,8 Milliarden Euro sind nicht die Summe, die Bürgergeldempfänger bekommen. Das ist die Summe, die die Bundesregierung in ihrem Haushalt an Gesamtkosten im Zusammenhang mit dem Bürgergeld für das Jahr 2023 eingeplant hat. Darin enthalten sind zum Beispiel 5,25 Milliarden Euro für die Verwaltung. Transparent aufgeschlüsselt finden sich die verschiedenen Finanzposten auf der Webseite Bundeshaushalt.de. Diesen Kontext wiederum liefert die Bild-Zeitung in ihrem Artikel.
Fakt ist also: Während 5,3 Prozent der Deutschen Bürgergeld beziehen, sind es 65,6 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, 55,1 Prozent der Syrerinnen und Syrer, 47,1 Prozent der Afghaninnen und Afghanen, 41,7 Prozent der Irakerinnen und Iraker und 16,2 Prozent der Türkinnen und Türken. Dennoch bekommen den allergrößten Teil des Geldes, das als Bürgergeld ausgezahlt wird, Deutsche.
Je länger Menschen aus dem Ausland in Deutschland sind, desto besser integrieren sie sich in den Arbeitsmarkt
Die Beiträge im Netz suggerieren, Ausländerinnen und Ausländer sowie Geflüchtete seien zu faul zum Arbeiten. Was aber sagen Fachleute zu der Frage, wieso die Bürgergeldquoten bei Geflüchteten im Vergleich zu Deutschen hoch sind?
Wir haben unter anderem mit Moritz Kuhn, Professor für Arbeitsökonomie, über die Zahlen und deren Bedeutung gesprochen. Er sagte, dass es vor allem wichtig sei, wie lange sich Menschen bereits in Deutschland befänden: „Menschen arbeiten sich in den Arbeitsmarkt rein“, sagt Kuhn. Mit zunehmender Dauer steige daher auch die Beschäftigungsquote.
Das zeigten zum Beispiel die Veröffentlichungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). So schreibt das Institut: „Die Erwerbstätigenquoten der Geflüchteten sind unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland gering […] sie steigen dann aber mit zunehmender Aufenthaltsdauer.“ In der dazugehörigen Grafik zeigt sich, dass die Erwerbstätigenquote – also das Verhältnis der Personen, die eine bezahlte Tätigkeit ausüben – sieben Jahre nach dem Zuzug nach Deutschland im Schnitt bei 62 Prozent liegt.
Außerdem verpflichtet die sogenannte Wohnsitzauflage Geflüchtete zum Teil dazu, in dem Bundesland zu wohnen, dem sie zur Durchführung des Asylverfahrens nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel zugewiesen wurden. Eine Veröffentlichung des IAB zeigt, dass Geflüchtete überdurchschnittlich auf Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit verteilt würden und so schwerer einen Job finden. Über dieses Problem berichtet auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (ifo Institut).
Großzahl ukrainischer Geflüchteter erst seit 1,5 Jahren in Deutschland
Gerade Geflüchtete aus der Ukraine leben noch nicht so lange in Deutschland und hatten so bisher wenig Chancen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie Daten des Statistischen Bundesamtes bis April 2023 zeigen, kamen die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer erst vor 1,5 Jahren nach Deutschland – eine Folge des russischen Angriffskrieges. Unter ihnen, auch das zeigen die Daten, waren im April 2023 zu zwei Dritteln Frauen und knapp 30 Prozent der Menschen waren unter 18 Jahren alt.
Alleinerziehende haben oft schlechtere Chancen auf einen Job
Laut Katrin Menke, Soziologin an der Ruhr Universität Bochum, handelt es sich dabei vielfach um Mütter mit Kindern. Für Alleinerziehende sei ein Jobbeginn immer eine Herausforderung. Für Geflüchtete käme dann noch hinzu, dass sie sich zunächst einmal in ihrem neuen Umfeld zurechtfinden müssten.
Dazu gehöre es nicht nur, Deutsch zu lernen, sondern auch eine Wohnung und Betreuungsplätze für die eigenen Kinder zu finden. Eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt werde aber auch häufig dadurch behindert, dass Geflüchtete in Deutschland keine Netzwerke hätten, die Institutionen nicht kennen würden und ihre Kenntnisse aus Berufen oder Ausbildungen nicht oder nur schwer anerkannt würden.
Mehrere Medien berichteten auch schon über konkret davon betroffene Personen. So schrieb etwa der Mitteldeutsche Rundfunk im Juni 2022 über die gelernte Schneiderin Eman Al Rouz aus Syrien. Sie habe drei Kinder, weil sie keinen Betreuungsplatz finde, finde sie keinen Job. Ähnlich ergeht es der Deutschen Julia Balzer, über die das ZDF Ende Juli in der Reportage „Mitarbeiter gesucht! Warum fehlt überall Personal“ berichtete. Sie sei gelernte Erzieherin, bekomme aber keinen Kitaplatz für ihr eigenes Kind und stehe deswegen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.
Ihre Forschung zeige aber auch, erklärt Soziologin Menke weiter, dass vor allem Frauen aus dem arabischen Raum häufig mit rassistischen Stereotypen in den Jobcentern zu kämpfen hätten. Eines davon: Sie seien nicht oder unzureichend gebildet und primär auf Sorgearbeit fokussiert. So würden viele Frauen nur eingeschränkt als potenzielle Arbeits- oder Fachkraft für die deutsche Wirtschaft betrachtet und primär in prekäre Arbeitssegmente wie dem Reinigungswesen vermittelt.
Geflüchtete verschlechtern sich zunächst beruflich
„Mit der Flucht verschlechtert sich die berufliche Stellung immer deutlich“, sagt die Forscherin auch, „Lehrerinnen aus Syrien sind jetzt Erzieherinnen oder Alltagshelferinnen in Kitas“.
Ökonom Kuhn sagt uns, dass das auch daran liege, dass Geflüchtete ihre Auswanderung, anders als andere Migrantinnen und Migranten, nicht lange vorbereiten können. Sie hätten nicht die Gelegenheit, erst Deutsch zu lernen, ihre Zeugnisse einzupacken oder sich bestimmte Berufserfahrungen bescheinigen zu lassen.
Neben diesen schwierigen Startvoraussetzungen komme hinzu, wie Soziologin Menke sagt, dass Geflüchtete besonders hart von der Pandemie getroffen worden seien, weil sie häufig in prekären und befristeten Jobs arbeiteten. Infolge der Pandemie hätten viele ihren Job verloren. Auch darüber informierte das IAB in einem Kurzbericht.
Wie gut sich Menschen integrieren, hängt auch davon ab, ob sie in einem Land bleiben wollen
Martin Lange, Arbeitsmarktforscher am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, sieht im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck zudem bei der Bleibeperspektive der Geflüchteten Unterschiede. Während es bei Ukrainerinnen und Ukrainern fraglich sei, wie lange sie in Deutschland bleiben, sehe die Situation bei Menschen aus Syrien und Afghanistan anders aus.
Sie seien vor dauerhaften Konflikten geflohen und suchten daher nach einer dauerhaften Bleibeperspektive. Gemessen an der Zeit, die sie in Deutschland seien, seien sie bereits gut integriert. Dennoch müssten weitere Anstrengungen unternommen werden, um sie weiter zu qualifizieren und auszubilden. Aus der Forschung wisse man, dass Zugewanderte „ungefähr nach 15 Jahren auf dem Beschäftigungsniveau“ der einheimischen Bevölkerung seien.
„Migration braucht immer ein bisschen Zeit“, sagt uns auch Kuhn. „Die Deutschen sollten bei Vertreibung durch Krieg eine besondere Sensibilität haben“, sagt er und gibt zu bedenken: „Asyl lässt sich nicht auf ein Kosten-Nutzen-Verhältnis reduzieren, denn es handelt sich dabei um ein Menschenrecht.“
Redigatur: Kimberly Nicolaus, Gabriele Scherndl
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Hintergrundbericht:
- Bild-Artikel „Das steckt hinter dem neuen Bürgergeld“, 31. Juli 2023: Link (Bezahlschranke, archiviert)
- Migrationsmonitor der Bundesagentur für Arbeit: Link
- Kurzbericht des IAB, „Entwicklung der Arbeitsmarktintegration seit Ankunft in Deutschland“, 27. Juli 2023: Link (archiviert)
- Artikel des Statistischen Bundesamtes über Zugewanderte aus der Ukraine: Link (archiviert)