Hintergrund

Angebliche „Frühsexualisierung“: Was hinter der Aufregung um einen Entwurf des Berliner Bildungsprogramms steckt

Nachdem ein Entwurf für das Bildungsprogramm in Kitas öffentlich wurde, in dem es auch um kindliche Sexualität ging, war die Empörung laut: Online war von „Sexräumen“ und „Perversion“ die Rede. Der Berliner Senat ruderte zurück, doch die Aufregung blieb. Was war passiert?

von Gabriele Scherndl

symbolbild-kita
Ende Februar mehrten sich Berichte und Beiträge in Sozialen Netzwerken über die Kita-Pläne des Berliner Senats. Ein interner Entwurf war an die Öffentlichkeit geraten. (Symbolbild: Patrick Daxenbichler / Zoonar / Picture Alliance)

Hinweis: In diesem Text geht es auch um sexuellen Missbrauch von Kindern. 

Mal ist von „Sexräumen“ die Rede, mal von „Lusträumen“ oder „Masturbationsräumen“, und mal von „individuellen Erfahrungsräumen“. Da wie dort geht es um einen angeblichen Plan des Berliner Senats für Kitas. Genauer: Um einen Entwurf zum Berliner Bildungsprogramm, der Ende Februar an die Öffentlichkeit gelangte. Demnach soll es solche Räume geben, damit Kinder „Lustgefühle“ erleben könnten. 

Das sorgte für Entsetzen – in Sozialen Netzwerken, bei der AfD und in rechtskonservativen Kreisen. Nach einem Bericht der Jungen Freiheit und Anfragen der AfD zog die CDU-geführte Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie den Entwurf offiziell zurück und distanzierte sich davon. Die Aufregung blieb. Und mit ihr Polarisierung und Falschbehauptungen.

Dass es soweit kam, hat mehrere Bausteine: Da ist auf der einen Seite ein Entwurf, der – so sehen das Fachleute – „inakzeptabel“ formuliert war. Auf der anderen Seite sind rechte Medien und Politiker, die daraus jene Stellen herauspicken, die besonders emotionalisieren und sie verzerren. Und teils so tun, als wäre all das ein offizieller Plan, selbst nachdem der Senat auf Distanz ging. 

CORRECTIV.Faktencheck rekonstruiert die Ereignisse und ordnet sie ein.

Berliner Bildungsprogramm soll überarbeitet werden – Entwurf „nicht für die Öffentlichkeit gedacht“

Um die Debatte zu verstehen, muss man zurück ins Jahr 2014. Damals entstand die aktuelle Auflage des Berliner Bildungsprogramms für Kitas und in der Kindertagespflege. Es ist die verbindliche Grundlage für die pädagogische Arbeit an allen Kitas in Berlin und mittlerweile zehn Jahre alt. 

Also begannen 2023 Fachleute damit, es zu überarbeiten. Laut einer Sprecherin der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie besteht diese Gruppe aus Fachleuten von Hochschulen, Instituten und Kitaträgern. Später seien die Vertragspartner des Landes, etwa Kitas und Schülerläden, mit einbezogen worden. Beteiligte erhielten einen Entwurf der Neuauflage, datiert auf den 22. Januar 2024. Die Praxis sollte ihre Sicht auf das Papier äußern. 

Was als partizipatives Vorgehen gedacht war, habe dann eine fatale Wendung genommen, wie eine der Autorinnen es formuliert. Anja Voss, Professorin für Gesundheitsförderung an der Alice Salomon Hochschule Berlin und eine der Erstellerinnen des Entwurfs – laut eigener Aussage nicht aber der Passage zur Sexualität –, sagt, damit sei ein Papier in die Kitas gekommen, das nicht autorisiert war, auf das sich die Autorinnen und Autoren noch nicht verständigt hatten, das schlicht nicht für die Öffentlichkeit gedacht war.

Wer arbeitet an der Neuauflage des Berliner Bildungsprogramms und wer erhielt den Entwurf?

Laut dem Berliner Senat besteht die Autorinnen- und Autorengruppe aus Mitgliedern des Berliner Kita-Instituts für Qualitätsentwicklung, der Alice Salomon Hochschule Berlin, des Instituts für den Situationsansatz, der Pädagogischen Hochschule Freiburg, des Instituts für Bildung, Forschung und Entwicklung in der Pädagogik, der Stiftung digitale Chancen und „renommierten Kitaträgern“. Auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck schreiben zwei der genannten Institutionen – die Stiftung digitale Chancen und die Pädagogische Hochschule Freiburg – sie hätten nichts mit dem Programm zu tun. Auf Nachfrage bei der Senatsverwaltung heißt es dazu: „Ausgewählte Expertinnen und Experten, die an diesen Institutionen beschäftigt sind oder waren“ seien Mitglieder der Autorengruppe gewesen, nicht die Institute als solches. Namen will man nicht nennen.

Der Entwurf ging später laut Senatsverwaltung an die Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege und den Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden, als auch an die Kita-Eigenbetriebe, die Koordinierungsstelle für Qualität und Unterstützung der Kindertagespflege und die AG Menschen mit Behinderung auf Arbeitsebene. Wer ihn in die Öffentlichkeit brachte, ist unklar.

Erst schrieb die AfD über den Entwurf, dann die Junge Freiheit

Der Entwurf erreichte auch die AfD. Am 23. Februar ging beim Berliner Abgeordnetenhaus eine schriftliche Anfrage ein. Tommy Tabor von der Berliner AfD-Fraktion zitiert darin aus dem Papier und will wissen, ob das wirklich so drinsteht.

Noch am selben Tag landeten Auszüge endgültig in der Öffentlichkeit – mit einem Bericht der Jungen Freiheit (JF), einem rechtskonservativen Magazin, über das CORRECTIV bereits mehrfach berichtete. Der Text trägt den Titel: „Berliner Senat plant Sexräume für Kita-Kinder“. Erster Satz: „Berliner Senat nimmt die Körperöffnungen von Kita-Kindern ins Visier“. Und es heißt weiter, damit solle Kindern das „Genießen von Lustgefühlen am eigenen Körper“ ermöglicht werden. Bei „Sexspielen“ sollen sie „mit gemeinsamen Absprachen begleitet werden“, eine anale und orale Penetrierung soll, wenn möglich, vermieden werden.

Damit war der Aufschrei da. Andere sogenannte alternative Medien zogen nach, das Thema landete in den Sozialen Netzwerken. Der AfD-Abgeordnete Martin Reichardt schrieb am 25. Februar auf X von einem „Skandal“ und von „Perversionen“, andere Nutzerinnen und Nutzer von „kriminellen Missständen“ und einem „Freifahrtschein für Pädophile“. 

In einem Telegram wird ein Screenshot aus dem Bericht der Jungen Freiheit geteilt.
Screenshots vom Artikel der Jungen Freiheit machten online, hier auf Telegram, die Runde – auch nachdem der Senat sich von dem Entwurf distanzierte (Quelle: Telegram; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Berliner Senatsverwaltung zog den unfertigen Entwurf zurück – Falschbehauptungen blieben 

Der Senat zog den Entwurf zurück, wie die JF drei Tage nach dem öffentlich werden berichtet. Der erste Text blieb allerdings, wie er war (Stand 12. April), und verbreitete sich auch nach dem Statement des Senats vielfach weiter

Auch in der AfD blieb die Empörung. Am 6. März, also mehr als eine Woche nach dem Rückzug der Senatsverwaltung, veröffentlichte der AfD-Abgeordnete Martin Sichert ein Video auf X. Er sagt, er sei nicht der einzige Vater, „der das wirklich pervers findet“ und redet im nächsten Satz über Pädophile in Politik und Justiz. In dem Video spricht er von dem Plan, als wäre dieser immer noch aktuell – das ist falsch. 

Auf Nachfrage, warum er so tut, als gebe es diesen Plan weiterhin, schreibt Sichert: Der Rückzug des Senats sei nebensächlich, „wichtig ist, solche für Kinder schädliche Einrichtungen dauerhaft und überall zu unterbinden.“

Was steht in dem Entwurf und was zitiert die Junge Freiheit daraus

Doch was stand nun wirklich in dem Entwurf? Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie will ihn nicht herausgeben, die zurückgezogenen Textpassagen wolle man „nicht kommentieren oder bestätigen“. Nur so viel: Sie stelle „keine Aufforderung zur Gestaltung von Räumen, weder im physischen Sinne noch im konzeptionellen Bereich, für sexuelle Erkundungen von Kindern dar“.

Über den Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (DAKS) – einem der Empfänger des Entwurfs – gelangt CORRECTIV.Faktencheck an das Dokument. Auf dem Titelblatt ist das Logo der Senatsverwaltung, 129 weitere Seiten folgen. Jedes einzelne Blatt ist mit dem Wort „Entwurf“ überschrieben. Es geht darin um Themen wie Zahnpflege und digitale Bildung, um Elternkommunikation und Teamzusammenarbeit. In einer Passage geht es um das Thema „Körper- und Sexualitätsentwicklung begleiten“. Sie ist eine Seite lang. 

Die direkten Zitate, die die JF daraus anführt, stehen dort tatsächlich. „Lustgefühle“ werden genannt, ebenso heißt es: „Kinder entdecken ihre eigenen Geschlechtsteile, erforschen sie intensiv und möchten diese Erfahrungen mit anderen Kindern teilen.“ Zu den „individuellen Erfahrungsräumen“ heißt es, diese sollen helfen, dass Kinder „ein Gefühl für stimmiges und authentisches Verhalten entwickeln können“. 

Andere Passagen zitiert die JF nicht, etwa den Satz: „Kindliche Sexualität grenzt sich bewusst und klar von der Erwachsenensexualität ab“. Einige Sätze hat die JF umformuliert: aus „Es werden aufgrund des Verletzungsrisikos keine Gegenstände, Genitalien oder Finger in Körperöffnungen eingeführt“ wird „Eine orale oder anale Penetrierung der Kita-Kinder soll, wenn möglich, vermieden werden – ‚aufgrund des Verletzungsrisikos‘“. Woher die Formulierung „wenn möglich“ kommt, ist unklar. Auch von „Sexspielen“, wie die JF schreibt, ist in dem Entwurf keine Rede. 

Auf Anfrage, wie es zu diesen Formulierungen kam und warum dem ersten Text kein Update hinzugefügt wurde, antwortete die JF bislang nicht.

Der Entwurf im Originaltext 

„Zur gesunden körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklung gehört auch die Wahrnehmung und Erforschung des eigenen Körpers. Körperliche Veränderungen beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern jedes Geschlechts. Schon kurz nach der Geburt werden Hände und Füße erforscht, das Saugen vermittelt Nähe, Lustgefühle und beruhigt.

Wenig später werden die eigenen Geschlechtsteile entdeckt und intensiv erforscht. Sexuelle Neugierde gehört zu einer gesunden physischen und psychischen Entwicklung, Selbstbestimmung ist dabei entscheidend. Sexuelle Neugierde bei Kindern und das Genießen von Lustgefühlen am eigenen Körper ist Teil der Entwicklung. Kindliche Sexualität grenzt sich bewusst und klar von der Erwachsenensexualität ab. Kinder entdecken ihre eigenen Geschlechtsteile, erforschen sie intensiv und möchten diese Erfahrungen mit anderen Kindern teilen. Sie lieben es zu spielen und entdecken ihren Körper z.B. über Rollen- oder Bewegungsspiele. Um solche Erkundungen zu ermöglichen, werden in der Kita und ggf. der Kindertagespflege individuelle Erfahrungsräume für Kinder gestaltet, in denen sie ein Gefühl für stimmiges und authentisches Verhalten entwickeln können. Dabei werden die Kinder von den pädagogischen Fachkräften nicht gestört, aber mit gemeinsamen Absprachen begleitet: Jedes Kind macht nur mit, wenn es sich wohl dabei fühlt und kann jederzeit aufhören. Es werden aufgrund des Verletzungsrisikos keine Gegenstände, Genitalien oder Finger in Körperöffnungen eingeführt. Der Altersunterschied zwischen den Spielenden darf nicht zu groß sein. Die pädagogischen Fachkräfte schaffen so einen sicheren Ort für jedes Kind. Denn pädagogische Fachkräfte sind gefordert, für Kinder eine sexualfreundliche und sinnesfördernde Haltung zu entwickeln und diese in die pädagogische Konzeption der Kita zu integrieren. Die pädagogischen Fachkräfte beteiligen jedes Kind bei der Entwicklung von Fragestellungen zur Sexualität. Bilderbücher können die pädagogischen Fachkräfte in der Umsetzung einer bejahenden Haltung zur Sexualität unterstützen.“

Gesundheitswissenschaflterin Voss sagt zu dem Text: „Die Junge Freiheit schafft es, innerhalb von ein paar Sätzen, den Kontext völlig zu verschieben“. Christa Wanzeck-Sielert, ehemalige Lehrbeauftragte in der Abteilung Gesundheitspsychologie der Uni Flensburg schreibt auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck: Häufig würden in solchen Debatten „Begriffe aus dem Zusammenhang gerissen“. Mit „Penetrierung“ etwa habe die JF einen Begriff eingebaut, der „Angst und Schrecken“ weckt. 

Expertinnen und Experten bemängeln Formulierungen im  Entwurf für das Bildungsprogramm 

Doch auch der Entwurf in seiner Originalfassung stößt auf Kritik unter Fachleuten. Roland Kern, beim DAKS zuständig für Gremien- und Öffentlichkeitsarbeit, formuliert das so: „Der überarbeitete Abschnitt zur Körper- und Sexualitätsentwicklung gehörte sicher nicht zu den Glanzstücken des Entwurfs, an dem es aber insgesamt viel Kritik gab“. Frauke Zeisler, Leiterin der Koordinierungsstelle für Qualität und Unterstützung – ebenfalls in den Feedback-Prozess zum Entwurf involviert – schreibt, man könne die Entscheidung, den Entwurf zurückzuziehen, nachvollziehen und begrüße sie.

Kritik kommt auch von Gesundheitsforscherin Voss, die selbst am Papier mitgeschrieben hat. Den Teil über Sexualität nennt sie„problematisch“, er sei an einigen Stellen „missverständlich und so für das Programm inakzeptabel.“

Das beginnt beim Begriff des Raumes. Aus dem Entwurf wird nicht klar, ob es dabei um einen architektonischen Raum mit vier Wänden oder um ein gedankliches Konstrukt geht. Selbst die Fachleute, mit denen CORRECTIV.Faktencheck sprach, interpretierten ihn unterschiedlich. Kern vom Dachverband der Berliner Kinder-und Schülerladen schreibt hingegen, das Wort „Erfahrungsräume“ sei „erkennbar metaphorisch“ gemeint, und: „Kitapraktiker kommen angesichts der immer knapperen Ressource Quadratmeter vermutlich gar nicht erst auf den Gedanken, dass da ein realer Raum reserviert werden könnte.“ 

Von der Senatsverwaltung heißt es dazu: Solche Räume würde man ohnehin untersagen.

Fachleute kritisieren: Erwachsene und kindliche Sexualität gehören scharf getrennt

Vor allem aber brauche es eine klare Unterscheidung zwischen Kinder- und Erwachsenensexualität, sagen die Expertinnen und Experten, mit denen CORRECTIV.Faktencheck dazu in Kontakt war. Diese fehle – sowohl in der Debatte, und in aller Deutlichkeit auch im Entwurf.

„Erwachsene sollten auf die kindliche Sexualität nicht mit der ‚Erwachsenen-Brille‘ gucken“, sagt Katja Wollmer, Referentin für Sexuelle Bildung beim Pro Familia Bundesverband zu CORRECTIV.Faktencheck. Wenn Erwachsene eine erwachsene Sexualität von ihren Kindern fernhalten wollen, sei das richtig und gut so.

Doch gleichzeitig gibt es auch kindliche Sexualität. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) beschreibt diese in einer Broschüre so: „Kinder haben unbestritten gleiche oder ähnliche körperliche Reaktionen wie Erwachsene – auch kleine Jungen können zum Beispiel eine Erektion haben oder Mädchen schöne Gefühle empfinden, wenn sie auf einem Kissen herumrutschen. Aber Kinder schreiben diesen Erlebnissen eine ganz andere Bedeutung zu als Erwachsene. Für sie sind sie einfach Teil einer körperlichen Erfahrung“. 

Sexualwissenschaftlerin Wollmer dazu: „Kinder folgen einzig ihrem eigenen guten Gefühl, nur mit sich selbst und für sich selbst (kindlich-egozentrisch), anfangs noch ohne Scham (in den ersten Lebensjahren) oder gesellschaftliche Regeln, mit allen Sinnen und – besonders wichtig – dem ganzen Körper, nicht nur genital fokussiert“. 

Was unterscheidet kindliche und erwachsene Sexualität?

Wollmer stellte CORRECTIV.Faktencheck eine Tabelle zur Verfügung, die die wesentlichen Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität deutlich machen soll.

Tabelle, die zeigt, wo die Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität liegen.
Eine Darstellung von Katja Wollmer, Referentin für sexuelle Bildung bei Pro Familia, soll die Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität verdeutlichen (Quelle: Maywald / Wollmer; Darstellung: CORRECTIV.Faktencheck)

Diese kindliche Sexualität legen Kinder in der Kita nicht ab. „In Kitas brauchen Kinder Rückzugsräume, um für sich zu sein, zu entspannen, zu schlafen und dabei kann es natürlich vorkommen, dass sie sich wechselseitig berühren und ihre Körper erkunden“, schreibt dazu Gesundheitspsychologin Wanzeck-Sielert. „Keine plausible Erziehungsnorm gibt Erwachsene das Recht, ihnen das zu verweigern“. 

Rechte stellen Aufklärung und Pädophilie in eine Reihe

Dass es grundsätzlich Sexualaufklärung braucht, betont auch die BZgA. Nämlich zum Schutz der Kinder. Aufklärung trage in Kitas und zuhause, „zur Prävention von sexuellem Missbrauch bei und beugt sexueller Gewalt vor“, heißt es in einer Mail an CORRECTIV.Faktencheck. Anders formuliert: Nur, wer den eigenen Körper kennengelernt hat und Begriffe für ihn hat, kann erkennen und kommunizieren, wenn eine Grenze überschritten wird.

Wie kann ein Umgang mit kindlicher Sexualität in Kitas aussehen?

Die einfache Antwort, wie Kitas mit kindlicher Sexualität umgehen sollten, gibt es nicht. Gesundheitswissenschaftlerin Voss sagt dazu: Es gehe darum, Kitas so einzurichten, dass Kinder in geschützem Rahmen und professionell begleitet Körper- und Erfahrungen von kindlicher Sexualität machen könnten, genauso wie sie Sprech- und Spielerfahrungen machen würden.

Wollmer sagt, es brauche sexualpädagogische Konzepte als Teil der bereits vorgeschriebenen Gewaltschutzkonzepte an jeder Kita. In diesen könne etwa festgeschrieben werden, mit welchen Begriffen Geschlechtsorgane von den Fachkräften benannt werden, wie mit Nacktheit, etwa im Sommer im Haus und Garten umgegangen werde, unter welchen Bedingungen Experimente mit dem eigenen Körper möglich seien („Doktorspiele“) und wie durch Fachkräfte bei beobachteten Grenzüberschreitungen vorgegangen werde. Solche transparenten Konzepte würden auch den Eltern mehr Sicherheit geben. Sie sagt: „Ich glaube, im Moment besteht ein Bedürfnis nach sachlichen Informationen und Aufklärung bei den Erwachsenen. Das ist wunderbar, lassen Sie uns das Thema kindliche Sexualität offen besprechen“.

Auch in einer Rückmeldung vom DAKS zum Entwurf des Bildungsprogramms, die CORRECTIV.Faktencheck vorliegt, heißt es: „Eltern brauchen Aufklärung und Gespräche um die natürliche, kindliche Entwicklung immer besser zu verstehen“, denn Nichtwissen führe zu Missverständnissen und Aufregung.

In rechtskonservativen bis rechtsextremen Kreisen wird frühkindliche Sexualität aber immer wieder in einen Topf mit Missbrauch und Pädophilie geworfen.

So macht das etwa AfD-Abgeordneter Martin Sichert, wenn er in seinem X-Video erst von den Plänen des Berliner Senats und dann von Sexualstraftaten spricht, und so macht das auch der Berliner Abgeordnete Tommy Tabor. In einer zweiten Anfrage, die ebenfalls am 23. Februar beim Berliner Abgeordnetenhaus einging, fragt er erst, was denn „kindliche Sexualität“ sei. Und dann, in derselben Anfrage, nach dem 2008 gestorbenen Sexualwissenschaftler Helmut Kentler

Kentler galt als Experte für Sexualkunde – und vermittelte in den 1970ern in Berlin Kinder an Missbrauchstäter. Der Fall wird nach wie vor aufgearbeitet, in einem jüngst erschienenen Bericht der Uni Hildesheim dazu ist von einem „Versagen öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe“ die Rede, auch die damalige Senatsverwaltung wird verantwortlich gemacht. 

Wer war Helmut Kentler?

Der Psychologe und Professor für Sozialpädagogik Helmut Kentler war in den 1960er und 1970er Jahren Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin und anschließend Professor für Sozialpädagogik an der TU Hannover, er publizierte über Sexualität und Sexualpädagogik. Die Taz nannte ihn in einem Nachruf 2008 einen „der wichtigsten Interpreten des sexualaufklärerischen Zeitgeistes“.

Kentler war in den 1970ern dafür verantwortlich, dass im Rahmen eines „Experiments“ mindestens drei Jugendliche in die Betreuung von Männern übergeben wurden, die bereits wegen sexuellem Missbrauch in Haft gewesen waren. „Dass es zu Missbrauch kommen könnte, nahm Kentler in Kauf“, schreibt der Tagesspiegel darüber. 

Am 23. Februar 2024 – genau an dem Tag, an dem auch der Entwurf des Bildungsprogrammes an die Öffentlichkeit gelangte – veröffentlichten Forschende der Uni Hildesheim ihren Bericht, in dem sie ein deutschlandweites Netzwerk rund um Kentler rekonstruieren, „in dem verschiedene Akteure aus Wissenschaft, Kinder- und Jugendhilfe, Verwaltung u. a. als Vertreter der Heimreform und/oder Sexualpädagogik in Zusammenarbeit mit dem Berliner Landesjugendamt pädophile Positionen und sexualisierte Gewalt unterstützten, legitimierten, duldeten, rechtfertigten und/oder selbst ausgeübt haben“.

Schon seit Jahren arbeiten auch Universitäten und Institutionen ihre Geschichte mit Kentler auf. So etwa Pro Familia, das sich 2019 in einer Stellungnahme von Kentlers Haltung distanzierte, sich aber vorwarf, das zu spät zu tun. Pro Familia war nach eigenen Angaben von Kentler beraten worden. 

„Frühsexualisierung“ als Narrativ rechter Desinformation

Diese Brücke von Sexualaufklärung zum Missbrauch zu schlagen, sieht Voss als „höchst problematische Verkürzung“. Sie ist aber kein Zufall. Und nicht neu, wie CORRECTIV bereits 2017 in einer Recherche beleuchtete

Unter dem Schlagwort der „Frühsexualisierung“ wird seit Jahren Desinformation und Propaganda gestreut. Damit einher geht, so schreibt Bellingcat, die „Vorstellung, dass Sexualkundeunterricht zum Ziel hätte, unschuldige, reine Kinder zu korrumpieren und mit LGBTQ*-Propaganda zu indoktrinieren und sexuell gefügig zu machen“.

In Berlin führte die Debatte nun dazu, dass ein neues Bildungsprogramm weiter auf sich warten lässt. Die neue Fassung soll, so plant es die Senatsverwaltung Stand April 2024, im ersten Quartal 2025 veröffentlicht werden. 

Redigatur: Steffen Kutzner, Sophie Timmermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
  • Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege, Berliner Senatsverwaltung für Kinder, Jugend und Familie, 2014: Link (PDF, archiviert)
  • Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tommy Tabor (AfD) an das Berliner Abgeordnetenhaus zu „Sexualerziehung im Berliner Bildungsprogramm (BBP): Was erwartet Berliner Kita-Kinder?“ (Drucksache 19/18375), 22. Februar 2024: Link (PDF, archiviert)
  • Broschüre „Liebevoll begleiten“, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2021: Link (PDF, archiviert)
  • Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Tommy Tabor (AfD) an das Berliner Abgeordnetenhaus zu „Was ist „kindliche Sexualität“?“ (Drucksache 19/18376), 22. Februar 2024: Link (PDF, archiviert)
  • Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“, Universität Hildesheim, 2024: Link (PDF, archiviert)
  • Stellungnahme zu Helmut Kentler, Pro Familia, 31. Juli 2019: Link (PDF, archiviert)