Hintergrund

Die Angst vorm Wahlbetrug geht um

Naht ein Wahltag, ist gesichert: In Sozialen Netzwerken gehen die Warnungen vor Wahlbetrug los. Belege? Fehlanzeige. Dahinter steckt eine klare rechtspopulistische Masche, sagen Expertinnen und Experten.

von Uschi Jonas

Landtagswahl Thüringen
Viel wird im Netz rund um Wahlen vor angeblichen Wahlbetrug gewarnt, so auch vor den Landtagswahlen 2024. Das Ziel: Unsicherheit in demokratische Strukturen säen (Symbolbild: Swen Pförtner / Picture Alliance / DPA)

Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim – so müssen alle parlamentarischen Wahlen laut Grundgesetz in Deutschland ablaufen. Doch wer sich rund um die Landtagswahlen in Sozialen Netzwerken bewegt, kann den Eindruck gewinnen, diese Grundsätze schwebten in großer Gefahr: Es wird vehement gewarnt, Wahlbetrug und Wahlmanipulation stünden bevor und müssten verhindert werden. 

„Ich habe eine Bitte an alle in Thüringen und Sachsen! Seid vor 18 Uhr in den Wahllokalen und schaut den ,Wahlhelfern‘ beim Auszählen auf die Finger! Das minimiert Wahlbetrug!“, schreibt ein Nutzer auf der Plattform X. Ein anderer ist sich sicher: „Natürlich wird es Wahlbetrug geben. Wie man teilweise mit AfD-Stimmen umgeht, weiß ich leider aus erster Hand.“ Hunderte solcher Beiträge finden sich allein auf X.

Auch die AfD Thüringen und die AfD Sachsen, die rechtsextreme Kleinstpartei Freie Sachsen und das rechtsextremistische Aktionsbündnis „Ein Prozent“ warnten vor flächendeckendem Wahlbetrug und riefen dazu auf, sich als Wahlbeobachter in Wahllokalen aufzuhalten. 

Die AfD Thüringen und das rechtsextremistische Aktionsbündnis „Ein Prozent“ warnten vor den Landtagswahlen auf X vor Wahlbetrug (Quelle: X; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)
Die AfD Thüringen und das rechtsextremistische Aktionsbündnis „Ein Prozent“ warnten vor den Landtagswahlen auf X vor Wahlbetrug (Quelle: X; Screenshots und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)

Das Misstrauen führt teilweise zu absurden Vorfällen – so berichtet die Landespolizei Thüringen, in Schleusingen habe eine Person an der Wahlurne gerüttelt, um sich von der Verschlusssicherheit zu überzeugen. Dabei löste sich ein Siegel. Trotz angebrachter Schlösser an der Urne habe der Mann auf eine Anzeige wegen Wahlfälschung bestanden. Die Polizei stellte bei ihrem Eintreffen aber fest: Die Urne war ordnungsgemäß verschlossen. Angezeigt wurde der Mann selbst – wegen Vortäuschens einer Straftat.

Auch nach der Wahl wird jede Panne als Beleg für vorsätzlichen Wahlbetrug interpretiert und in Sozialen Netzwerken verbreitet. Wie in Zwickau, wo in einem Wahllokal eine kleine Anzahl falscher Stimmzettel aus dem Nachbarlandkreis ausgeteilt wurde. Und zwischen echte Vorfälle mischt sich Desinformation: So behauptete eine Person, sich mit hunderten ausgefüllten Stimmzetteln in ein Wahllokal in Sachsen geschlichen zu haben. Die Behauptung, in einem Wahllokal in Rötha habe es Ungereimtheiten gegeben, ist ebenfalls falsch. Auffällig ist zudem, dass sich darunter – wie auch schon bei der Europawahl – satirisch gemeinte Beiträge mischen, die vermeintlich die AfD-Anhängerschaft aufstacheln sollen. X-Profile teilten zum Beispiel alte Fotos von AfD-Stimmen, die sie angeblich vernichtet hätten.  

Wenn Wahlen bevorstehen, begegnet uns die Mär vom Wahlbetrug seit Jahren. Warum wird so intensiv damit Stimmung gemacht und wem nützt das?

Erzählung vom Wahlbetrug soll Kern der Demokratie angreifen

Martin Fuchs, Experte für Politikberatung und digitale Kommunikation, sieht in der Erzählung vom Wahlbetrug einen „Mosaikstein im demokratiefeindlichen Narrativ“, das zum Ziel habe, die Demokratie, den Staat und seine Institutionen anzugreifen und verächtlich zu machen. Auch werde die Erzählung herangezogen, um mögliche nicht erreichte Wahlziele zu erklären. Die Schuld dafür wird so auf andere, auf das System geschoben. 

Wenn die Ergebnisse dann doch passten, verstummten Stimmen über Wahlfälschung einfach, sagt Sarah Shiferaw, Trainerin für Erwachsenenbildung im Bereich Desinformation beim Institute for Strategic Dialogue Germany (ISD), dem ARD-Faktenfinder

Mauritius Dorn, ebenfalls vom ISD, schreibt uns: „Gemeinhin vermitteln diese Kampagnen den Eindruck, es bestehe in Deutschland eine akute Gefahr von Wahlfälschungen. Damit werden gezielt Unsicherheiten bei den Wählerinnen und Wählern geschürt und riskiert, die Legitimität des Wahlergebnisses vorab zu untergraben.“ 

Wem nutzt das Narrativ vom angeblichen Wahlbetrug?

Die Erzählung vom Wahlbetrug werde auch genutzt, um ein Bild von einem „Wir“ gegen „die Anderen“ zu konstruieren, so Digitalexperte Fuchs. Populistische Kräfte nutzten das, wie zum Beispiel auch in den USA, um zu polarisieren und ihre Anhängerschaft zu mobilisieren. In die Karten spiele das allen, die „die Demokratie angreifen und im Fernziel abschaffen wollen“. Das könnten auch Extremisten oder Akteure aus dem Ausland sein, die Deutschland schwächen wollen.

„In Deutschland werden Wahlbetrugs- und Manipulationsvorwürfe besonders prominent durch AfD-nahe Akteure, sowie die mittlerweile als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Gruppierung ,Ein Prozent‘ verbreitet“, sagt Paula Jöst, vom Institut für Politikwissenschaften der Universität Mainz.

Zu dieser Erkenntnis kam auch das Institute for Strategic Dialogue Germany in einer Analyse nach der Bundestagswahl 2021. Bereits seit 2016 führe „Ein Prozent“ eine Kampagne, um Wahlbeobachter zu mobilisieren, so ISD-Experte Dorn. Die angebliche Gefahr von Wahlfälschungen werde vor allem als Nachteil für die AfD ausgelegt. In dem sie eine allgemeine Skepsis gegenüber dem Staat schüren, nutzten die Narrative vor allem Anhängern rechtsextremer und verschwörungsideologischer Bewegungen, „deren Ziel es ist, die freiheitliche Demokratie abzuschaffen“, so Dorn. So habe auch die „Querdenken“-Bewegung das Narrativ aufgegriffen.

Vertrauen in Wahlprozess ist von der Sympathie für Parteien geprägt

Typisch ist auch das Infragestellen der Briefwahl. Sie sei unsicher und ermögliche Manipulationen, heißt es regelmäßig fälschlicherweise im Netz, wie wir bereits zur Bundestagswahl 2021 berichteten. Dass sich tendenziell wenig AfD-Wähler für die Briefwahl entscheiden, ist ein Muster, das sich laut dem Umfrageinstitut Infratest Dimap seit Jahren zeigt. Ein möglicher Grund dafür wiederum liegt laut einem Essay der School of Governance an der Universität Duisburg-Essen an der „generellen Skepsis“ der AfD-Wählerschaft gegenüber dem Wahlsystem – und eben jenem Anzweifeln der Briefwahl im Vorfeld.

Jöst erklärt: Inwiefern Personen den Wahlprozess als vertrauenswürdig einstufen, sei stark von der Sympathie für eine Partei geprägt, das zeige die Forschung. Dementsprechend spiegele sich bei der AfD-Wählerschaft in wissenschaftlichen Umfragen eine negativere Wahrnehmung des Wahlprozesses wider.  

Soziale Netzwerke als Nährboden für Erzählungen rund um Wahlmanipulation

Vor allem in Sozialen Netzwerken werden die Warnungen und Gerüchte um vermeintliche Wahlmanipulationen gestreut. Das habe zum einen mit der generellen Skepsis populistischer Akteurinnen und Akteure gegenüber traditionellen Medien zu tun, sagt Politikwissenschaftlerin Jöst. Zum anderen würden so viel mehr Menschen in kurzer Zeit erreicht. „Und einmal gesäte Zweifel lassen sich durch Phänomene wie Echokammern und Filterblasen nur schwer wieder einfangen oder revidieren.“ 

Doch wie stark ist die Wirkung überhaupt, die solche Gerüchte haben können? In der öffentlichen Wahrnehmung hätten solche Kampagnen zugenommen – auch weil der ehemalige US-Präsident Donald Trump das Thema seit fünf Jahren erfolgreich bespielt, sagt Digital-Experte Fuchs. Zuvor sei das Thema in der öffentlichen Debatte kaum vorgekommen. Ähnlich sieht das auch die Politikwissenschaftlerin Jöst. Sie erklärt, dass sich nach prominenten Vorbildern wie Trump und Jair Bolsonaro in Brasilien das Verbreiten unbelegter Vorwürfe von Wahlmanipulation als Taktik etabliert habe. Auch in Deutschland seien solche Behauptungen in den letzten Jahren sichtbarer geworden.

Falschbehauptungen über Wahlbetrug können großen Schaden anrichten

Beobachtungen der „Ein Prozent“-Kampagnen durch das ISD zeigten, dass die verbreiteten Narrative vor allem unter deren Anhängern zirkulieren. Aber rund um Wahltage zeigten sich Ausschläge, schildert Dorn: „Etwa in den 24 Stunden nach der Landtagswahl von Sachsen-Anhalt im Jahr 2021, als geschätzte 2,6 Millionen NutzerInnen auf Twitter (heute X) Beiträge mit dem Hashtag #Wahlbetrug angezeigt bekamen.“ Grundsätzlich könne bereits eine einzige virale Fehlinformation über Wahlprozesse großen Schaden anrichten, „insbesondere dann, wenn sie von reichweitenstarken und glaubwürdigen Leitmedien oder prominenten Personen geteilt wird.“ 

Politikwissenschaftlerin Jöst zufolge haben solche Behauptungen auch ein hohes Potenzial, bei der AfD-Wählerschaft zu verfangen. „Dabei scheint zunächst unerheblich zu sein, dass es keine Beweise gibt, entsprechende Vorwürfe im Nachhinein durch Wahlprüfungsausschüsse oder Gerichte widerlegt werden oder Narrative Lücken aufweisen.“ 

Digitalexperte Fuchs gibt zudem zu bedenken, dass Unregelmäßigkeiten, die es in den letzten Jahren gab – zum Beispiel im Rahmen der Teil-Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin – durchaus dazu führen könnten, dass derartige Gerüchte bei der Wählerschaft populistischer Parteien verfangen. Sie könnten auch eine Radikalisierung und Polarisierung befeuern. 

Die ständige Wiederholung dieser Erzählungen könne langfristig dazu führen, Misstrauen gegenüber der Demokratie zu verfestigen, urteilt das ISD. 

Ironie derweil bei den Landtagswahlen: Ausgerechnet zugunsten der rechtsextremen Freien Sachsen – die vehement in Sozialen Netzwerken zur Wahlbeobachtung aufriefen – gibt es jetzt Ermittlungen zu mutmaßlichen Betrugsversuchen. Rund 130 Wahlzettel sollen manipuliert worden sein. Auf Telegram distanziert sich die Partei davon und mutmaßt über eine Sabotage-Aktion.

Redigatur: Alice Echtermann, Paulina Thom