Warum der WHO-Pandemievertrag die nationale Souveränität nicht einschränkt
Zwei AfD-Politikerinnen warnen vor dem Pandemievertrag der WHO, da er den Ländern angeblich die Souveränität nehme, zum Beispiel, um selbst über Maßnahmen bei Pandemien zu entscheiden. Das ist falsch – der Vertrag schließt aus, dass die WHO über nationales Recht verfügt. Über Maßnahmen im Fall einer Pandemie wie eine Impfpflicht oder Lockdowns bestimmen die Länder weiterhin selbst.

Am 20. Mai 2025 haben sich die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach mehr als drei Jahren darauf geeinigt, dass es einen Pandemievertrag geben soll. Die Länder wollen so künftig gemeinsam Pandemien besser vorbeugen und bekämpfen. In Sozialen Netzwerken wird bereits seit Beginn der Verhandlungen Stimmung gegen das Abkommen gemacht, da es angeblich über nationalen Gesetzen stehen würde – auch aktuell verbreiten sich solche Behauptungen in Sozialen Netzwerken.
Es sind vor allem AfD-Profile, die von einem „Angriff auf unsere Freiheit“ sprechen: So behauptete etwa die AfD-Europaabgeordnete Anja Arndt auf Instagram, dass die WHO nun mit „diktatorischen Vollmachten“ ausgestattet sei. Sie könne „Zwangsmaßnahmen“ wie Impfpflichten und Lockdowns über nationale Parlamente hinweg beschließen. Die Bundestagsabgeordnete der AfD, Christina Baum, schrieb auf X, der Vertrag mache die „nationalstaatliche Souveränität bedeutungslos“.

WHO kann seit Jahren gesundheitliche Notlagen ausrufen
Auf Nachfrage bei Anja Arndt, wie sie zu diesen Schlüssen kommt, erhielten wir keine Antwort. Christina Baum schrieb uns: „Der Generalsekretär der WHO hat durch diesen Vertrag die alleinige Macht, jederzeit eine Notlage / Pandemie auszurufen, ohne demokratische Kontrolle“. Dieser Alleinvertretungsanspruch hebele alle Souveränitätsversicherungen im Pandemievertrag aus. Doch das ist irreführend.
Von einer Pandemie spricht man, wenn sich eine Krankheit über Ländergrenzen hinweg oder gar global ausbreitet. Der Generaldirektor der WHO kann in so einem Fall eine „gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite“ ausrufen, nachdem er die Ansichten eines Notfallausschusses angehört hat. Grundlage dafür ist jedoch nicht der Pandemievertrag, sondern die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005, die seit Jahren vollständig im deutschen Recht verankert sind.
Mit den Internationalen Gesundheitsvorschriften haben sich die Mitgliedsstaaten der WHO unter anderem verpflichtet, Fälle von bestimmten Infektionskrankheiten an die Organisation zu melden. Die WHO überwacht dadurch das globale Infektionsgeschehen und kann auf dieser Grundlage eine gesundheitliche Notlage ausrufen. Die Befugnisse dazu bestehen also bereits seit Jahren und wurden beispielsweise während der Covid-19-Pandemie angewandt.
WHO-Generaldirektor kann Maßnahmen empfehlen – Länder entscheiden aber selbst, ob sie sie umsetzen
Was bedeutet eine gesundheitliche Notlage in der Praxis? Laut WHO dient eine solche Lage in erster Linie als internationale Warnung vor einem Gesundheitsrisiko. Wurde eine Notlage ausgerufen, ist der WHO-Generaldirektor befugt, „zeitlich begrenzte Empfehlungen“ für bestimmte Maßnahmen auszusprechen.
AfD-Politikerin Baum bezeichnete diese Empfehlungen in ihrer Antwort an uns als „diktatorisch“ und behauptete, Staaten könnten sich dagegen „praktisch nicht mehr wehren“. Im Abkommen zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften werden die Empfehlungen jedoch explizit als „unverbindlich“ definiert. Das Bundesministerium für Gesundheit schrieb 2024 auf seiner Webseite zu einer Änderung der IGV, dass die Empfehlungen des Generaldirektors weiterhin nicht verpflichtend seien.
Markus Kaltenborn, Rechtswissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum, schreibt uns auf Anfrage ebenfalls, dass sich aus den Empfehlungen im Rahmen einer Gesundheitsnotlage „keine über einen Appell hinausgehende Wirkung für die adressierten Regierungen herleiten“ ließen.
Was ändert sich durch den Pandemievertrag der WHO?
Mit dem Pandemievertrag verpflichten sich die WHO-Mitgliedsstaaten zusätzlich zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften zu mehreren Maßnahmen, um möglichen Pandemien vorzubeugen, und die Reaktion auf einen Ausbruch besser zu koordinieren. Dadurch soll es beispielsweise bei der Verteilung von Schutzausrüstung und Medikamenten in Zukunft gerechter zugehen. Während der Covid-19-Pandemie waren vor allem ärmere Länder von der Knappheit dieser Ressourcen betroffen. Medizinisches Personal soll in zukünftigen pandemischen Lagen außerdem bevorzugten Zugang dazu erhalten.
Zudem müssen Mitgliedstaaten potenzielle Erreger bei Menschen und Tieren genau beobachten sowie Proben und DNA-Sequenzen von Erregern für die Medikamentenentwicklung frei zur Verfügung stellen. Im Gegenzug dazu sollen Impfstoffhersteller verpflichtet werden, einen Teil ihrer Produktion kostenlos an ärmere Länder zu spenden, und einen weiteren Teil zu vergünstigten Preisen abzugeben.
Dieser Teil des Vertrags ist noch nicht fertig (Stand: 3. Juni 2025): Als Nächstes müssen sich die Länder einigen, wie die Verteilung von Impfstoffen geregelt werden soll. Laut WHO wird das mindestens bis 2026 dauern. Erst danach kann der Vertrag von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Er tritt in Kraft, wenn 60 der 194 Mitgliedsstaaten diesen Schritt abgeschlossen haben.
WHO darf keine Impfpflicht oder Lockdowns verhängen
Pedro A. Villarreal forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zu internationalem Gesundheitsrecht und der WHO. Er schreibt uns auf Anfrage, dass die Empfehlungen im Rahmen einer gesundheitlichen Notlage durch den Pandemievertrag „für die Mitgliedstaaten weiterhin nicht rechtlich bindend“ sein werden.
Der Vertrag enthält mit Artikel 22 Absatz 2 darüber hinaus eine Passage, die explizit ausschließt, dass die WHO die von Arndt befürchteten Maßnahmen anordnen kann. Dort heißt es zusammengefasst:
Keine Bestimmung des Pandemievertrags gewährt der WHO oder ihrem Generaldirektor die Befugnis, nationales Recht zu verfügen, zu ändern oder anderweitig vorzugeben. […] Ebensowenig darf die WHO spezielle Maßnahmen wie Reisebeschränkungen, Impfpflichten, therapeutischen oder diagnostischen Verfahren oder Lockdowns anordnen.
Auch an anderen Stellen des Vertrags wird explizit betont, dass die vereinbarten Maßnahmen immer unter Berücksichtigung von nationalem Recht und regionalen Umständen umgesetzt werden sollen. Villarreal schreibt uns dazu, dass „alle Entscheidungen im Zusammenhang mit der Verabschiedung von Gesundheitsmaßnahmen bei künftigen Pandemien weiterhin von den nationalen Gesundheitsbehörden getroffen werden.“
Das Bundesministerium für Gesundheit teilt diese Auffassung. In einer Pressemitteilung heißt es: „Mit dem Pandemieabkommen werden keine Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten angetastet. Dort ist festgehalten, dass Entscheidungen über konkrete Reaktionen auf Gesundheitskrisen nach wie vor von den einzelnen Ländern getroffen werden.“
Darüber hinaus sieht der Pandemievertrag keine Sanktionen für Staaten vor, die den Zusagen des Vertrages nicht nachkommen. „Der Vertrag setzt vielmehr ausschließlich auf die Mechanismen der Freiwilligkeit und internationalen Zusammenarbeit“, so Kaltenborn.
Redigatur: Paulina Thom, Sarah Thust
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Vorläufige Version des Pandemievertrags, WHO, 14. Mai 2025: Link (Englisch, archiviert)
- Internationale Gesundheitsverordnung, dritte Edition, WHO, 2005: Link (Englisch, archiviert)