Faktencheck

Nein, geplantes WHO-Instrument zur Pandemie-Prävention steht nicht über nationalen Verfassungen

In Blog-Artikeln wird behauptet, ein Abkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Prävention von Pandemien würde die nationalen Verfassungen aushebeln. Das ist falsch.

von Marc Steinau

Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus
Der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus (Symbolbild: Picture Alliance / Keystone / Salvatore di Nolfi)
Behauptung
Die WHO wolle ein Abkommen oder einen Vertrag zur Pandemie-Prävention beschließen, der über den nationalen Verfassungen stehe.
Bewertung
Falsch. Abkommen und Verträge der WHO stehen nicht über nationalen Verfassungen.

„Wird über nationalen Verfassungen stehen: WHO etabliert globales Abkommen zur ‚Pandemievorsorge‘“, titelte Unser Mitteleuropa am 10. Februar 2022. Im Artikel heißt es, die Weltgesundheitsorganisation könne mit einem „bedrohlichen Abkommen“ zur Pandemie-Prävention Mitgliedstaaten zukünftig Prozesse und Aufgaben „diktieren“. Journalistenwatch und Corona-Transition veröffentlichten ähnliche Artikel. Die Texte wurden insgesamt laut dem Analysetool Crowdtangle mehr als 4.500 Mal auf Facebook geteilt.

Die Behauptung ist falsch. Die nationalen Verfassungen – in Deutschland das Grundgesetz – haben Vorrang vor Entscheidungen der WHO.

Die WHO will ein Instrument zur Pandemie-Prävention entwickeln

Konkret heißt es bei Unser Mitteleuropa und Journalistenwatch, im Dezember 2021 sei ein Vertrag präsentiert worden, dem zufolge die Verfassung der WHO gemäß Artikel 9 bei Naturkatastrophen oder Pandemien „Vorrang vor der Verfassung der einzelnen Länder“ habe. Corona-Transition schreibt, es werde ein internationales Abkommen zur Prävention und Bekämpfung von Pandemien verabschiedet, das über den nationalen Verfassungen stehe und „diese somit aushebeln“ könne, die Staaten würden dadurch „die nationale Kontrolle über die Maßnahmen“ verlieren.

Als Beleg für die Behauptungen soll eine Mitteilung der WHO vom 1. Dezember 2021 dienen. In einer Sondersitzung hatte die Weltgesundheitsversammlung den Beschluss verabschiedet, ein zwischenstaatliches Verhandlungsgremium einzurichten, um ein internationales Instrument zur Pandemieprävention, -vorsorge und -reaktion auszuarbeiten und auszuhandeln. Es ist zudem offen, ob es sich am Ende um eine Konvention, ein Abkommen oder ein anderes Instrument handeln wird. Erster Sitzungstag war der 24. Februar 2022. Ein endgültiges Ergebnis soll es dann 2024 geben.

Weiter heißt es in der Mitteilung von Dezember: „Nach Artikel 19 der WHO-Verfassung ist die Weltgesundheitsversammlung befugt, Konventionen oder Abkommen zu allen in die Zuständigkeit der WHO fallenden Fragen zu verabschieden.“ Das einzige Instrument, das bisher gemäß Artikel 19 geschaffen wurde, ist das WHO-Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakkonsums.

Daraus lässt sich aber nicht, wie in den Blogartikeln behauptet, ableiten, dass dieses Instrument dann über den nationalen Verfassungen der Länder steht. Die WHO ist eine Organisation der Vereinten Nationen (UN) und die Weltgesundheitsversammlung, bestehend aus 194 Mitgliedstaaten, ist ihr höchstes Entscheidungsorgan und kann völkerrechtlich rechtsverbindliche Beschlüsse treffen. Aber die WHO verfügt über kein Instrument, mit dem sie Abkommen über dem Verfassungsrang der Mitgliedstaaten beschließen könnte. Weder in Artikel 9 der WHO-Verfassung, wie von Unser Mitteleuropa und Journalistenwatch behauptet, noch in einem anderen Artikel ist das festgelegt. Stattdessen kann die WHO nach ihrer Verfassung etwa nicht-verbindliche Empfehlungen aussprechen, auf die Verfassung der WHO gestützte Regelungen sowie nach Mehrheitsbeschluss durch die Mitgliedstaaten zwingende Vorschriften erlassen.

WHO-Beschlüsse können in nationales Recht überführt werden – stehen aber unterhalb der Verfassung

Wenn am Ende des Prozesses ein Instrument festgelegt ist, soll es nach der Ratifizierung in nationales Gesetz übertragen werden, erklärt uns  Martin Will, Professor für Staats- und Völkerrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden auf Nachfrage per E-Mail. Aber jeder Mitgliedstaat der Versammlung hat nach Artikel 22 der WHO-Verfassung die Möglichkeit des Opt-out, die Beschlüsse also nicht anzuwenden, wie Martin Will erklärt. Das bedeutet, dass Verordnungen für alle Mitgliedsländer in Kraft treten, außer sie teilen dem Generaldirektor innerhalb einer Frist ihre Ablehnung oder Vorbehalte mit.

Zudem gilt: Selbst völkerrechtliche Verträge, also Verträge auf der höchsten rechtlichen Ebene, die die WHO beschließen kann, „stehen nach ihrer Ratifizierung in der Bundesrepublik Deutschland im Rang einfacher formeller Bundesgesetze – also eindeutig unterhalb der Verfassung“, erklärt der Staatsrechtler.

Redigatur: Steffen Kutzner, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Mitteilung der WHO, 1. Dezember 2021: Link
  • Verfassung der WHO: Link