Zurückweisungen an der Grenze: Was sagen Fachleute zu Dobrindts Aussagen?
Innenminister Alexander Dobrindt ordnete im Mai an, dass Asylsuchende an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden sollen. Das Berliner Verwaltungsgericht urteilte nun in drei Fällen, dass das nicht rechtmäßig ist. Dobrindt will dennoch an der Maßnahme festhalten. Seine Aussagen zu dem Beschluss sind jedoch fragwürdig.

Am 2. Juni erklärte das Berliner Verwaltungsgericht in mehreren Eilverfahren die Zurückweisungen von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern an der deutschen Grenze für rechtswidrig. Im Anschluss erklärte Innenminister Alexander Dobrindt, man werde trotz des Gerichtsurteils an der Praxis festhalten.
Der Minister sagte, das Gericht habe lediglich einen Einzelfallbeschluss gefasst und man strebe nun ein „Hauptsacheverfahren“ an. Man müsse, so interpretierte Dobrindt den Beschluss des Gerichts, die eigenen Maßnahmen lediglich besser begründen. „Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage gegeben ist und werden deswegen weiter so verfahren, ganz unabhängig von dieser Einzelfallentscheidung“, schloss er.
CORRECTIV.Faktencheck hat mit Fachleuten über die Behauptung Dobrindts gesprochen. Fazit: Es ist unklar, ob es zu einer erneuten Verhandlung über die Zurückweisungen kommen wird. Das Gericht sah, ebenso wie die kontaktierten Fachleute, die Zurückweisungen als rechtswidrig an – auch über die Einzelfälle hinaus.
Worum geht es in dem Beschluss?
Am 7. Mai, wenige Stunden nach seinem Amtsantritt, kündigte Innenminister Alexander Dobrindt an, dass man Asylsuchende an der deutschen Grenze zurückweisen werde. Dafür habe er eine anderslautende mündliche Anweisung aus dem Jahr 2015 rückgängig gemacht. Zuständig für die Zurückweisung ist die Bundespolizei, die mehr Beamtinnen und Beamte an die Grenze schickte.
Wie genau diese Kontrollen begründet werden sollen, war bereits im Mai unklar. Die Praxis wurde vielfach kritisiert und ihre Rechtmäßigkeit in Frage gestellt. Denn Deutschland ist nach der Dublin-III-Verordnung der EU dazu verpflichtet, zu prüfen, ob Asylbewerberinnen und Asylbewerber ein Asylverfahren in Deutschland oder in einem anderen EU-Land durchlaufen müssen.
Darauf wies nun auch das Verwaltungsgericht Berlin in der Pressemitteilung zu den drei Eilverfahren hin. Dort heißt es: „Personen, die bei Grenzkontrollen auf deutschem Staatsgebiet ein Asylgesuch äußern, dürfen nicht ohne Durchführung des Dublin-Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates für die Prüfung des Asylantrags zurückgewiesen werden.“
Dieses Verfahren kann ausgesetzt werden, wenn Deutschland eine „Notlage“ ausrufen würde. Doch auch diese Möglichkeit hat das Gericht nun zurückgewiesen. So heißt es in der Pressemitteilung: „Insbesondere könne sie (die Antragsgegnerin, also die Bundesrepublik vertreten durch die Bundespolizei, Anm.) die Zurückweisungen nicht auf die Ausnahmeregelung des Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) stützen. Es fehle dafür bereits an der hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung durch die Antragsgegnerin.“ Der Artikel erlaubt es Mitgliedstaaten „für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ von EU-Verordnungen wie Dublin III abzuweichen.
Expertin: Gericht hat starke Zweifel an Begründbarkeit der Zurückweisungen
Was ist also von der Aussage von Innenminister Dobrindt zu halten, dass das Gericht gesagt habe, „dass die Begründung für unsere Maßnahmen dezidierter hätte sein sollen“ und man an den Zurückweisungen festhalten werde, weil man die „Rechtslage als gegeben“ sehe?
Dazu sagte Dana Schmalz, Referentin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck, im Beschluss weise das Gericht an mehreren Stellen hin, dass eine bessere Begründung der Zurückweisungen nur schwer vorstellbar sei. Das könne man an mehreren Dingen erkennen, zum einen, so Schmalz, habe das Gericht die inhaltliche Begründung eines Hauptsacheverfahrens vorweggenommen. Zum anderen habe es mehrfach die Worte „weder vorgetragen“ und „noch ersichtlich“ genutzt. Die Beratungsstelle Pro Asyl, die eine Klägerin unterstützte, veröffentlichte den Beschluss des Verwaltungsgerichts.
Auch Constantin Hruschka von der Evangelischen Hochschule Freiburg betonte im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck, dass das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Beschluss klar gemacht habe, dass die aktuelle Zurückweisungspraxis an den Grenzen ein Verstoß gegen europäisches Recht sei. Eine Begründung für die Nichtanwendung der europäischen Vorgaben habe die Regierung aus Sicht des Gerichts bisher nicht geliefert.
Ein Beispiel: Im Verfahren sollte die Notlage, die ein Dublinverfahren überflüssig macht, damit begründet werden, dass es eine hohe Zahl an Asylanträgen gebe. Dem hält das Gericht jedoch entgegen: „Es bleibt offen, was aus diesen Zahlen genau für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik folgt […] Es ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sich aus diesen Zahlen einerseits eine Situation ergibt, die für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre und auf Grund derer die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme und Einrichtungen akut gefährdet wäre, und wie sich andererseits gerade Zurückweisungen an der Grenze auf diese Situation auswirken würden.“
Ähnlich äußerte sich das Gericht mit Blick auf den Fall „eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen“. In solchen Fällen gebe es bereits Mittel, um eine Entlastung für einzelne Staaten zu schaffen. Doch auch in diesem Fall sei „weder vorgetragen worden noch ersichtlich“, dass diese „Mechanismen vergeblich ausgeschöpft wurden“.
Gericht urteilte wie im Hauptsacheverfahren
Innenminister Dobrindt will nach eigener Aussage nun in einem Hauptsacheverfahren „dezidierte Begründungen“ nachliefern. Ob ein solches Verfahren überhaupt zustande kommen wird, ist aus folgendem Grund noch unklar: In den drei Eilverfahren, die das Verwaltungsgericht Berlin verhandelte, habe es nur eine Klage gegeben, bei der auch ein Hauptsacheverfahren herbeigeführt werden sollte. Das teilte eine Sprecherin des Gerichts CORRECTIV.Faktencheck telefonisch mit.
Allerdings, so die Sprecherin, müsse nun erst einmal entschieden werden, ob in einem Hauptsacheverfahren erneut über die Zurückweisungen an der Grenze verhandelt werde.
Per E-Mail wies eine Gerichtssprecherin auch darauf hin, dass die Kammer die rechtliche Frage der Zurückweisung bei Grenzkontrollen ausführlich geprüft und ihre Rechtsauffassung dargelegt habe: „Diese Rechtsauffassung dürfte auf vergleichbare Fälle übertragbar sein.“ Und: „Gerade in einer Situation wie der vorliegenden erscheint es zum Beispiel sehr gut denkbar, dass die Klägerin ihr Klageziel bereits mit dem Eilverfahren erreicht hat und die Hauptsache für erledigt erklärt.“
Darauf wies uns auch Völkerrechtlerin Schmalz hin. Das Gericht habe in seiner Begründung klargestellt, dass im Hauptsacheverfahren mit ganz hoher Wahrscheinlichkeit nicht anders geurteilt würde. Konkret schreibt das Gericht dazu in seinem Beschluss: Die Bundesrepublik habe ihre Ansprüche auch „nach den strengen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache glaubhaft gemacht.“ Ein solches Vorgehen käme aber nur dann in Betracht, so das Gericht, „wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Antragsteller schwere und unzumutbare, durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht wiedergutzumachende Nachteile in dem Fall drohen, dass die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird“.
Ob diese Frage erneut verhandelt werde, müsse das Gericht nun entscheiden, so eine Gerichtssprecherin. Die Klägerin, also eine der drei Personen aus Somalia, könne allerdings auch darauf dringen, dass über die Frage erneut verhandelt werde. Dass das geschieht, ist jedoch unwahrscheinlich.
Dobrindt äußert sich auf Nachfrage von CORRECTIV.Faktencheck nicht inhaltlich
Ein Sprecher des Innenministeriums beantwortete Fragen dazu, wieso die Regierung eine Gesetzesgrundlage für das eigene Vorgehen weiter als gegeben betrachtet und welche Punkte in einem etwaigen Hauptsacheverfahren dezidierter begründet werden sollen, auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck nicht.
Am 3. Juni sagte Dobrindt auf einer Pressekonferenz, ein Hauptsacheverfahren sei „anhängig“. Das ist zwar richtig, daraus folgt aber, wie beschrieben, jedoch nicht, dass erneut über die Zurückweisungen entschieden wird.
Redigatur: Max Bernhard, Gabriele Scherndl