Migration

Keine Belege, dass oder worauf dieser Mann im Wasser steht – der Vorfall ereignete sich im offenen Meer

Seit Jahren kursiert ein Bild im Netz, auf dem es so wirkt, als stehe ein Mann aus einer in Seenot geratenen Menschengruppe aufrecht im Wasser. Kürzlich tauchte es wieder in einer deutschen Facebook-Gruppe auf. Eine wahrscheinliche Erklärung ist eine optische Täuschung.

von Till Eckert

Bild flüchtling im Wasser
Steht dieser Mann im Wasser? Das Foto wird seit Jahren als angeblicher Beleg verwendet, dass die Szene gestellt war. (Screenshot / Bearbeitung: CORRECTIV)
Bewertung
Teilweise falsch
Über diese Bewertung
Teilweise falsch. Der Vorfall ereignete sich im offenen Meer, nicht in „knietiefem“ Wasser. Es kann nicht geklärt werden, warum es so wirkt, als stünde der Mann – möglich ist eine optische Täuschung.

Manche Gerüchte im Netz halten sich jahrelang erfolgreich. Eines davon handelt von einem schiffbrüchigen Mann, der im Wasser zu stehen scheint, wie auf einem Foto zu sehen ist. Ist es ein Beweis dafür, dass die Menschen sich gar nicht wirklich in Seenot sondern in unmittelbarer Ufernähe befanden? 

Das Bild in einem aktuellen Facebook-Post vom 8. August 2019. (Screenshot: CORRECTIV)

Das zumindest suggerieren viele Beiträge in verschiedenen Sprachen im Netz. Mit der Bilder-Rückwärtssuche über Google, Yandex und Tineye finden sich schnell hunderte Versionen des Fotos. Im Umlauf ist das Bild mit dem roten Pfeil laut Tineye mindestens seit Januar 2016, damals tauchte es mit schwedischer Aufschrift auf. 

„Wie kann diese Person aufstehen?“, steht auf Schwedisch auf diesem Foto, das am 20. Januar 2016 laut der Suchmaschine Tineye im Netz auftauchte. (Screenshot aus der Bildersuche von Tineye: CORRECTIV)

Am 8. August 2019 wurde es in der deutschen Facebook-Gruppe „Freunde des MC Germanen Mannheim / 713“ erneut hochgeladen. Darüber steht: „Pleite Pech und Pannen beim Versuch der Bevölkerung Bilder von armen Flüchtlingen die fast ertrinken im knietiefen Wasser zu zeigen, oder läuft da Moses?“ Der Beitrag wurde bisher mehr als 17.400 Mal geteilt.

Doch ist das Wasser tatsächlich „knietief“ – und läuft beziehungsweise steht der Mann wirklich im Wasser? CORRECTIV hat den Ursprung des Fotos rekonstruiert.

Die Aufnahme stammt von der türkischen Küstenwache im Dezember 2015

Die Nachrichtenseiten Istanbul Haber und AlJazeera Turk berichteten 2015 übereinstimmend über einen Rettungseinsatz der türkischen Küstenwache der Provinz Muğla. Er habe sich am 16. Dezember 2015 zugetragen, laut Istanbul Haber seien 65 Menschen, darunter Kinder, schiffbrüchig gewesen und größtenteils gerettet worden. Laut AlJazeera Turk wurden etwa 60 Menschen gerettet. Beide Medien berichten, drei Babys und ein Kind seien gestorben und ein weiteres Kind sei nicht gefunden worden. 

Istanbul Haber veröffentlichte zwei Fotos des Vorfalls, die im Artikel zu sehen sind. Eines davon ist jenes, das im Netz kursiert. Auf dem zweiten Foto wirkt der Oberkörper des Mannes kürzer. Er scheint hier auf den ersten Blick nicht so weit aus dem Wasser zu ragen.

Links das Bild, von dem der rot markierte Ausschnitt im Netz zirkuliert. Rechts ein zweites Foto, das die türkische Küstenwache von diesem Einsatz veröffentlichte. (Screenshot: CORRECTIV)

Szene spielte sich auf offenem Meer ab

Auf dem aktuell wieder viral auf Facebook verbreiteten Foto sind dunkle Spiegelungen der Kinder rechts neben dem Mann im Wasser zu sehen. Aus einem anderen Winkel wirken diese Spiegelungen nicht so ausgeprägt – und der Oberkörper des Mannes wirkt weniger weit aus dem Wasser ragend. Zudem sind mehrere Wellblechplatten im Wasser zu sehen.

Oben das aktuell verbreitete Foto mit auffälligen dunklen Spiegelungen im Wasser, unten dieselbe Szene aus einem anderen Winkel und mit weniger Spiegelungen. (Screenshots und Bearbeitung: CORRECTIV)

Es existiert auch ein Video, das die Anfahrt der türkischen Küstenwache zu der Stelle zeigt. Der rund 26-sekündige Clip ist unter anderem bei AlJazeera Turk, bei der türkischen Zeitung Cumhuriyet und auf Youtube zu finden. Darin sagt eine Männerstimme im Hintergrund, es sei der 16. Dezember 2015 und man fahre jetzt zu einem gekenterten Schlauchboot. 

Der Clip zeigt vor allem zwei Dinge: Zum einen bewegt der fragliche Mann im Wasser sich darin mit den Wellenbewegungen auf und ab, weshalb es mal mehr, mal weniger so wirkt, als würde er stehen.

In dieser Videosekunde wirkt es nicht so, als würde der Mann im Wasser stehen. (Screenshot: CORRECTIV)

Zum anderen zeigt der Clip die Anfahrt zu den Schiffbrüchigen im offenen Meer, nirgends ist Land in Sicht – somit kann ausgeschlossen werden, dass sich die Szene in Ufernähe im flachen Wasser abspielte. Wenn der Mann also tatsächlich auf etwas stehen sollte, dann wahrscheinlich auf dem untergehenden Boot, einem Teil davon oder auf einer der Wellblechplatten. 

Die Pressemitteilung über den Rettungseinsatz der türkischen Küstenwache vom 16. Dezember 2015 stützt die Erkenntnis, dass der Einsatz sich im offenen Meer abspielte. Die Faktenchecker von Mimikama veröffentlichten am 6. Februar 2016 bereits einen Beitrag, in dem sie auf diese verweisen.  Das entsprechende Dokument ist über den ursprünglichen Link nicht mehr online auffindbar, lediglich die Google-Vorschau zum Dokument und ein Screenshot in einem Artikel des Faktencheck-Blogs Fake-Hunter von 2017 sind noch zu finden. Die türkische Küstenwache sagte uns auf telefonische Anfrage zu, die Meldung im Archiv zu suchen und uns zuzusenden; bis Redaktionsschluss ist sie allerdings nicht eingetroffen.

Die Google-Vorschau zur Pressemitteilung über den Einsatz der türkischen Küstenwache am 16. Dezember 2015, zu lesen ist dort: „Am 16. Dezember 2016 um 06.59 Uhr, 3,9 Meilen südöstlich von Muğla / Bodrum entfernt, wurde eine Gruppe von Flüchtlingen entdeckt“ (Screenshot: CORRECTIV)
Die Pressemitteilung der türkischen Küstenwache zum Vorfall. (Quelle: „Fake-Hunter“ / Screenshot: CORRECTIV)

Laut der Pressemitteilung der Küstenwache – und dem Artikel dazu in der Cumhuriyet – hat sich der Vorfall „3,9 Meilen“ südöstlich von der Insel Kara Ada ereignet. Gemeint sind wahrscheinlich Seemeilen; somit wäre der Fundort rund 7,2 Kilometer von der Insel Kara Ada entfernt. Dass das Wasser hier „knietief“ ist, wie im aktuellen Facebook-Beitrag behauptet, ist sehr unwahrscheinlich.

Der Vorfall hat sich laut der Pressemitteilung der türkischen Küstenwache „3,9 Meilen“, also rund 7,2 Kilometer südöstlich von der Insel Kara Ada ereignet, auf dem offenen Meer. (Eigene Darstellung mit Open Street Map: CORRECTIV)

Optische Täuschung ist eine mögliche Erklärung

Der Blog Fake-Hunter analysierte die Fotos und das Video für einen Beitrag vom November 2017. Der Autor kommt zum Schluss, dass es sich bei dem stehenden Mann um eine optische Täuschung handeln müsse. Er erklärt sich das anhand des Phänomens der spiegelnden und diffusen Lichtreflexion im Wasser. Der Oberkörper des Mannes könnte möglicherweise aufgrund einer Spiegelung länger aussehen.

Auch wenn nicht endgültig geklärt werden kann, warum es so aussieht, als würde der Mann im Wasser stehen, ist die Theorie der optischen Täuschung eine wahrscheinliche Erklärung. Eine andere Möglichkeit ist, dass der Mann auf etwas steht, das sich dicht unter der Wasseroberfläche befindet, zum Beispiel das gesunkene Boot. 

Mit Sicherheit gesagt werden kann jedoch: Der Vorfall ereignete sich auf dem offenen Meer, nicht in Ufernähe. Behauptungen, nach denen die Menschen sich nicht in Gefahr befunden hätten, sind also falsch. Bei dem Vorfall ertranken laut Medienberichten vier Kinder, die von der Küstenwache tot geborgen wurden.

CORRECTIV im Postfach
Lesen Sie von Macht und Missbrauch. Aber auch von Menschen und Momenten, die zeigen, dass wir es als Gesellschaft besser können. Täglich im CORRECTIV Spotlight.